Es schreibt: Václav Maidl

(17. 5. 2023)

Bis zur Veröffentlichung von Das Traumcafé einer Pragerin in tschechischer Übersetzung [tsch. als Kavárna nad Prahou (2001)] im Labyrint-Verlag war Lenka Reinerová als Autorin für den tschechischen Leser praktisch unbekannt, trotz ihrer drei früheren Bücher, die bereits auf Tschechisch erschienen waren (Hranice uzavřeny, 1956; Ze dvou deníků, 1958; Sklo a porcelán, 1991). Etwas bekannter war sie in der ehemaligen DDR, wo sie neben der Übersetzung ihres Erstlings Grenze geschlossen (1958, erschienen bei Neues Leben) ab 1983 im damals renommierten Aufbau Verlag begann, ihre Kurzgeschichten und Erinnerungen zu veröffentlichen. Auch nach 1989 blieb sie Stammautorin dieses Verlags. Einen Durchbruch bedeutete dann die Veröffentlichung von Das Traumcafé einer Pragerin (1996) für sie, als ihr einer der renommiertesten Literaturpreise Deutschlands, der sogenannte Schiller-Ring (1998), verliehen wurde, worauf zahlreiche weitere Auszeichnungen von tschechischer und deutscher Seite in einer raschen Folge folgten (Medaille für Verdienste, 2001; Ehrenbürgerin von Prag, 2002; Goethe-Medaille, 2003). Warum so viel Faktographie? Parallel zu dieser öffentlichen Anerkennung wächst nämlich das Interesse an Reinerovás Werk auch unter Germanisten, deren Artikel, Studien und schließlich Monographien seit 2002 rasant zunehmen, was auf einen Trend schließen lässt, was auch die französische Germanistin Hélène Leclerc in ihrer neuesten Publikation Lenka Reinerová und die Zeitschrift „Im Herzen Europas“ – diese Veröffentlichungen auflistend – anmerkt.

 

Die Monographie stellt den Höhepunkt einer fast fünfzehnjährigen Auseinandersetzung mit der Person und dem Werk von Lenka Reinerová dar, indem sie einen bisher vernachlässigten Aspekt thematisiert: Leclerc beschäftigt sich hier mit Reinerová als Journalistin und mit ihrer Wirkung in der Redaktion der deutschsprachigen Zeitschrift Im Herzen Europas, die in Prag von 1958–1971 veröffentlicht wurde. Leclerc nahm sich des Themas sehr gewissenhaft an: Sie las und analysierte einerseits alle Nummern der oben erwähnten Zeitschrift, andererseits auch der Zeitschrift Wir und Sie im Herzen Europas, die von denselben Herausgebern in den Jahren 1961–1970 speziell für österreichische Leser herausgegeben wurde, sie hatte jedoch auch die Gelegenheit, in den noch nicht erschlossenen Nachlass von Lenka Reinerová Einsicht zu nehmen, dessen tschechisch sprachiger Teil sich im Literaturarchiv des Museums für tschechische Literatur (Literární archiv Muzea české literatury, früher Památník písemnictví) und der deutschsprachige Teil wiederum in der Akademie der Künste in Berlin befindet. Die Autorin musste mit Bedauern feststellen, dass das eigentliche Archiv der Redaktion nicht erhalten ist, sie forschte allerdings im Archiv des tschechischen Orbis-Verlags, in dem die Zeitschriften erschienen sind. Da sich die tschechische geheime Staatspolizei (StB) für die Person von Lenka Reinerová interessierte, berücksichtigte Leclerc auch die im Archiv dieser Sicherheitskräfte aufbewahrten Akten. Bereits diese Auflistung zeigt die solide Quellenarbeit der Autorin, das Ergebnis dieser Recherchearbeit lässt sich in insgesamt zwölf Anhängen auf Seiten 327–381 einsehen (man findet hier z. B. die Liste sämtlicher Artikel von Lenka Reinerová von Januar 1958 bis Mai 1970, oder eine Übersicht deutschsprachiger inländischer sowie ausländischer Zeitschriften, für die Reinerová Texte lieferte – einschließlich konkreter Daten zur Veröffentlichung der jeweiligen Artikel; oder eine Aufstellung der Herstellungs- und Druckkosten).

