Es schrieben: Miloslav Hýsek und Paul/Pavel Eisner
(E*forum, 13. 7. 2022)Anfang 1927 konnten die Leser einiger Prager Tagblätter eine kurze literarische Auseinandersetzung verfolgen, die auf zwei Kommentare zurückging. Diese Kommentare thematisierten die Impulse für aktuelle übersetzerische Leistungen von Rudolf Fuchs – es handelte sich um die Übersetzungen der Gedichte von Petr Bezruč mit dem Titel Lieder eines schlesischen Bergmannes (München, Kurt Wolff Verlag, 1926) und die Anthologie Ein Erntekranz aus hundert Jahren tschechischer Dichtung (ebd., 1926). Zunächst – noch vor Ende 1926 – publizierte Miloslav Hýsek seinen Kommentar in Národní listy, später äußerte Paul Eisner sich zu diesen Übersetzungen in der Prager Presse. Daraufhin identifizierte M. Hýsek (wieder in Národní listy) Eisners Text als eine polemische Reaktion auf seinen Kommentar (auch wenn Eisner keineswegs explizit war) und führte in diesem Sinne die Polemik weiter. Diese Auseinandersetzung wurde dann von Eisner in dem tschechischsprachigen Tagblatt Tribuna aufgegriffen (über die Motivation dieser Tat kann man lediglich spekulieren: womöglich wollte Eisner nicht jenes Periodikum für seine Polemik missbrauchen, das doch einen gewissen externen Zweck – nämlich zu repräsentieren – hatte), woraufhin Hýsek diesen Meinungsaustausch mit seiner dritten Replik abschloß – abermals in Národní listy. Bezeichnenderweise kamen die Akteure des Streites zu keinem wirklichen Konsens, v. a. was das Hauptthema anging – nämlich die Frage der Beziehung zwischen den übersetzerischen Leistungen und dem Stellenwert der Übersetzer aus dem Prager deutsch-jüdischen Milieu (von Friedrich Adler bis zu Eisners Generation; Eisner plädierte hier für das Kriterium der dichterischen Qualität der Übersetzung) einerseits und den älteren (oder auch zeitgenössischen) Übersetzungen andererseits, die allerdings andere Ausgangspunkte hatten und mit anderen Bedingungen verbunden waren. Hinsichtlich dieser älteren übersetzerischen Leistungen (es ging vor allem um Josef Wenzig) hob Hýsek die persönliche Hingabe und damit die moralische Grundlage der Arbeit eines Übersetzers hervor. Vereinfacht gesagt: für beide Beteiligten formte die Geschichte sich unter dem Einfluss von unterschiedlichen Kriterien, Eisners Lage in dieser Auseinandersetzung war überdies mehrfach heikler: es ging auch um seinen Anteil am aktuellen Entscheidungsprozess, in dessen Laufe bestimmt wurde, was einer Vermittlungsarbeit zukünftig wert sei (hierauf bezieht sich auch Hýseks Äußerung zur „Prager Presse, die ihre Übersetzungen aus dem Tschechischen bringt und unser Kulturleben verfolgt /dies tut sie jedoch relativ einseitig/“). Damit die Argumentationsstruktur bei Eisner bzw. Hýsek besser und konkret nachvollziehbar ist, drucken wir ihre Texte – in zwei Fortsetzungen – ab.
mt
I
Miloslav Hýsek: [Das Übersetzen der Poesie aus dem Tschechischen ins Deutsche]
Národní listy 66, 1926, Nr. 350, 22. 12., S. 4, signiert mit vh.
Das Übersetzen der Poesie aus dem Tschechischen ins Deutsche wird bald sein hundertjähriges Jubiläum feiern können: die erste Anthologie aus der neuen tschechischen Poesie Blüten neuböhmischer Poesie erschien in Prag im Jahre 1833 und ihrem Autor, der hier die geschmackvolle Auswahl aus Kollárs Sonnetten mit der Übersetzung von Čelakovskýs Ohlas písní ruských [Widerhall russischer Lieder] kombinierte, dem damals 26jährigen Josef Wenzig, dem Sohn eines deutschen Offiziers und dem zu der Zeit noch deutschen Dichter, ist es zu verdanken, dass mit diesem ersten Buch das Vorhaben begonnen wurde, die Deutschen mit den Bestrebungen der jungen tschechischen Literatur bekannt zu machen. Wenzig fand sofort Nachfolger unter seinen jungen Zeitgenossen. Diese Übersetzungen (v. a. von Sabina und Kapper) wurden allerdings hauptsächlich in diversen Periodika veröffentlicht, so war es bis zu den 1870er Jahren