Es schreibt: Václav Maidl
(22. 11. 2023)Wenn jemand den Namen Otfried Preußler nennt, horcht man auf, denn dieser Kinderbuchautor ist auch bei uns gut bekannt (die tschechische Wikipedia erwähnt neun Übersetzungen, die letzte aus dem Jahr 2021). Bekannt ist auch seine nordböhmische Herkunft (geboren wurde Preußler 1923 in Liberec/Reichenberg), ebenso wie seine Zusammenarbeit mit dem tschechischen Regisseur Karel Zeman bei der Verfilmung seines Romans Krabat unter dem Titel Čarodějův učeň [Zauberlehrling] (1977). Es scheint daher fast Pflicht, die umfangreiche Biografie von Carsten Gansel Kind einer schwierigen Zeit: Otfried Preußlers frühe Jahre zu lesen, die quasi im Vorfeld (2022) zum 100. Geburtstag von Preußler erschienen ist.
Einleitend erklärt der deutsche Germanist, worin er die Bedeutung von Preußlers Biographie erblickt: Die Erlebnisse aus der Zeit der Kindheit, Jugend, des Krieges sowie der Kriegsgefangenschaft stellen in seinen Augen den Interpretationsschlüssel zum Werk des Schriftstellers dar.
Gansel geht gründlich auf das Thema ein: Er untersucht nicht nur Preußlers familiären Hintergrund (den Eltern, insbesondere Josef Preußler, der bis 1941 eigentlich Syrowatka hieß, widmet er 50 Seiten, wobei noch weitere zahlreiche Passagen folgen, die das Schicksal der Eltern nach 1945 darstellen), sondern er nutzt auch die Funde aus deutschen und russischen (sowjetischen) Archiven, die Preußlers Einberufung zur Wehrmacht, Grundausbildung und Offiziersausbildung, Berufung an die Ostfront, Gefangenschaft und die mehrjährige Inhaftierung in sowjetischen Gefangenenlagern dokumentieren. Genauso penibel verfolgt er dann Preußlers Schaffen und die Umstände der Entstehung dessen Texte: Seit den ganz frühen Texten (er erwähnt sogar den zweiseitigen Beitrag Lieber Soldat! In der Zeitschrift Kameraden. Sudetendeutsche Briefe an Wehr- und Werkmänner von 1940) bis zur Entstehung und Veröffentlichung des Romans Krabat (1971). Zu dieser Zeit war Preußler zwar schon fast 50 Jahre alt, wenn man allerdings auf die eventuelle Frage antworten sollte, was seine „frühen Jahre“ sind, soll angemerkt werden, dass Preußler seit Ende der 1950er Jahre an diesem Roman gearbeitet hat. Carsten Gansel stand noch eine weitere wichtige Quelle zur Verfügung, nämlich Preußlers Privatarchiv, in dem er u. a. die unvollendete Autobiographie Verlorene Jahre? aus den 1990er Jahren fand, aus der er ebenfalls ausgiebig schöpft. Autobiographische Passagen über die russische Gefangenschaft können so mit Dokumenten aus sowjetischen (russischen) Archiven konfrontiert werden.
Es ist also offensichtlich, dass der Abfassung des Buches eine sorgfältige Vorbereitung vorausging, dennoch bin ich mit dem Ergebnis nicht ganz zufrieden. Ich schätze die Menge an Informationen, die wir über den Autor und seine literarischen Anfänge erfahren, ebenso die breite Perspektive des Autors, die es ihm ermöglicht, sich in verschiedenen Kontexten zu bewegen und sie zur plastischen Darstellung von Preußlers Leben zu nutzen. Ich glaube jedoch, dass im Hinblick auf die Erwartungen des Lesers, die durch den Buchtitel geweckt werden, weniger vielleicht mehr gewesen wäre. Insbesondere die Details, manchmal aber auch ganze Passagen, die nur sehr frei mit dem Thema des Buches zusammenhängen, sind für den Leser eher irreführend oder lenken von dem Grund ab, warum er die Biografie in die Hand nahm. Gansels Text hätte definitiv von einer konziseren Struktur profitiert. Einige Beispiele hierfür: Bei der Lektüre über Preußlers Leben halte ich es für eine redundante Information, dass der Autor des Buches jahrelang Schriftstellerinnen und Schriftsteller interviewt hat (S. 15). Die Passagen über den Vater des Schriftstellers und sein Schaffen in der Zwischenkriegszeit werden unvermittelt durch eine Überlegung über die Veränderungen der deutschen Kinderliteratur Anfang der 