Es schreibt: Štěpán Zbytovský

(21. 4. 2022)

Das Buch Neusachliche Verhaltenslehren in der Prager deutschen Literatur (2020) von Adéla Grimes entstand als Dissertationsschrift an der Germanistik der Universität Olomouc. Es beschäftigt sich mit drei vielleicht nicht ganz unbekannten, aber doch selten eingehend analysierten und interpretierten Romanen – Malenski auf der Tour von Otto Roeld (bürgerlich Rosenfeld), Kinder einer Stadt von Hans Natonek und Blanche oder Das Atelier im Garten von Paul Kornfeld. Die Autorin kontextualisiert die Romane, von denen übrigens noch keiner ins Tschechische übersetzt wurde, im Rahmen der Ästhetik und Anthropologie der sog. Neuen Sachlichkeit, die in ihrer Beziehung zur deutschen Literatur der böhmischen Länder bislang nur am Rande betrachtet wurde.

 

Die Gliederung des Buches ist sachlich logisch und übersichtlich. Grimes führt zunächst in die grundlegenden Züge der Neuen Sachlichkeit als künstlerisches Programm und in die damit zusammenhängenden Gesellschaftskonzepte ein – dabei bezieht sie sich auf Schlüsseltexte der Literatur zu diesem Thema, von zeitgenössischen Kommentaren und Kritiken bis zu den Arbeiten von Wieland Schmied und besonders Martin Lindner und Sabina Becker. In drei Hauptkapiteln geht sie dann jeweils auf einen Autor und seinen Roman ein. Auf einen biografischen Überblick folgt jeweils ein Abschnitt zu einem „dazugehörigen“, für die Romaninterpretation zentralen Aspekt des typisch neusachlichen Menschen- und Gesellschaftsbildes: Bei Roelds Roman ist dies ein neuer Begriff von Arbeit und Angestelltentum sowie das Phänomen des Dienstreisenden (S. 46–56), bei Natoneks Roman ist es der Sport als „neue Religion“ (S. 117–134), bei Kornfelds Roman schließlich die partnerschaftliche Liebe und das Bild der „Neuen Frau“ (S. 188–197). Zu Beginn der Untersuchung des Romans selbst stehen immer Informationen zur vorhandenen Sekundärliteratur, zur Entstehungsgeschichte und dem Widerhall in der Kritik, anschließend folgen informative und prägnante Beschreibungen des Aufbaus und der Erzählkonstellation, der Funktion des erzählten Raums und der Konstellation und Entwicklung der Figuren. Das Pendant zu den erwähnten beispielhaften Aspekten der neusachlichen mentalen Konstitution stellen dann Analysen der zentralen Motivfelder und Topoi der Romane dar. Zunächst geht es um die Darstellung moderner Arbeitsverhältnisse, der Erfahrungen von Geschäftsleuten, um Schlachthäuser als Gesellschaftsmetapher und den motorisierten Verkehr und die Mobilität in Malenski auf der Tour (S. 67–101). Bei den Kindern einer Stadt fungiert der Sport als Verhaltensmodell der Protagonisten nicht nur im sportlichen Kontext, sondern auch im Krieg und im (journalistischen) Arbeitsumfeld (S. 151–178), und im Falle von Blanche bekommt die Schilderung der weiblichen Charaktere besondere Aufmerksamkeit, die zweifellos im Widerspruch steht mit der zeitgenössischen Vorstellung von der „Neuen Frau“ und ihrem männlichen Gegenüber (S. 214–261). Während Roelds episodischer Roman über den Dienstreisenden Malenski hierbei letztendlich als ein Text interpretiert wird, der eindeutig und sozusagen affirmativ die „Verhaltenslehre der Kälte“ (S. 102) schildert und in den hauptsächlichen Parametern der erzählerischen Ästhetik der Neuen Sachlichkeit entspricht (S. 103), wird bei Natonek eine Verwendung der „Verhaltenslehre des Sportes“ indiziert, welche seine Protagonisten nur teilweise erfüllen, im Sinne der Leistungssteigerung und Willensstärkung, nicht jedoch im moralischen Sinne des Respekts für die Grundlagen des Fair Play und der Chancengleichheit (S. 179). In Kornfelds Roman über die verträumte Blanche schließlich wird laut der Verfasserin „ex negativo überprüft, welche Konsequenzen ein solches Leben, das nicht im Einklang mit der zeitgenössischen neusachlichen Lebenseinstellung geführt wird, haben kann“ (S. 199), und zugleich versuche Kornfeld die Einseitigkeit des neusachlichen Konzepts der „kalten persona“ (S. 263) zu überwinden.