 

Neben mehreren kleinen, aber wichtigen analytischen Beobachtungen schätze ich generell drei Dinge an der vorliegenden Publikation: a) den methodischen Charakter und die Klarheit der Darstellung; b) eine treffende Charakterisierung beider Periodika, einschließlich ihrer Botschaft und Arbeitsweise sowie ihrer allmählichen Transformation im Zusammenhang mit den Veränderungen in der tschechoslowakischen Gesellschaft im dargestellten Zeitraum – all dies durch detaillierte Analysen von Texten, Zeitschriftencovern und begleitenden Bildteilen, sowie durch die Kenntnis des historischen Kontextes unterstützt; c) die Analyse des Stils von Lenka Reinerová, dessen charakteristische Züge Leclerc auch im literarischen Werk sowie in den Erinnerungstexten der Autorin findet.

Nach einem ersten Überblick über den Forschungsstand und die Quellensituation, mit denen sie gearbeitet hat, stellt die Autorin vier Punkte auf, die sie in ihrer Arbeit beleuchten will. Erstens ist es die Geschichte der Zeitschrift Im Herzen Europas, zweitens die Rolle beider Zeitschriften in den tschechoslowakisch-deutschen und tschechoslowakisch-österreichischen Beziehungen, drittens geht es um die Person von Lenka Reinerová selbst und die Bestimmung der Bedeutung ihrer journalistischen Arbeit für die Zeitschriften und um den Einfluss dieser Arbeit auf ihr literarisches Schaffen, viertens handelt es sich um die Wirkung beider Zeitschriften und ihre Bedeutung während des Prager Frühlings 1968. Bevor sie jedoch zu den eigenen Analysen kommt, skizziert Leclerc den historischen, politischen und kulturellen Kontext der Tschechoslowakei in den Jahren 1958–1970. Erst dann widmet sie sich der Zeitschrift als Kulturstimme im Dienst der Kulturdiplomatie, sie tut dies auch hier wieder in mehreren Zusammenhängen – sie thematisiert die Rolle der Presse im sozialistischen Regime im Allgemeinen, ferner die Frage der Zensur, gibt einen Überblick über die erscheinende Presse in der Tschechoslowakei im Hinblick auf die Herausgabe der inländischen deutschsprachigen Presse. Nach Vorstellung der einzelnen Redaktionsmitglieder (übrigens: dank eingehender Archivrecherche lässt sich die tradierte lange Herausgeberschaft von Lenka Reinerová auf die Zeit von November 1968 [nach der Emigration des Chefredakteurs Gustav Solar] bis Mai 1970 [Lenka Reinerová wird gekündigt und erhält Publikationsverbot]) einschränken) folgen Passagen über Struktur, Programm und Inhalt der Zeitschrift sowie deren Charakteristik aus der Sicht von Leclerc, die hier zwei Grundelemente betont: Propaganda (die Zeitschrift dient als „Schaufenster“ des sozialistischen Regimes) und Vermittlung (die Zeitschrift fungierte als Instrument des interkulturellen Dialogs). Die Forscherin konzentriert sich speziell auf die Darstellung und Konzeption tschechisch(slowakisch)-deutscher und österreichischer Themen sowie diesbezüglicher Streitpunkte, die meist historisch verankert sind und deren Folgen oft bis in die Gegenwart reichen (für diejenigen, die sich nicht erinnern: diplomatische Beziehungen zwischen der BRD und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik wurden erst 1967 auf der Ebene der Handelsvertretungen erneuert). Gleichzeitig grenzt sie die tschechisch-österreichischen Themen sehr feinfühlig ab, die sich aus dem langjährigen Zusammenleben in der Habsburgermonarchie ergeben, und erwähnt die andere, entgegenkommendere Einstellung dem neutralen Österreich gegenüber im Vergleich zu „Westdeutschland“, die immerhin 1961 die Gründung der bereits erwähnten Zeitschrift Wir und Sie im Herzen Europas zur Folge hatte. Relativ viel Raum nimmt auch das paradoxe Phänomen ein, dass eine Zeitschrift, deren Aufgabe die Förderung der zeitgenössischen sozialistischen Tschechoslowakei war, in zahlreichen Artikeln das Kulturerbe positiv hervorhob, das uns mit deutschsprachigen Kulturen verbindet, seien es barocke Gebäude oder deutschsprachige Literatur mit der Leitfigur von Franz Kafka. Dies lässt die entspannte Atmosphäre des Jahres 1968 erahnen, mit den Folgen für beide Zeitschriften beschäftigt sich der Abschlussteil der Monografie.