1970er unterbrochen, wobei ausgeführt wird, Otfried Preußler hätte zu dieser Zeit ein anderes, eigenes Konzept gehabt (S. 41f.), woraufhin die Darstellung dann aber wieder zur Tätigkeit des Vaters zurückkehrt. Ist es wirklich notwendig, alle Teilnehmer der Beerdigung von Preußlers Großmutter im Jahr 1944 namentlich zu kennen? Ist die detaillierte Beschreibung, wie man in Moskau von der U-Bahn-Station zum Russischen Staatlichen Militärarchiv gelangt, wirklich angebracht (beides S. 152)? Usw. usf. Ich glaube, dass der Leser, der eine Darstellung des Lebens einer bestimmten Person erwartet, bereit wäre, auf eine derart detaillierte Einführung in die allgemeinen Prinzipien des Erinnerns und des Gedächtnisses zu verzichten (S. 195f.). Und ist es wirklich notwendig, bei der Erwähnung der Mitgliedschaft des jungen Preußlers in der NSDAP auf so vielen Seiten kontextualisieren zu müssen (S. 157–163) und Beispiele anderer Autoren anzuführen (Otto Rühle, Heinrich Gerlach oder Erich Loest), um dann auf Seite 164 zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass die NSDAP-Mitgliedschaft zwar in den russischen Dokumenten von Preußler angeführt ist, dass es jedoch trotzdem offen bleibe (da seine Legitimationsnummer nicht bekannt ist), ob Preußler formal Mitglied der NSDAP war?
Das letztgenannte Beispiel hat jedoch nicht mehr nur damit zu tun, dass man Texte kürzen, stringent gestalten und sich auf das Hauptthema konzentrieren sollte. Die erwähnte Kontextualisierung kann uns – den später Geborenen und Belehrten – anhand von diesen konkreten Beispielen die damalige Zeit, ihre Atmosphäre und die Entscheidungen der Akteure zwar erklären und zeigen, wie man das, was inzwischen Geschichte geworden ist, betrachten sollte (sogar solche Taten, die für uns heute inakzeptabel sind, aber aus der damaligen Sicht verständlich erschienen), es fehlt hier jedoch ein kritischer Abstand, denn es hat den Anschein, als würden diese Beispiele implizit sagen „Das war doch etwas Normales“ (Gansel gibt an, die Gesamtzahl der NSDAP-Mitglieder betrug 14 Millionen), und somit die Tatsache nivellieren, dass die Führung dieser Partei vom Nürnberger Internationalen Militärgerichtshof als verbrecherische Organisation bezeichnet worden ist.
Ähnlich geht Gansel bei der Schilderung von Preußlers Beziehung zur Armee und zum Krieg vor. Er verschweigt nicht, dass der 21-jährige Leutnant „kriegsbegeistert“ war (S. 150), und bezieht sich erneut, um detaillierter zu kontextualisieren, auf das Zeugnis von Erich Loest, das im ähnlichen Ton getragen wird. Er ist nicht überrascht, dass sich die Schuldfrage bei Preußler auf den Konflikt zwischen der Erhaltung der „militärischen Ehre“, die durch Eid bestätigt wurde, und der verpflichtenden Treue gegenüber dem Hitlerstaat reduziert, an dem immer mehr Zweifel wachsen. Erneut dienen hier die Wahrnehmung und Erinnerungen von Johannes R. Becher, Walter von Molo und auch die Schrift Die Schuldfrage von Karl Jaspers als Kontext (S. 441). Gansel wundert sich überhaupt nicht über eine gewisse Selbstbezogenheit des Autors, die Konzentration auf die eigene Person und Probleme (die auch in Preußlers Kriegstexten zu finden sind – z. B. in der Erzählung Stille Nacht oder aber in der unveröffentlichten Autobiografie), er staunt nicht über den Mangel an Selbstreflexion, die sich in Fragen geäußert hätte wie etwa „Was habe ich in diesem fremden Land zu suchen?“ „Was habe ich und meine Einheit seinen Bewohnern angetan?“, die eben von einer – wenn auch verspäteten – Reflexion zeugen würden. Wenn Gansel sich mit Preußlers Trauma von Krieg und Gefangenschaft auseinandersetzt, vermisse ich bei Gansels Hang zur Kontextualisierung die Erwähnung der Tatsache, dass das Interesse an der traumatisierten ukrainischen und russischen Bevölkerung, die von demselben Krieg betroffen war, bei Preußler und seinen Protagonisten fehlt.
