Es schreibt: Vlasta Reittererová

(20. 7. 2023)

„Begründer der Nationalmusik“, „Nationalkomponist“ und andere Bezeichnungen verliehen der Persönlichkeit und dem Werk von Bedřich Smetana (1824–1884) den höchsten Rang in der Geschichte der tschechischen Musik. Das Piedestal, auf das der Komponist nach seinem Tod symbolisch erhoben wurde, schien unerklimmbar, unüberwindbar. Smetana wurde so zu einem Meilenstein in der Geschichte der tschechischen Musik, seine Zeitgenossen und Anhänger wurden an ihm gemessen, sein Werk war Vorbild und Verpflichtung. Allerdings wurden im Namen des Respekts vor dem Erbe des Komponisten auch künstliche Gräben geschaffen, die sich nicht nur etwa auf die Rezeption von Antonín Dvořáks Werk, sondern letztlich auch auf Smetana selbst negativ auswirkten. Bereits kurz nach dem Tod des Komponisten gab es Forderungen nach einer Edition und einer Gesamtausgabe seiner Werke, nach einer Edition seiner Korrespondenz, nach einer umfassenden Monografie – doch alle großen Projekte blieben unvollendet. Dieses Problem betraf schließlich nicht nur Smetana, das Fehlen vollständiger Werkausgaben und die Veröffentlichung von Quellen zur Geschichte der tschechischen Musik wurde im Laufe der Jahre immer wieder kritisiert. Die Bemühungen, den Umgang mit Smetanas Persönlichkeit von Idealisierungen und tendenziösen Standpunkten zu befreien, stießen auf Bedenken hinsichtlich der Verletzung der obligatorischen Pietät. Auch die Methodologie, die das Prinzip der Wahrnehmung der Persönlichkeit aufgrund des Werkes (getrennt vom Privatleben und anderen Kontexten), verteidigte, spielte hierbei eine Rolle. Allerdings hatte die zeitliche Verzögerung auch einen positiven Effekt. Mittlerweile hat die Editionspraxis nämlich ein Niveau erreicht, bei dem die originalgetreue Wiedergabe von Quellen mit fachkundigem Kommentar als Grundaspekt gefordert wird. Dieser Ausgangspunkt wurde auch zum Vorbild für die verspätete Veröffentlichung der Quellen zu Smetana.

 

Dem großen Projekt einer kritischen Ausgabe von Smetanas Korrespondenz (sowohl gesendete als auch empfangene Briefe) gingen Vorarbeiten voraus, die als Fallstudien von Olga Mojžíšová und Milan Pospíšil veröffentlicht wurden: 2009 erschien die Übersicht S kým korespondoval Bedřich Smetana [Mit wem korrespondierte Bedřich Smetana] (auf Tschechisch, Englisch, Deutsch), im Jahre 2011 veröffentlichten dieselben Autoren eine Liste der von Bedřich Smetana empfangenen und gesendeten Briefe Bedřich Smetana a jeho korespondence [Bedřich Smetana und sein Briefwechsel] (auf Tschechisch und Englisch). Die kritische Ausgabe von Smetanas Korrespondenz ist bisher in zwei Bänden erschienen (Band I: Korespondence / Correspondence 1, 1840–1862 [Korrespondenz aus den Jahren 1840–1862], Prag 2016; Band II: Korespondence / Correspondence 2, 1863–1873 [Korrespondenz aus den Jahren 1863–1873], Prag 2020), die Herausgeber beider Bände sind das tschechische Nationalmuseum und die Gesellschaft für mitteleuropäische Kulturstudien in Prag (Nadace pro dějiny kultury ve střední Evropě / Association for Central European Cultural Studies). Der dritte Band (Korrespondenz bis 1879) sollte demnächst erscheinen, und der letzte Band, der Schriften aus Smetanas letzten Lebensjahren bringt, wird zum größten Teil der Öffentlichkeit unbekannte Dokumente enthalten und daher auch eine besonders große Herausforderung für die Herausgeber darstellen.