Wenzig allein, der bereits vor der oben erwähnten Sammlung schon einen kleinen Band slawischer Lieder publizierte (eine Auswahl aus Čelakovskýs Werk) und der mit seinen Buchveröffentlichungen die verdienstvolle Vermittlungsarbeit fortsetzte. Wenzig interessierte sich jedoch nur für die Poeten seiner Jugend; einen wunderbaren Nachfolger fand er Ende der 1850er Jahre in dem Deutschen Alfred Waldau, dem Übersetzer der alttschechischen Liebeslyrik, der neuzeitlichen Autodidakten, der Lieder von Hanka sowie der Poesie von Mácha. Waldau hatte vor, eine Anthologie aus den Werken seiner tschechischen Zeitgenossen zusammenzustellen (die Neruda-Generation), die sicher ihren Auftrag erfüllt hätte, wenn es zu der Herausgabe gekommen wäre. Seit den 1880er Jahren wächst die Aufmerksamkeit, die der tschechischen Literatur gewidmet wird, auch unter den Deutschen, die größten Verdienste um die neue Poesie erwarb sich der Wiener Chirurg Prof. Albert mit seinen umfangreichen Anthologien, für die er die meisten Übersetzungen selbst verfasste. Dieser Weg wurde auch im Krieg weiterverfolgt, und es war sympathisch, dass sich die jüngere Generation der Prager Deutschen der Propagation unserer Poesie unter ihren Landsleuten angenommen hat; die beiden schönen deutschen Sammlungen deutscher Übersetzungen Jüngste čechische Lyrik und Čechische Anthologie wurden in den härtesten Kriegsjahren herausgegeben – damals war es angesichts der Übersetzungen von Vrchlický, Čech, Machar oder Březina schon bekannt, dass die moderne tschechische Poesie sich dichterischer Erscheinungen von europäischer Qualität rühmen darf. An diese Tradition knüpft nun Rudolf Fuchs an, der auch im Krieg bereits eine wertvolle Auswahl aus Bezručs Werk publizierte und der sich mit seinen Übersetzungen auch an der ersten der oben erwähnten Anthologien beteiligt hatte; im etablierten Münchner Kurt Wolff Verlag gibt er nun seine zwei schön ausgestatteten und dichterisch wertvollen Sammlungen von Übersetzungen heraus: es handelt sich erstens um einen Ergänzungsband mit Bezručs Gedichten unter dem Titel Lieder eines schlesischen Bergmannes, der 25 Nummern (65 Seiten) umfasst und zweitens um die Anthologie Ein Erntekranz aus hundert Jahren tschechischer Dichtung (120 Seiten), in der 17 Dichter von Čelakovský und Erben bis zu Wolker vertreten sind. Von den älteren Dichtern findet man hier nur wenige Namen: Čelakovský, Erben und den mit den meisten Gedichten vertretenen Neruda; der den Deutschen bereits wohlbekannte Vrchlický hat hier begreiflicherweise lediglich drei Gedichte; der Schwerpunkt der Anthologie liegt in der Poesie der letzten dreißig Jahre, beginnend mit Sova, Březina und Bezruč, wobei Machar zu Unrecht vergessen wurde. Die anderen Namen lauten: Hlaváček, Neumann, Toman, Šrámek, Theer, Fischer, Křička, Durych, Hora und Wolker, die jüngste Generation wird sehr gut repräsentiert, wobei die Auswahl mehrmals von der subjektiven Einstellung und dem Geschmack des Übersetzers geprägt wurde. Die tschechische Poesie findet in Fuchs (und P. Eisner) ihre wahrhaftigen Freunde und Kenner; und Fuchs übersetzt sehr gut, er trifft immer den Grundton sowie die eigenartige Atmosphäre bei dem jeweiligen Dichter. Man sieht das bei seinen Übersetzungen des Werks von Petr Bezruč, genauso wie bei den Nachdichtungen von Březina, Theer und Křička. Somit trug Fuchs zur Popularisierung unserer Dichtung im Ausland wesentlich bei.
Paul Eisner: Unsere Vorgänger, die tschechische Dichtung und die Deutschen usw.
Prager Presse 7, 1927, č. 1, 1. 1., příloha Dichtung und Welt, č. 1, s. 1
Die beiden deutschen Anthologien tschechischer Dichtung von Rudolf Fuchs haben publizistischen Anlaß gegeben, daß eine historische Linie der bisherigen Übertragungen tschechischer Poesie in die deutsche Sprache gezogen wurde. Die vorgebrachten Ausführungen bedürfen, wie es scheint, einiger Gegenfeststellungen.