Seine Empathie und Nachsicht gegenüber Preußler zeigt sich am deutlichsten in der Bewertung des Prosadebüts von Preußler Erntelager Geyer (1944). Die gängige Einschätzung, das Buch sei „im Stil der HJ-Ideologie“ geschrieben, schwächt Gansel mit einem Hinweis auf den damaligen literarischen Betrieb – Produktion und Literaturkritik (S. 128). Es scheint mir argumentativ genauso fraglich, als ob wir die im Sozialismus entstandenen und herausgegebenen Werke heute noch aus der Sicht des sozialistischen Realismus, d. h. anhand von damaligen zeitgemäßen Kriterien, Rezensionen, bewerten würden. Darüber hinaus ist angesichts der skizzierten Handlung, ebenso wie des Zitats (das erwähnt, dass die Jungen einem „Aufruf von Adolf Hitler und des Arbeitsamtes“ gefolgt sind und sich „freiwillig zum Ernteeinsatz“ gemeldet haben, S. 136) offensichtlich, dass die kritisierte Bewertung ihre Berechtigung hat. Und wenn Gansel im weitesten Sinne die negative Wirkung des Namens „Hitlerjugend“ durch die Erinnerung an die seit Beginn des 20. Jahrhunderts entstandenen Jugendorganisationen argumentativ neutralisiert, so ignoriert er dabei die grundsätzliche Tatsache, dass seit 1936 in Deutschland nur noch eine solche Organisation mit dem bezeichnenden Namen „Hitlerjugend“ erlaubt war (seit 1939 übrigens mit Teilnahmepflicht). Ich denke, dass hier zu viel Anstrengung unternommen wurde, um den 18-jährigen Autor „reinzuwaschen“ (der oben erwähnte Text sollte 1941 entstanden sein), der noch mit der Naivität der Jugend entschuldigt werden könnte (während man die Anbetung Hitlers durch einen anderen aus Böhmen stammenden Autor, den mehr als sechzigjährigen Hans Watzlik, die in seinem Kinderbuch Roswitha oder Die Flucht aus Böhmen (1940) zu finden ist, bereits wesentlich kritischer bewerten muss).
Bei diesem kritischen Kommentar sei mir hier noch eine Anmerkung zum Lausitzer und eine zum tschechischen Kontext erlaubt. Wenn Gansel sich so gründlich mit der Entstehung des Romans Krabat beschäftigt, überrascht bei seiner Fähigkeit, verschiedene Kontexte zu verbinden, dass er die belletristische Bearbeitung dieses Stoffes durch den sorbischen Autor Juri Brězan völlig ignoriert – erwähnenswert wäre die Erzählung Čorny mlyn [Schwarze Mühle] (1968), eine detaillierte Analyse würde sicher der Roman Krabat oder die Verwandlung der Welt (1976) im Vergleich mit Preußlers Krabat verdienen (eventuell, angesichts der Extensivität von Gansel, auch im Vergleich mit dem Roman Krabat oder die Bewahrung der Welt, 1993).
Kritische Anmerkungen zum tschechischen Kontext betreffen faktische Fehler: Masaryk und Beneš verkündeten die Gründung des neuen tschechischen Staates bestimmt nicht „am 28. September (sic!) […] in Prag“, und Hitler verhandelte mit Hácha sicher nicht am 15. März 1938 (S. 78).
Um angesichts der Häufigkeit und des Umfangs meiner kritischen Bemerkungen nicht auch das Kind mit dem Bade auszuschütten: Gansels mehr als 500 Seiten lange Biographie verdient schon Anerkennung – neben der älteren Arbeit von Dino Larese Otfried Preußler. Anmerkungen zu Herkunft, Biographie und Werk (1975) und der neuesten Biographie Tilman Spreckelsens Otfried Preußler. Ein Leben in Geschichten (2023) wird sie zu den Eckpfeilern der biographischen Forschung über diesen bedeutenden Autor gehören, v. a. angesichts der aus umfangreichen Archivrecherchen gewonnen Informationen. Ich würde nur eine größere kritische Distanz bei der Beurteilung von Preußler empfehlen, wenn man sich mit seinem Leben beschäftigt.
Übersetzung: Lukáš Motyčka
Carsten Gansel: Kind einer schwierigen Zeit: Otfried Preußlers frühe Jahre. Berlin: Verlag Galiani, 2022, 560 S.