Es schrieben: Miloslav Hýsek und Paul/Pavel Eisner
(E*forum, 20. 7. 2022)II
Im Anschluss an die Texte von Miloslav Hýsek und Pavel/Paul Eisner, die letzte Woche veröffentlich wurden (siehe auch die Einleitung zu diesen Texten), bringen wir die nächsten drei polemischen „Repliken“ aus ihrer Feder.
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Hýsek, Miloslav: [Den älteren und jüngeren deutschen Übersetzungen der tschechischen Poesie]
Národní listy 67, 1927, Nr. 5, 6. 1., S. 4, signiert mit vh.
Den älteren und jüngeren deutschen Übersetzungen der tschechischen Poesie widmete P. Eisner in der Neujahrsausgabe der Prager Presse ein Feuilleton; obwohl er unser Blatt nicht ausdrücklich nennt, handelt es sich eigentlich um eine Polemik mit meinem unlängst publizierten Text über die beiden Anthologien von Fuchs, der einen historischen Bericht beinhaltete, und einige der Kommentare dürfen nicht unbeantwortet bleiben. Bisher nahm ich an, es sei das Privileg achtzehnjähriger Poeten zu glauben, dass die wirkliche Poesie erst mit ihrem Werke begänne; das Feuilleton von Herrn Eisner zeigt allerdings, dass auch die zeitgenössischen deutschjüdischen Prager Übersetzer so denken, falls Herr Eisner für sie spricht. Die ersten deutschen Anthologien der tschechischen Poesie publizierte Wenzig, nach ihm widmete Waldau sich der systematischen übersetzerischen Arbeit, die umfassendsten Sammlungen der ganzen neuen tschechischen Poesie bis zur Moderne stellte Albert zusammen; dies ist eine historische Tatsache, an der auch Eisners Behauptung nichts zu ändern vermag, dass der Zusammenhang dieser Leistungen mit den zeitgenössischen Übersetzern lediglich mechanisch sei und dass das Ergebniss der erwähnten Bemühungen „gleich null“ gewesen sei, während es erst den heutigen deutschjüdischen Dichtern gelungen sei, einen Durchbruch im Ausland zu erleben. Laut Eisner seien alle älteren Übersezungen außer Adlers Nachdichtungen von Vrchlický nichts wert, aber da irrt Eisner. Alle erwähnten Übersetzer waren leidenschaftliche Propagatoren tschechischer Poesie und ihre Arbeit hatte – sollte sie wirklich keinen anderen Wert besitzen – eine große moralische Bedeutung. Auf die Autoren und die von Wenzig übersetzten Texte greifen auch die zeitgenössischen Übersetzer zurück, dies betrifft umso mehr Alberts Auswahl; zu der Zeit, als die Prager deutschjüdischen Dichter (mit einer kleinen Ausnahme) sich gar nicht um die tschechische Literatur kümmerten, übersetzten Wenzig und Waldau nach ihren Kräften, manchmal besser, manchmal schlechter, jedes Mal war ihre Arbeit allerdings eine kulturelle Leistung. Und da es keine Deutsche gab, die sich zur Poesie der verhassten Nation herabgelassen hätten, war es vonnöten, selbst Hand anzulegen; darin liegt Alberts Bedeutung. Wenn die heutigen Übersetzer München erobert haben, dann eroberte Wenzig schon Leipzig; und falls ihre Anthologien keinen besonderen Widerhall erfuhren, gibt auch Eisner zu, dass die Deutschen sich den Bestrebungen seiner Mitstreiter gegenüber auch heute passiv verhielten und dass auf dem Theater auch finanzielle Überlegungen deutscher Direktoren die Rolle spielten, die sich von den tschechischen Stücken einfach Erfolg erhofften. Die Anstrengung alter Übersetzer war rein ideell; die tschechische Nation besaß weder ein eigenes Staatsgebilde noch eine vollentwickelte Kultur, kurz: sie besaß noch