Es schreibt: Johannes Gleixner

(7. 9. 2022)

Was war die „Maffie“? In ihrer Monografie belegen Jan Hálek und Boris Mosković, dass die Antwort auf diese Frage davon abhängt, wer fragt bzw. antwortet. Schon im Untertitel Český (domácí) protirakouský odboj v proměnách 20. století weisen sie auf den Bedeutungswandel der Maffie als Symbol des tschechischen Heimatwiderstandes im ersten Weltkrieg hin. Zugleich präsentieren sie in ihrer breit recherchierten Studie auch einige Anhaltspunkte für zentrale Figuren und Funktionen dieser Gruppe, aber auch die von diesen zu unterscheidenden Träger der Geschichtsschreibung und der Erinnerungspolitik der Maffie.

 

Die Maffie war stets eine eher nebulöse Organisation, die um einige personelle Fixpunkte kreiste. Das gereichte ihr nicht zum Nachteil, da die oft lokalen Widerstandshandlungen sich als Teil einer übergreifenden Organisation in die Geschichte einschreiben konnten und damit sowohl die eigene Bedeutung als auch die der Maffie retrospektiv systematisierten und erhöhten. Schon Zeitgenossen fiel diese Unbestimmtheit auf, so dass ein Beobachter ebenso spitz wie treffend bemerkte, es wäre kein Wunder, sollte sich herausstellen, dass auch die kaiserliche Familie dort Mitglied gewesen sei (S. 138).

 

Sie war also eher eine Chiffre, deren Leistung darin bestand, zwei erinnerungskulturelle Leitmotive im Selbstverständnis der (ersten) Tschechoslowakischen Republik zu verknüpfen: Zum einen die Frage nach dem Verhältnis von Heimat- und Auslandswiderstand; zum anderen die Frage, auf welche Bevölkerungsschichten sich der Widerstand eigentlich stützen konnte, und ob es sich also bei der „tschechischen bzw. tschechoslowakischen Revolution“ der Jahre um 1917–1919 um ein bürgerliches oder ein von den breiten Volksmassen getragenes und gelungenes Unterfangen handelte. In der Republikszeit waren diese Fragen legitimitätsstiftend und damit hochpolitisch: Wer im Erinnerungsdiskurs des Weltkriegswiderstandes die Hoheit erringen konnte, verfügte entsprechend auch im politischen Alltag über Definitionsmacht. Dieser Bedeutung entsprechend setzen die Autoren einen klaren Schwerpunkt auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, demgegenüber die der Zeit nach 1948 gewidmeten Kapitel weniger breit recherchiert ausfallen müssen.

 

Überzeugend rekonstruieren die Autoren zunächst die Möglichkeiten und Voraussetzungen für den Widerstand im Krieg: Dieser entstand eben nicht nur durch die Handlungen der Widerständischen, sondern ganz wesentlich durch den Definitionsrahmen der staatlichen Autorität: Das öffentliche Absingen tschechischer patriotischer Lieder, bei Kriegsausbruch noch Ausdruck von Loyalität gegenüber der Monarchie, war bereits ab Ende 1914 de facto verboten und damit in den Bereich des Widerständischen verschoben (S. 32–33). Dazu passt, dass auch die spätere Erinnerungspolitik des – vorgeblich geheimen – Widerstandes dessen Legitimität oft mit der Teilnahme an öffentlichen Manifestationen begründete (S. 90).

 

