Es schreibt: Václav Petrbok
(E*forum, 2. 6. 2022)Die Relevanz des häufig angewendeten, breiter aufgefassten Konzepts der xenologischen Studien, d. h. der Erforschung des „Fremden“ in der kulturwissenschaftlichen Perspektive, wird von den Beiträgen des Sammelbands Vorstellungen vom Anderen in der tschechisch- und deutschsprachigen Literatur von unterschiedlichen Sichtweisen beleuchtet. Der Sammelband wurde von Petra James und Helga Mitterbauer von der Universität Brüssel herausgegeben, die Beitragenden bilden ein durchaus internationales Autorenteam (die Studien wurden meist auf deutsch, manchmal jedoch auch auf englisch oder tschechisch abgedruckt). Neben einer breiten Auswahl von methodologischen Perspektiven (postkoloniale Studien, Kulturtransfer, Übersetzungstheorie in soziokultureller Perspektive) begegnet der Leser in der Publikation auch einer großen Vielfalt an analysierten, sowohl auf tschechisch als auch auf deutsch verfassten Werken. Die Herausgeberinnen erklären im Vorwort ihr Ziel, anhand von „elf Fallbeispielen […] wesentliche Meilensteine dieser /deutsch-österreichisch-tschechischen/ Relationen [vom 19. Jh. bis zum 21. Jh. zu] beleuchten“. Der Schwerpunkt liegt allerdings auf der Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg (davon beschäftigen sieben Beiträge sich mit der tschechisch, zwei mit der deutsch geschriebenen Literatur), dem „langen“ 19. Jahrhundert wurden dagegen nur zwei Referate gewidmet – der allgemein konzipierte Beitrag von Peter Deutschmann zum Thema des Sprachnationalismus in den böhmischen Ländern als Produkt von Modernisierungsprozessen, dessen Entstehung, Etablierung und Wirkungen der Autor „mit dem klassischen Tragödienschema“ vergleicht, und der Beitrag von Stefan Simonek, der das ambivalente Verhältnis tschechischer Modernisten zur Wiener Moderne und deren überwiegende Orientierung an der Pariser Literaturszene illustriert. Im letzten Beitrag des ersten, bezeichnenderweise benannten Blocks („Trennung“) macht Jan Budňák auf eine sehr sinnvolle Weise auf die widersprüchliche „Argumentation“ in Strobls Text über die Tschechen aufmerksam, indem er einerseits die nicht-essentialistiche Argumentierung u. a. am Beispiel von Individuen und deren Sprachzugehörigkeit und andererseits die eindeutige Stereotypisierung des „deutschen Wesen[s] in der Geschichte, in der Politik, in der Kunst“ in der Abgrenzung gegen „die anderen“ zeigt.
Im zweiten, Dialog benannten Teil des Sammelbandes entwickelt Thomas Ort eine feministisch orientierte Überlegung über die metaphorische Bedeutung der Handlung in Čapeks Roman Obyčejný život (Ein gewöhnliches Leben, tsch. 1934, dt. 1981), indem er das Schicksal beider Hauptfiguren, des tschechisch-deutschen Paars, einigermaßen waghalsig als eine Parallele zum unerfreulichen Zusammenleben beider Nationen im neuen Staat deutet. Die Persönlichkeit und das Werk von Egon Bondy wurde gleich in zwei Beiträgen zum Gegenstand (Beiträge von Zbyněk Fišer und Gertraude Zand), und zwar als Beispiel für eine differenziertere, provokative Auseinandersetzung mit der deutschen Kultur, sei es anhand der Sprache oder der Poetik beliebter Autoren (z. B. Ch. Morgenstern). Es lässt sich jedoch bezweifeln, ob man Horas Übersetzungen deutsch geschriebener Poesie, die im Laufe des Krieges entstanden sind, genauso interpretieren dürfte (wie Fišer behauptet). Die Hybridität der vermeintlich monolithischen Opposition „zwischen Tschechen und Deutschen“ hinterfragt Anja Tippner glaubhaft in ihrem Text über die deutsch schreibende amerikanische Historikerin Wilma Iggers, die sich mit der jüdischen Geschichte beschäftigt und aus Böhmen stammt und deren Lebensschicksal und Werk die proklamierte „Verflechtung“ beider Sprach- und Kulturräume sehr gut bezeugt. Der Roman Cesta ke hřbitovu von Ota Filip (tsch. 1968, dt. 1968 als Das Café an der Straße zum Friedhof) ist für Anna Gnot ein Beispiel der „Zerspaltung des Bewusstseins des Autors zwischen zwei Kulturen“, deren uneindeutige, kontextuelle Positionen sie anhand von Bhabhas Mimikri-Konzept zu deuten versucht, wobei es allerdings nicht immer klar zu trennen ist, wann sie vom Autor als psychophysischer Person und wann sie von dessen (Selbst-)Projektion im analysierten literarischen Text spricht.