nicht die Position, die sie heute innehat. Heute hat sie all das Erwähnte sowie eine reich dotierte Propagationspresse; von den Prager deutschen Zeitungen ist es ja heute nur die Prager Presse, die Übersetzungen aus dem Tschechischen bringt und unser Kulturleben verfolgt (dies tut sie jedoch relativ einseitig), wobei unsere Literatur im Falle der anderen beiden Prager deutschen Tagblätter beinahe nicht zu existieren scheint, und dies sogar mehr als zu Wenzigs Zeiten. Ich bin kein derartiger Antisemit, um die tatsächlichen Verdienste der zeitgenössischen deutschjüdischen Übersetzter zu missachten, wie man meinem ursprünglichen Referat auch entnehmen konnte, ich bin jedoch auch kein solcher Philosemit, um die wirklichen Verdienste der nichtjüdischen Schriftsteller, wie etwa Wenzig und Waldau, herabzuwürdigen. Übersetzt Eisner heute die slawische Volkspoesie, ist es wohl beinahe hundert Jahre her, seit Wenzig sie übersetzt hatte; es wird ein Verdienst sein, wenn Eisner sie besser übertragen wird, aber das heißt noch nicht, dass die Priorität nicht Wenzig zuzuschreiben sei und dass es richtig und gerecht sei, über Wenzig mit einer herablassenden Geste zu sprechen, wie dies Herr Eisner tut. Eisner vergaß auch Emil Saudek, dem der Hauptverdienst zukommt, wenn man das deutsche Interesse an der modernen Poesie nach Vrchlický erwähnt; es war gerade Saudeks Übersetzung von Březinas Händen [Ruce], die zur Folge hatte, dass man sich für unseren großen Modernisten zu interessieren anfing, womit Saudek den Boden für Eisners Übersetzungen für die Anthologie der österreichisch-propagandistischen Österreichischen Bibliothek aus der Kriegszeit bereitete. Der Literaturhistoriker wird die Geschichte der deutschen Übersetzungen unserer Poesie genauso sehen, wie ich sie hier skizziert habe; was Eisner hierzu schrieb, ist eine Verzerrung der Wirklichkeit, da Wenzig und andere oben Genannte damals wie heute Vorgänger von Eisner und seinen Freunden bleiben, auch wenn die heutigen Verhältnisse anders, für die Übersetzungsarbeit viel günstiger, sind.
Eisner, Pavel: Deutsche Übersetzungen aus der tschechischen Poesie
Tribuna 9, 1927, Nr. 7, 9. 1., S. 5
In meinen Überlegungen zum Thema der Übersetzungen aus dem Tschechischen äußerte ich die Ansicht, dass alle dichterischen Übersetzungen der tschechischen Poesie, falls sie von den des Deutschen mächtigen Tschechen stammen (Wenzig, Waldau, Albert), schlecht waren. Die Ursachen liegen auf der Hand, die Tatsache lässt sich nicht bestreiten, Beweise kann man jederzeit anhand von beliebigen Zeugnissen ästhetisch gebildeter Deutscher vorlegen. Ich will Wenzig, Waldau und Albert die moralische Bedeutung ihrer Leistungen nicht streitig machen. Das moralische Moment in der Kunst an sich ist jedoch leider nicht entscheidend. Wenn ich ihre Übersetzungsarbeit streng beurteile, ist das kein Ausdruck meiner Unverfrorenheit, ich mache das, weil es mir ernst mit der Sache ist. Es ist nämlich ein Unterschied, wenn man Baudelaire oder aber Čelakovský bzw. Neruda miserabel übersetzt; im ersten Falle blamiert man nur sich selbst, im zweiten Falle – wo es um einen Dichter geht, der für die Welt völlig unbekannt ist (man kann darüber hinaus die Übersetzung mit dem Original nur schwerlich vergleichen), wird der übersetzte Dichter blamiert. Ich erklärte ferner, dass beinahe alles Wertvolle (angefangen mit Friedrich