 

Die Ausgabe von Smetanas Briefwechsel ergänzt nun der erste Band der Tagebücher und Notizbücher des Komponisten Bedřich Smetana. Deníky / Diaries I. [Tagebücher I.]. Die Publikation erscheint im gleichen Format wie die Korrespondenzausgabe, jedoch in einer andersfarbigen äußeren Gestaltung, und bei ihrer Vorbereitung wurden die gleichen redaktionellen Regeln angewendet (erstellt nach denselben Gesichtspunkten), die Publikation ist in gedruckter Form sowie im PDF-Format erhältlich. Der Band deckt Smetanas Schul- bzw. Studienjahre 1840–1847 ab. In der Einleitung zur Edition fassen die Herausgeber Olga Mojžíšová und Tomáš Bernhardt die Probleme zusammen, die in der Vergangenheit einer umfassenden Erschließung der Schriftquellen zu Smetana im Wege standen. Sie geben dem Leser einen Überblick über die schrittweise Erschließung und Veröffentlichung verschiedener (allerdings oft missverstandener oder absichtlich verzerrter) Auszüge aus diesen Quellen in der monografischen Literatur. Erst seit den 1980er Jahren gelingt es, die Vorurteile abzubauen, die das durch die Tradition geschaffene Bild der Persönlichkeit des Komponisten schützen sollten. Obwohl es kein Geheimnis war, dass Smetana erst nach seiner Rückkehr aus Schweden begann, gezielt geschriebenes Tschechisch zu erlernen, vermieden die Verteidiger seines Erbes alles, was dem Nimbus eines Nationalkomponisten schaden könnte. Tagebücher und Korrespondenz wurden selektiv behandelt, auf Deutsch verfasste Dokumente wurden ins Tschechische übersetzt, Stilistik und Grammatik wurden in den tschechisch sprachigen Dokumenten revidiert, während einige schriftliche Dokumente, insbesondere aus den schicksalhaften Jahren der Geisteskrankheit des Komponisten, für die Öffentlichkeit unzugänglich bleiben sollten. Es besteht heute kein Zweifel daran, dass Briefwechsel und Tagebucheinträge – im Wissen um die Subjektivität dieser Aussagen (und gerade deshalb) – unverzichtbare Quellen für das Erschließen und Verstehen der Kontexte darstellen, in denen der Komponist lebte und schuf.

 

In den Jahren 1840–1843 besuchte Smetana das Gymnasium in Pilsen und sein ausschließlich auf Deutsch verfasstes Tagebuch stellt die einzige authentische Quelle dar, die diesen Zeitraum kontinuierlich dokumentiert. Die Ausgabe umfasst daher Tomáš Bernhardts demografisch ausgerichtete Studie über das Pilsen zur Zeit Smetanas, d. h. über die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung der Stadt sowie über die Kreise, in denen der Schüler Smetana und angehende Komponist und Pianist in der Stadt verkehrte oder verkehren konnte. Olga Mojžíšová widmete sich der Auswertung von Smetanas Schülertagebuch, von der äußeren Beschreibung der sieben Notizbücher bis zur detaillierten Analyse der Inhalte. Einen wesentlichen Beitrag stellt das sprachwissenschaftliche Kapitel von Lenka Vodrážková über das Deutsch in Smetanas Tagebuch dar, das „auch einen bemerkenswerten Einblick in die Sprachverhältnisse in den böhmischen Ländern in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts“ (S. 274) bietet. Detaillierte redaktionelle Eingriffe sind eine gemeinsame Arbeit beider Herausgeber. Alle sechs Anfangskapitel liegen in tschechischer, englischer und deutscher Version vor. Es folgen ein Abkürzungsverzeichnis (einschließlich Abkürzungen in zeitgenössischen Texten), die eigentliche kommentierte Ausgabe, ein Kommentar zu den Quellen, eine Bibliographie, ein Abbildungsverzeichnis, ein Personenverzeichnis mit wichtigsten biografischen Daten, deren Identifizierung in vielen Fällen auch eine eigenständige Forschungsarbeit erforderte, es fehlt das Verzeichnis der Werke Smetanas nicht, die sowohl in der Einleitung als auch in den Tagebüchern und Kommentaren erwähnt werden (beide Verzeichnisse sind auf Tschechisch und Englisch).