 

Beim Wissen um die offizielle Aufgabe der Zeitschrift stellt Leclerc (im Vergleich zu anderen Kulturzeitschriften) nicht nur eine höhere literarische Qualität (S. 79), sondern auch ein hohes künstlerisches Niveau fest, zu dem bereits „etablierte“ oder aufstrebende talentierte Fotografen und Künstler beigetragen haben (z. B. Ladislav Sitenský, Oldřich Škácha, Oldřich Karásek, Adolf Hoffmeister, Miloslav Troup, Eva Fuková, Jiří Kolář u. a. – siehe Anhang Nr. 5 auf S. 350–360). Sie ignoriert den polemischen Ton nicht, der die offizielle tschechoslowakische Position gegenüber den heiklen politischen Themen charakterisierte (Münchner Abkommen, Vertreibung – die Autorin wundert sich über die Verwendung von Begriffen wie etwa „Umsiedlung“ oder „Aussiedlung“ statt „Vertreibung“, sie reflektiert hier die tschechische Perspektive nicht, die bis Anfang der 1990er Jahre das Wort „odsun“ benutzte) und findet heraus, dass die Autorin vieler solcher Artikel eben Lenka Reinerová sei, „die sich oft an vorderster Front befindet, da sie sich mit Themen in Bezug auf die westdeutsche Politik beschäftigt. Die Journalistin zeichnet sich hier durch virulente Stellungnahmen aus, in denen sie die Umsiedlung der deutschen Bevölkerung begründet und legitimiert.“ (S. 185).

 