Adler), was das deutsche Publikum aus der tschechischen Poesie wahrnehmen kann, aus der Übersetzerwerkstatt der Prager deutsch-jüdischen Dichter stammt. Keine Spur vom Philosemitismus! Der Sinn lautet: mit Erflog kann die Poesie nur von einem Dichter übersetzt werden, die tschechische Poesie kann nur vom deutschen Dichter ins Deutsche übertragen werden. Symbiotisch vorbestimmt für diese Aufgabe ist also der deutsche Dichter aus Böhmen, vor allem der deutsche Dichter aus Prag. In der Praxis heißt das: der deutsche jüdische Dichter aus Prag. Diese Notwendigkeit konstatierend führte ich einige Beispiele an. Wieder aber nicht ad majorem gloriam des Judentums in der Literatur. Es ist doch klar, was ich damit meine: genauso wie der tschechische Jude erst durch die Assimilation und dank der Anlehnung an die tschechische Kultur dem geistigen Ghetto entkam, so wird der deutschjüdische Künstler aus Prag und aus Böhmen sein Ghetto überhaupt dann los, wenn er wenigstens fürs Kurze mit der tschechischen Seele verschmilzt, deren innerster Ausdruck die tschechische Poesie und Kunst darstellen. Ich erblicke hierin sogar eine schicksalhafte Zwangsläufigkeit für die Prager deutschen Juden. Begreifen ihre Eliten sie heute mit einem scharfsinnigeren Instinkt als früher, arbeiten sie v. a. auf ihre geistige Emanzipation vom Joch des Ghettos hin. Ich weiß wahrlich nicht, was an dieser Meinung philosemitisch sei. Prof. Hýsek erwähnt in Nár. listy vom 7. Januar die anwachsende Intensität des Übersetzens aus dem Tschechischen ins Deutsche und bringt dies mit dem erfreulicheren Schicksal der tschechischen Nation, mit der reichdotierten Propagationspresse usw., in Zusammenhang. Ich erlaube es mir zu widersprechen. Die Tätigkeit von Adler, die Tätigkeit von Pick bis zum Umsturz, genauso die Tätigkeit von Werfel, Brod, Saudek und anderen hat mit der Propagationspresse nichts zu tun. Es stimmt allerdings, dass der deutsche tschechoslowakische Propagationsblatt Übersetzungen tschechischer Literatur druckt.
Zwei persönliche Anmerkungen zum Schluss! Herr Prof. Dr. Hýsek behauptet, Saudeks Übersetzung von Březinas Händen [Ruce] hätte den Boden für meine Anthologie in der Österreichischen Bibliothek bereitet. Die Verdienste des Herrn Saudek werden nicht geschmälert, wenn hier konstatiert wird, dass meine Anthologie meiner Anthologie den Boden bereitet hatte, genauso wie H. v. Hofmannsthal. Niemand anderer auf der Welt. Hofmannsthal hat ihre Herausgabe im berühmten Insel-Verlag durchgesetzt. Ferner behauptet Herr Prof. Dr. Hýsek, dass bezüglich meiner Übersetzungstätigkeit in puncto slawischer Volkslieder Wenzig die Priorität besäße. Die historische Priorität wohl schon. Bestimmt aber keine andere Art von Priorität. Wenzigs Übersetzungen… ich erwähnte jedoch bereits im einschlägigen Artikel, dass es schade um jedes weitere Wort sei, und nicht vielleicht deshalb, weil Wenzig als unser erster pater familias die Sache nicht besser hätte bewältigen können (da er von der Machtpostion des selbstständigen tschechoslowakischen Staates und von der reich dotierten Propagationspresse nicht hat profitieren können, sondern nur deswegen, weil Wenzig kein deutscher Dichter und überhaupt kein Dichter war). Womit ich den Bogen zu meiner anfänglichen Behauptung schlage, die nach hundert Jahren immer noch unvermindert ebenso gültig sein wird, wie sie heute gilt.