Es wurden sozusagen als die geistigen Väter der Übersetzer von heute ein Josef Wenzig, ein Alfred Waldau, endlich Professor Eduard Albert genannt, deren Übersetzertätigkeit mit rühmenden Worten bedacht wurde. Hier ist zu sagen: zwischen ihnen und den Übersetzern von heute ist jede andere Filiation als die mechanische der rein zeitlichen Aufeinanderfolge versteht. Wenzig, ein tschechischer Johann Nepomuk Vogl, war zu den deutschen Versen, die er geschrieben hat, ungefähr so befähigt wie zu den tschechischen, die er gleichfalls geschrieben hat. Alfred Waldau vermochte lediglich sich selbst und seinen tschechischen Landsleuten den Glauben einzuflößen, daß bei seiner Nachdichterei etwas einem deutschen Vers ähnliches herauskommt. Seine deutschen Verurteiler waren schon zu Waldaus Lebzeiten andere Meinung, wie wir u. a. aus dem Munde Jan Nerudas erfahren. Der ausgezeichnete Arzt und edle Menschenfreund Professor Albert, auch als in Wien einflußreiche Persönlichkeit für die tschechische Kultur wichtig, hatte als Übersetzer und Anthologist wenig Glück. Seine dicken Gewande sind Totgeburten. Bis auf winzige Ausnahmen ist ihr Inhalt bedrucktes Papier. Ihre Wirkung war gleich null. Außer daß der Wiener Ministerialrat Woborzil oder Kokoschnigg bei ihrem Anblick ausgerufen haben mag: „Mirkwirdig, da habenʼs alstern auch in Böhmen a Poesie, und is ganz gebüldet, die böhmakische Poesie, wunderscheen hat das der Albert gemacht, alles in Reimen, wird gor net leicht gewesen sein, da muß i ihm aber gleich gratulieren!“ Es ist schade um jedes Wort über diese Dinge. Viel besser waren da die gelegentlichen Nachdichtungen eines Siegfried Kapper und Karel Sabina. Noch besser waren die die dichterischen Übersetzungen von Hankas gefälschten Handschriften (V/áclav.A/lois/.Svoboda, Graf J/osef/. M/atyáš/. Thun, Moritz Hartmann, Siegfried Kapper). Aber das alles zählt nichts für die Verpflanzung tschechischer Poesie in deutsches Erdreich.
Das erste Buch wirklicher deutscher Verse aus der tschechischen Dichtung ist Friedrich Adlers Vrchlický-Anthologie (Reclam, 1895). Hier ist der historische Wendepunkt: ein qualifizierter deutscher Dichter gießt tschechische Dichtungen in deutsche Verse um. Und es ist kein Zufall, daß dieser deutsche Dichter ein Prager Jude ist. Denn fast alles, was auf diese Tat folgt und von Belang ist, kommt von Prager deutschen Juden. Zu ihnen ist sinngemäß auch der aus Mittelböhmen stammende deutsche Dichter Camill Hoffmann zu zählen. Die rühmenswerten Ausnahmen betreffen nur Prosa (Z/denko/. Baudniks Labyrinth der Welt von Komenský, C/arl/. Vogls Chelčický, die leider viel zu spärlichen Übertragungen aus Šalda).
Spricht man dann von den weiteren Nachdichterleistungen nach Adlers Vrchlický, ist pragmatisch-historisch vor allem das unermüdlich fruchtbare, opfervolle und hochwertige Wirken Otto Picks zu nennen, der den schwersten äußeren Widerstanden zum Trotz eine ganze Bibliothek gedruckter Übertragungen aus dem Tschechischen zusammengebraucht hat.
Aus der wachsenden Anzahl von Übertragungen im letzten Jahrzehnt, aus den deutschen Aufführungen tschechischer Dramen und Opern (die lyrische Anthologie Weiskopfs vom Vorjahr, die Neuausgabe von Adlers Vrchlický-Buch, die heurigen zwei Bände von Fuchs, die Aufführungen von Dramen der Brüder Čapek, F. Langers, F. Šrámeks, der Opern Janáčeks) wird auf ein steigendes Interesse Deutschlands für Hervorbringungen der tschechischen Kunst geschlossen. Ein arger Fehlschluß: die deutsche Kultur verhält sich heute zu allen positiven Manifestationen des tschechischen Geisteslebens passiv und ablehnend wie nur je (und wenn nicht ablehnend, so doch passiv und ohne Interesse verhält sich zu ihnen auch die übrige europäische Kultur, was nichts gegen die Tschechen besagt, vielmehr nur indiziert, daß die Schaffung eines mehr als bloß geographischen Begriffs „Europa“ noch ihre guten Wege hat). Wenn trotzdem Werke der tschechischen Dichtung in den besten deutschen Verlagen erscheinen (Kurt Wolff, Insel-Verlag, Malik-Verlag), so ist es einmal ein berühmter deutscher Name (etwa Hugo von Hofmannsthal), ein andermal der eiserne Wille des Nachdichters, der den schmerzlich langen Weg vom Schreibtisch in die Druckmaschine zurückzulegen ermöglicht. Wenn trotzdem tschechische Dramen auf deutschen Bühnen aufgeführt werden, ist es das unablässige Bemühen Otto Picks (und die Hoffnung der Theaterdirektoren auf Profit). Wenn trotzdem Janáček gespielt wird, ist es die Frucht der glänzenden propagatorischen Tätigkeit eines Max Brod, der das Gewicht eines akkreditierten Dichternamens jahrelang in den Dienst der guten Sache gestellt hat (daneben natürlich aud die bewußte Hoffnung der Direktoren).
Wesentlich bleibt: die Übersetzertätigkeit aus dem Tschechischen ist erst ab Friedrich Adler eine Angelegenheit der Kunst, daher erst von da ab von einiger Effikazität. Alles bisher (mit den vorerwähnten Ausnahmen) Geleistete geht auf ein paar deutsch-jüdische Dichter aus Prag zurück, die in dieser Mittlung eine schöne Kulturaufgabe erblicken, daneben auch – bewußt oder unbewußt – eine innere Notwendigkeit.
Übersetzungen: Lukáš Motyčka