Der Anteil von Lenka Reinerová an veröffentlichten Artikeln und Beiträgen war in so einer kleinen Redaktion wirklich enorm. Neben den oben genannten Themen ist sie ferner Autorin zahlreicher Leitartikel, sie schrieb Filmkritiken, leitete die Rubrik für Leserbriefe, auf die sie auch reagierte. Neben der Quantität hebt Leclerc aber u. a. die engagierte und persönliche Haltung in den Texten von Reinerová hervor, die sich oft durch die Verwendung der ersten Person Singular äußert, sowie durch deren literarische Qualität. Um zu erklären, worin sie besteht, analysiert Leclerc ausführlich zwei ihrer Texte, die ebenfalls im Anhang aufgeführt sind. Sie untersucht, wie Reinerová die Spannung zwischen dem bewusst unauffällig gewählten Titel und dem eigentlichen Thema des Textes instrumentalisiert, das sich im Verlaufe des Textes nach und nach offenbart – so verwendete Reinerová in ihrem Artikel Statt eines Glückwunsches aus der Heimat die Tatsache des 62. Geburtstags des Kriegsverbrechers Hermann Krumeys (er entschied u. a. über die Ermordung von 88 Kindern aus Lidice) dazu, im Kontrast zu dem allmählich entwickelten heimatlichen Geburtstagsidyll darauf hinzuweisen, dass Krumey weiterhin zufrieden in der BRD lebt und trotz der Bemühungen vonseiten der Tschechoslowakei und Polens für seine Verbrechen nicht bestraft wurde. Gleichzeitig verfolgt Leclerc Reinerovás Gefühl für dramatische Zuspitzung: Arbeitet sie nämlich zu Beginn des Textes bei der Enthüllung der Identität der Hauptfigur nur mit dem Pronomen „er“, verwendet sie im weiteren Verlauf zunächst den Vornamen, sie führt in chronologischer Auflistung die Posten des „Helden“ in diversen Vereinen, Verbänden und in der Partei an und erst dann erscheint der Nachname im Zusammenhang mit der Mitgliedschaft in der SS. Ich erwähne diese minutiösen Beobachtungen von Hélène Leclerc, um sowohl ihre Fähigkeit zu demonstrieren, mit großen Materialmengen umzugehen (s. o.), als auch auf die Kunst der Mikroanalyse aufmerksam zu machen, deren Ergebnisse es ihr ermöglichen, Urteile über Reinerovás Stil zu fällen. Neben den bereits erwähnten Merkmalen sind dies die Verquickung von Öffentlichem und Privatem (Reinerová greift sehr oft auf persönliche Erfahrungen zurück), der metaphorische Charakter der Sprache, der häufige Einsatz von Ironie, die Verwendung von fantastischen oder traumhaften Szenerien. Dieselben Mittel findet Leclerc jedoch auch in Reinerovás Prosa und stellt daher die These auf, dass sich im Werk von Lenka Reinerová der journalistische und literarische Stil überlappen (über ihre Prosa sagt sie wiederum: „Es wird mehr über etwas berichtet, als dass es erzählt wird.“ [S. 305]).

 

Sollte man an der Monographie etwas aussetzen müssen, dann sollten die Tippfehler (sehr schade finde ich es im Fall der Angabe von Torbergs Todesdatum: 1949 statt 1979 oder der Datierung der Sendung über den Tod von Jan Palach auf 1968) und gewisse Computer-„Unfälle“ erwähnt werden (z. B. Wiederholung der identischen Fußnote Nr. 77 unter Nr. 88 ohne Bezug zum Text oder die gelegentlichen fünfstelligen Datierungen von Veröffentlichungen im Literaturverzeichnis), das schwerwiegendste sind allerdings Vereinfachungen des tschechischen und tschechoslowakischen Kontextes an einigen Stellen. Trotz des erklärten großen Überblicks der Autorin über die Geschichte und Kultur der Tschechoslowakei muss man ihr etwa vorhalten, dass beispielsweise die Einstellung des tschechoslowakischen Staates zur Frage des Münchner Abkommens oder zur Vertreibung der deutschen Bevölkerung nicht dadurch motiviert wurde, dass „es sich dabei um ein Leitmotiv der sowjetischen Außenpolitik gegenüber Bonn handelt[e]“, sondern es ging hierbei ganz bestimmt um eigene Interessen. Ebenso stimmt es nicht, dass die diplomatischen Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und der damaligen BRD erst 1972 aufgenommen würden (S. 30), auf der Ebene der Handelsvertretungen geschah es schon früher, wie die Autorin auf S. 47 selbst anmerkt (s. o.). Und um der Entstehung weiterer Legenden vorzubeugen: Das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren gründete das Trio František Černý, Kurt Krolop und Lenka Reinerová, nicht Lenka Reinerová allein (S. 13). Angesichts der Bedeutung und des Umfangs der Publikation (393 Seiten) sind dies allerdings nur Nebensächlichkeiten.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Hélène Leclerc: Lenka Reinerová und die Zeitschrift „Im Herzen Europas“. Wien / Köln: Böhlau, 2022, 393 S.


zpět