Doch erst der Zusammenbruch loyalistischer Positionen quer durch alle tschechischen Parteien ab 1917, ironischerweise verstärkt durch die Amnestiepolitik Kaiser Karls, machte den Widerstand gegenüber der Monarchie zum Leitmotiv tschechischer Politik im Krieg (S. 60). Der spätere Vorwurf marxistisch inspirierter Geschichtsschreibung, wonach der organisierte politische Widerstand lediglich Ausdruck eines bürgerlichen Nationalismus gewesen war, hatte einen wahren Kern: Tatsächlich setzten sich in allen Parteien die nationalistisch gesinnten Flügel durch und erzeugten einen übergreifenden Konsens. Der Plan der ehemaligen Jungtschechen, eine allgemeine nationale Sammlungspartei zu gründen, ging jedoch nur teilweise auf. Hier geben Hálek und Mosković einen wichtigen Hinweis auf die – vermutlich immer noch unterschätzte – Rolle der nationalen Sozialisten um Václav Klofáč als verbindendes Element einer (das politische System der Republik vorwegnehmenden) Koalition von Massenparteien und bürgerlicher Nationalbewegung. Klofáč war es auch, der unmittelbar nach Kriegsende die Maffie als Symbol des organisieren Widerstandes gewissermaßen erschuf. Damit förderte er zugleich die Deutungshoheit des von der Präsidialkanzlei tatkräftig geförderten Narrativs der „Burg“, wonach der Heimatwiderstand gewissermaßen Masaryks verlängerter Arm gewesen war. Přemysl Šámal, einer der wichtigsten Organisatoren des Widerstandes im Krieg und langjähriger Leiter der Präsidialkanzlei, war die (wohlbekannte) Schlüsselfigur dieser Darstellung, an der er selbst mitwirkte (S. 318–319).

 

Es ist ein Verdienst der Autoren, dass sie auch konkurrierende Organisationen auf dem Feld der Geschichtspolitik wie den Svaz domácího odboje 1914–1919 oder den den Legionärsorganisationen nahestehenden Svaz národního osvobození in ihre Analyse aufnehmen (S. 214). Dennoch überragte die Legitimation der Kern-Maffie gerade in der revolutionären Zeit unmittelbar nach dem Krieg alle Konkurrenten. Zeitweise wirkten ihre Mitglieder als eine Art inoffizielles Revolutionstribunal, das als über alle Zweifel erhabenes „Ehrengericht“ das Verhalten anderer öffentlicher Personen im Krieg beurteilte. In der Regel dämpften sie jedoch den revolutionären Furor, mit dem vor allem politisch linke Anhänger Masaryks wie Zdeněk Nejedlý oder Gustav Jaroš (Gamma) vermeintliche Verräter öffentlich anklagten (S. 116–120). An einer revolutionären Abrechnung, die zugleich den sozialen Status Quo hinterfragt hätte, hatten auch die konservativen und nationalistischen Teile des politischen Spektrums wenig Interesse. Burg und Maffie entwickelten eine dialektisch ineinandergreifende Legitimationsstrategie: Zum einen wurde die Maffie auf einen angeblich konkreten Plan Masaryks zurückgeführt (S. 157). Zugleich setzte sich der erinnerungspolitisch ebenfalls umtriebige Edvard Beneš als ihr anfänglicher „Sekretär“ in Szene und begründete zum anderen die Repräsentativität des Auslandswiderstandes durch dessen enge Kontakte zur Maffie (S. 184).

 

Ebenso dialektisch griff jedoch eine deutschnationale Erzählung auf Mythos der Maffie zurück. Von der Vorstellung eines tschechischen organisierten geheimen Widerstands war es nur ein kleiner Schritt zu einer deutschböhmischen Variante der Dolchstoßlegende (S. 231), die von der deutschen Besatzung ab 1938 dann bereitwillig aufgenommen wurde und als Grundlage von Repressionen und Verfolgungen diente, denen schließlich auch Šámal zum Opfer fiel.

 

Ab den späten 1920er Jahren verschob sich die Erzählung vom Widerstand im Krieg zunehmend von der Tagespolitik in den Bereich der Erinnerungskultur. Einzelne Erinnerungsorte, die jedoch eng an die teilnehmenden Personen gebunden blieben, entstanden (S. 214–218). Durch Milada Paulová und Jan Hajšman wurde schließlich die „Burgversion“ der Widerstandserzählung historiografisch festgesetzt (S. 202–210). Das Widerstandsnarrativ der politischen Rechten, das vor allem von František Sís als Gegenspieler Šámals vertreten wurde, konnte sich erst in der Zeit der Zweiten Republik stärker durchsetzen. Anders als in der den Status Quo stützenden Legitimationsstrategie der Burg rückte nun erneut eine nationalrevolutionäre Deutung, die die Unabgeschlossenheit des Umsturzes betonte, in den Vordergrund.