 

Der junge Smetana war ein geselliger, freundlicher Mensch, ein guter Tänzer und er machte sein musikalisches Talent bei verschiedenen Familienabenden als gern gesehener Pianist geltend. Er war jedoch kein guter Schüler und schloss das Gymnasium nach mehreren Unterbrechungen erst in Pilsen ab, wo er unter der Aufsicht seines älteren Cousins Josef František Smetana stand. Allerdings schreibt Smetana in seinem Tagebuch nur selten oder fast gar nicht über diese Schuljahre, verglichen etwa mit diversen Eindrücken von Ausflügen in die Umgebung und vor allem mit den (nur dem Tagebuch anvertrauten) Gefühlsausbrüchen in Bezug auf Mädchen, die Gegenstand seiner Bewunderung waren; die intimsten Einträge schrieb er in chiffrierter Sprache. Emotionalen Impulsen verdanken wir auch Smetanas Kompositionen aus dieser Zeit, die zum Teil nicht überliefert sind, aus den Aufzeichnungen geht aber der Anstoß zu ihrer Entstehung klar hervor. Von dem Tagebuch würde man wahrscheinlich erwarten, dass es Aufschluss über die Beziehung zwischen dem Studenten Smetana und seinem fast eine Generation älteren Cousin, Professor Josef František Smetana, einer prominenten Figur im Pilsener Leben der Zeit, geben würde, hierzu findet sich jedoch nichts. Auch dies ist jedoch eine Art Aussage für den Leser; wie Olga Mojžíšová anmerkt, geht aus dem Tagebuch nicht hervor, ob „Bedřich schon damals von seinen [J. F. Smetanas] fortschrittlichen Ansichten und patriotischer Gesinnung wirklich beeinflusst werden konnte.“ (S. 252) Für den Beginn ernsthafter Kompositionsarbeit bezeichnete Bedřich Smetana selbst das Impromptu es-Moll vom November 1841, er gestand sich aber sofort ein, er solle den Rat anderer befolgen und solche Kompositionen schreiben, die auch durchschnittlichen Pianisten zugänglicher wären. In einer der wenigen Erwähnungen seiner Gymnasialjahre finden wir den Satz, der oft in verschiedenen Varianten als Smetanas Lebensmotto zitiert wird, dass er nämlich eines Tages „in der Mechanik ein Lißt, in dem Componiren ein Mozart“ (S. 500) werden möchte. Im Zusammenhang mit dieser Notiz, in der Smetana das Scheitern bei einer Monatsprüfung erwähnt, auf die er sich nicht vorbereitet hatte, und im Kontext der verächtlichen Bemerkung seines Lehrers, dass es von Virtuosen nur wimmle, kann man doch in dem Tagebucheintrag das nicht ganz reine Gewissen, den Trotz und auch viel Selbstironie spüren. Der entscheidende Wendepunkt und Beginn der Reifung der Persönlichkeit erfolgte mit der Ankunft Smetanas in Prag, wo Josef Proksch zu seinem Lehrer wurde. Für die Aufnahme an der Schule von Proksch war die Mutter von Smetanas späterer Frau, Kateřina Kolářová, verantwortlich (S. 581). Zu dieser Zeit begann der ewig verliebte Autor von Tanzkompositionen sich trotz der Missbilligung seines Vaters systematisch der Musik zu widmen, um eine professionelle Karriere einschlagen zu können.

 

Der eigentliche Text des Tagebuchs umfasst die Seiten 285–600, die tschechische Übersetzung mit ausführlichen Kommentaren wurde neben dem deutschen Original abgedruckt. Die Ausgabe zeugt von sorgfältiger redaktioneller Arbeit, der Anmerkungsapparat ist außerordentlich gründlich und detailliert. Die zweisprachige bzw. dreisprachige Version der Ausgabe macht diese Quellen auch ausländischen Forschern und überhaupt allen, die sich für die Person und das Werk Smetanas interessieren, zugänglich. An den Übersetzungen beteiligten sich Mark Andrew Newkirk (Englisch), Magdalena Havlová und Lenka Vodrážková (Deutsch). Bemerkenswert ist der Bildanhang, der neben Familienporträts und Faksimiles früher Kompositionen auch zeitgenössische Darstellungen von Orten in Pilsen bietet, die mit Smetanas Aufenthalt in Verbindung stehen. Aufmerksamkeit verdienen auch beide Vorsatzblätter – auf dem oberen Vorsatz befindet sich eine historische Karte von Pilsen und seiner Umgebung, auf dem unteren hingegen ein zeitgenössischer Stadtplan mit beigefügter Legende. Man kann nur hoffen, dass die nächsten beiden Bände, die Smetanas Tagebücher aus der Zeit in Schweden (1856–1862) und aus den zwei Jahrzehnten nach Smetanas Rückkehr nach Böhmen (1862–1883) enthalten sollen, nicht lange auf sich warten lassen.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Olga Mojžíšová / Tomáš Bernhardt (eds.): Bedřich Smetana. Deníky – Diaries I (1840–1847). Národní muzeum Praha, 2022, 736 S.


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