In der letzten Abteilung der Publikation, deren Titel „Vertreibung und Migration“ (vielleicht unabsichtlich) mit dem erwähnten Tragödien-Konzept korrespondiert, thematisiert Karolina Ćwiek-Rogalska die Kontinuität neuester literarischer Repräsentationen der Vertreibung mit älteren belletristischen Werken aus den 1950er und 1960er Jahren und plädiert – wobei man in einigen Fällen die Ausführungen noch vertiefen könnte – für eine folgenreichere Lektüre dieser Texte auch im Kontext der sog. Traumastudien. Xavier Galmiche schreibt über die problematische Rezeption des Familienromans Die Unvollendeten (2003) von Reinhard Jirgl, die er u. a. durch die „Asymmetrie der Netzwerke“ der Gedächtnisinstitutionen auf lokalem Niveau (d. h. in der Komotau-Region) erklärt, die sich in diesem Fall auf die Reduktion des literarischen Werkes zum Zeitdokument beschränkten. Laut Helga Mitterbauer gelang es dem österreichischen Autor mit tschechischen Wurzeln Michael Stavarič dagegen, seine spezifische individuelle Position in seinem sprachlich sowie strukturell experimentellen Roman mit einem mehrdeutigen Titel Gotland (dt. 2017) über das Mutter-Sohn-Verhältnis durchaus zu literarisieren.
Wie es der Übersicht zu entnehmen ist, verfolgten die AutoriInnen der Beiträge die „Imaginationen und Interrelationen“ im tschechisch-deutsch-österreichischen literarischen Kontext eher im Bereich der Interpretation einzelner Werke neuerer Literatur konsequenter. Ob die jeweiligen Fallstudien als deklarierte „Meilensteine“ für die Deutung des tschechisch-deutsch-österreichischen (Nicht-)Zusammenlebens zu verstehen sind, ist allerdings nicht klar; der erwähnte interne Aufbau des Sammelbandes kann uns zwar ein Indiz geben, wie diese Textsammlung angesichts des proklamierten Ziels wahrzunehmen wäre, trotzdem bin ich von dem behaupteten repräsentativen Charakter der jeweiligen Analysen nicht völlig überzeugt, v. a. vermisse ich die Begründung dafür, warum just die benutzten Beispiele ausgewählt wurden. Genauso überrascht oft auch das Missverhältnis zwischen den theoretischen, literatur- bzw. kulturhistorischen Ausführungen einerseits und der dadurch inspirierten Interpretationen konkreter Werke andererseits. Diese Vorbehalte sollen allerdings die Reihe von neuen, oft überraschenden und nicht selbstverständlichen Feststellungen über „uns“ und die „anderen“ nicht anzweifeln, wie gerade die Belletristik sie dank ihres imaginativen Potenzials und mittels ihres mimetischen und Sozialisierungscharakters zu vermitteln vermag.
Übersetzung: Lukáš Motyčka
Petra James / Helga Mitterbauer (Hg.): Vorstellungen vom Anderen in der tschechisch- und deutschsprachigen Literatur: Imaginationen und Interrelationen. Berlin: Frank & Timme, 2021, 252 S.