 

Vollendet wurde die Mythoswerdung der Maffie schließlich in der Zeit der Dritten Republik 1945–1948, nachdem Šámal zum Symbol eines durchgehenden Widerstandes in beiden Weltkriegen geworden war. Mit dem Tod ihrer Protagonisten begann die Maffie jedoch von der Hauptbühne der tschechischen Geschichte abzutreten. Wie die Autoren schlüssig zeigen, entstanden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwei Deutungsstränge, die allen Umstürzen und Wendungen zum Trotz im Wesentlichen bis in die Gegenwart fortbestehen: Zum einen wurde die Maffie tendenziell zu einem Epiphänomen des Weltkriegsgeschehens zurückgestuft. Das lag zunächst an der marxistischen Geschichtsschreibung ab 1948, die das Motiv eines revolutionären, von den Massen getragenen Widerstandes ins Zentrum rückte, und vermeintlich bürgerlich-elitären Organisationsformen ausgesprochen negativ gegenüberstand. Weder die reformorientierte Geschichtsschreibung der 1960er noch die „Normalisierungshistoriker“ wichen im Anschluss von dieser Akzentsetzung wesentlich ab. Zum anderen überdauert jedoch die Forschung von Milada Paulová den Sozialismus, sei es durch ihren engen Kontakt mit jungen jugoslawischen Kollegen, sei es durch die Weitervermittlung an ein junges Historikerkollektiv, das dann ab 1989 die tschechische Geschichtsschreibung zum frühen 20. Jahrhundert entscheidend prägen sollte. Dennoch wird in der Darstellung deutlich, dass sich die öffentliche Erinnerung an die Maffie immer stärker entweder an den Jubiläen der Republiksgründung 1918 oder an der Geschichtsschreibung ihrer bekannten Vertreter wie etwa Alois Rašín ausrichtete. Dass der Mythos nach dem Tod seiner Zeitzeugen offensichtlich die Kraft verlor, den Diskurs zu prägen, unterstreicht die starke Personenzentriertheit und letztlich flüchtige Organisationsform des „Phänomens Maffie“.

 

So ist es überzeugend, die Maffie weniger als Teil, als vielmehr Ergebnis einer geschichtspolitischen Auseinandersetzung zu verstehen. Eine Maffie konnte es – zugespitzt – nur in der Erinnerung geben. Dieser Flüchtigkeit und Unschärfe verdankt der Mythos einerseits seinen Erfolg, andererseits auch sein schnelles Ableben. Die Erinnerung an den Widerstand verriet vor allem etwas über die geschichtspolitischen Debatten der jeweiligen Gegenwart.

 

Es scheint fast, als ob die Autoren vor dieser Schlussfolgerung zurückschrecken, da die Studie abschließend noch einmal die verschiedenen Mitgliederdefinitionen der Maffie schlüssig darlegt. Insgesamt allerdings erbringt der Begriff „Phänomen“ die nötige Trennung von Mythos und historischem Gegenstand. Die Studie von Jan Hálek und Boris Mosković leistet insgesamt eine beeindruckende Rekonstruktion, die sich auf vielfältige Quellengattungen stützt und ihren Gegenstad aus verschiedenen Blickwinkeln rekonstruiert. Hervorzuheben ist vor allem die gelungene Gegenüberstellung der bekannten Meistererzählungen mit weniger bekannten – lokalen und ausländischen – Quellen. Auch die vielen Details zur sozialen Schichtung und den konkreten Mechanismen der Geschichtspolitik sind eine enorme Bereicherung. Offen bleibt vielleicht lediglich, wie die Maffie sich zu älteren Widerstandserzählungen aus der Vorkriegszeit verhielt. Auch diese galten in der Republik ja als legitimationsstiftend. Doch das soll dem Buch nichts von seiner Leistung absprechen.

 

 

Jan Hálek / Boris Mosković: Fenomén Maffie. Český (domácí) protirakouský odboj v proměnách 20. století. Bd. 9: České moderní dějiny. Praha: Masarykův ústav / Archiv AV ČR, 2020, 380 S.


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