Hýsek, Miloslav: [Herr P. Eisner erklärt in der Tribuna vom Sonntag]
Národní listy 67, 1927, Nr. 10, 11. 1., S. 4, signiert mit –vh–
Herr P. Eisner erklärt in der Tribuna vom Sonntag, meine Anmerkungen zu seinem Neujahr-Feuilleton beantwortend, dass Wenzig und Waldau „des Deutschen mächtige […] Tschechen“ gewesen seien, und den vermeintlichen Misserfolg von Wenzigs Übersetzungsarbeit führt er darauf zurück, dass dieser „kein deutscher Dichter“ gewesen sei. Mitnichten! Waldau war Deutscher und er blieb es sein ganzes Leben lang, und ferner: Wenzig war von seiner Abstammung her auch Deutscher, der erst in seinen Mannesjahren sich (auch sprachlich) der unterdrückten tschechischen Sache anschloss, er war sogar ein deutscher Dichter, der seine ursprünglich auf Deutsch verfassten juvenilen Verse in den letzten Jahren seines Lebens ins Deutsche übertrug. Was man in Deutschland bis zu den 1850er Jahren aus der tschechischen Dichtung kannte, kannte man dank Wenzig; zu der Zeit interessierten die Deutschen sich für die tschechische Literatur (sogar die dramatische Literatur wie etwa Klicpera, Tyl) wenigstens ein wenig noch und unter den Prager deutschen Schriftstellern herrschte wirklich die Überzeugung vor, welche Herr Eisner jetzt seiner eigenen Generation zuschreibt, nämlich dass ein deutscher Dichter aus Böhmen für die Übersetzung tschechischer Dichter ins Deutsche vorbestimmt sei; leider haben sich diese Dichter, und auch einige jüdische Dichter unter ihnen, von dieser Vorbestimmung nach 1848 losgesagt, und Waldau stellte hier später eine rare Ausnahme dar, über die – wie man sieht – wir uns mehr freuen als diejenigen, die sein Programm nun endlich weiterführen. Es ist natürlich, dass die Übersetzungen der älteren Generation sehr oft antiquiert wirken, in Böhmen sprach man jedoch trotzdem über die Übersetzer-Vorgänger immer mit Achtung; selbst Vrchlický schrieb und sprach mit Respekt über Douchas Versuche, die Göttliche Komödie zu übertragen, und Fr. Kvapil wollte sich nie die Verdienste zu eigen machen, als Erster bei uns die polnischen Dichter bekannt gemacht zu haben. Darin besteht die moralische Kraft, die Herr Eisner nicht begreift; der englische Übersetzer unserer Poesie P. Selver schämte sich nicht zuzugeben, dass Karáseks Slavische Literaturgeschichte der Anlass zu seinen Anthologien war, wobei Herr Eisner sich weigert anzuerkennen, dass im Falle der Hofmannsthal’schen Anthologie Saudeks Übertragungen von Březina (an dessen Beispiel so viele große deutsche Dichter die Weltqualität der tchechischen Dichtung erkannt haben) seinen eigenen Übersetzungen den Boden bereiteten. Zu behaupten, dass die Verhältnisse nach dem Umsturz keinen Einfluss auf das Interesse der Deutschen an unserer Kunst hätten, heißt, weiß mit schwarz zu verwechseln; ich bestreite nicht, dass nur vereinzelte deutsche Persönlichkeiten sich vor dem Krieg und im Laufe des Kriegs für die tschechische Poesie interessierten — das war eben die Wenzig- und Waldau-Tradition — es bleibt aber eine Tatsache, dass Smetana sich im Prager deutschen Theater erst nach 1918 durchsetzen konnte, genauso wie der erste tschechische Dramatiker, es bleibt die Tatsache, dass die deutschjüdischen Übersetzer in der Prager Presse und nicht im Prager Tagblatt oder sogar in der Bohemia publizieren, wo man von unserer Literatur kaum Kenntnis nimmt, und es bleibt auch eine Tatsache, dass vor 1918 weder in der Politik noch in der Union etwas gedruckt wurde (man musste hier die übersetzerische Arbeit mit eigenen Kräften leisten). Es gäbe sonst keinen Grund, all dies zu erwähnen, gäbe es nicht das entdeckerische Selbstbewusstsein von Herrn Eisner, dem ich nicht wünsche, dass ein deutscher Übersetzer nach hundert Jahren seine Arbeit einmal so beurteilt, wie er dies heute mit Wenzig und Waldau tut.
Übersetzungen: Lukáš Motyčka