 

Diese Interpretationen und Thesen werden mit mal hohem, mal weniger hohem Grad an Differenziertheit, argumentativer Souveränität und Überzeugungskraft formuliert – aber an keiner Stelle lässt sich grundlegend an der Relevanz und Berechtigung bezüglich des angelegten Interpretationskonzepts rütteln. Interessant sind außerdem einige Besonderheiten am Rande wie der Hinweis auf die bildliche Anspielung des Covers einer Neuausgabe von Roelds Roman (1987) auf das Cover des berühmten Romans Death of a Salesman (1949) von Arthur Miller. Als Zusammenstellung von Abhandlungen über die drei Romane ist das Buch zweifellos äußerst gewinnbringend. Seine schwächere Seite ist leider die im Titel angedeutete doppelte Rahmung, durch welche die drei Teile in einem Zusammenhang stehen sollen.

 

Als weniger problematisch betrachte ich das erste der beiden Elemente – die Bezugnahme auf die Neue Sachlichkeit und in ihrem Zusammenhang auf die Ebenen der Mentalität, der Gesellschaftsreflexion und der gesellschaftlichen Position des Individuums. Das umfangreiche Thema musste sehr knapp zusammengefasst werden, hier und da geschieht dies vielleicht auf etwas unübersichtliche Art und Weise. Das Einleitungskapitel setzt sich zum Ziel, den Begriff der „Sachlichkeit“ als Teil des zeitgenössischen Diskurses und den der „Neuen Sachlichkeit“ als historischen Stil zu klären. Es ist sicher nicht die Aufgabe dieses Buches, zu erfüllen, was schon andere leisteten (insb. Becker) – nämlich detailliert den programmatischen Diskurs der Neuen Sachlichkeit aufzuschlüsseln. Die Zusammenfassung der hauptsächlichen Charakteristika in der allgemein angenommenen Typologie der Epoche (ohne sie zu problematisieren) schwankt allerdings ein bisschen zwischen ausgewählten Zitaten von Zeitzeugen und Auflistungen der Merkmale in Gesellschaft, Kultur und Literatur, sodass die inhaltliche Linie der Ausführung mancherorts nicht ganz klar ist. So geht Grimes in einem der Unterkapitel des ersten Teils, Architektur und Soziologie der Großstadt, zunächst auf die Verwendung des Wortes „sachlich“ in Georg Simmels Die Großstädte und das Geistesleben (1903) ein, dann auf Forderungen aus einem programmatischen Text des Funktionalisten Bruno Taut (Die neue Wohnung, 1924), dann auf die Charakterisierung der neusachlichen Literatur, wie sie Martin Lindner formulierte, woraufhin sie zu Adolf Loos zurückkehrt und zu den Bauhausarchitekten übergeht, zu einem erweiterten Bild der Großstadt in den „goldenen Zwanzigern“ und zu Döblins Blick auf Berlin als moderne Stadt. So ergibt sich eine Zusammenstellung, die eher anekdotisch die Verbreitung der entsprechenden Charakterisierungen der menschlichen Lebenswelt belegen, ohne dass die Unterschiede zwischen den Kontexten der zitierten Äußerungen klar benannt würden, geschweige denn die Nuancen zwischen „Sachlichkeit“, „Auskühlung“ (S. 17), „Alltag“ oder der „realitätsnahen und wahrhaftigen“ (S. 18) Beschreibung. Das „hedonistische Nachtleben“ (S. 18) wird als Bestandteil der verbreiteten Wahrnehmung der zeitgenössischen Metropolen in den Ausführungen erwähnt, aber die Frage nach dem Verhältnis dieses Phänomens zur untersuchten Sachlichkeit wird nicht gestellt. Auch könnte zwischen den Paraphrasen aus dem zeitgenössischen Diskurs über die Programmatik und den Haltungen der späteren, interpretierenden Stimmen deutlicher unterschieden werden; Sabina Becker reflektiert etwa darauf, dass sich einige Vertreter der Neuen Sachlichkeit zu Beginn als „neue Naturalisten“ bezeichneten, formuliert jedoch nicht – wie die Autorin impliziert – die literaturwissenschaftliche These, die Neue Sachlichkeit sei die letzte Phase des Naturalismus (S. 22).

 

Den Ausgangspunkt für die vorgenommene Definition der neuzeitlichen Ethologie respektive der Verhaltenslehren, auf deren Spuren sich Grimes in ihren Romananalysen begibt, bildet die Studie Verhaltenslehren der Kälte (1994) von Helmut Lethen, der den Begriff der „Schamkultur“ (zuvor bereits u. a. von Ruth Benedict verwendet) auf die Kultur und Gesellschaft der Weimarer Republik anwandte, während für die vorhergehende expressionistische Dekade die „Schuldkultur“ kennzeichnend sei. Hier kann hervorgehoben werden, dass Lethen sich bei dieser Typologie auf eine Analyse der philosophischen, psychologischen, soziologischen und anthropologischen Texte jener Zeit stützt, unter denen Helmuth Plessner die Rolle eines Kronzeugen übernimmt. Dessen Anthropologie aus den 20er Jahren wird von Grimes ziemlich versteckt im Zusammenhang mit der Konkurrenz zwischen dem natürlichen und dem mechanischen Verständnis vom menschlichen Körper erwähnt, und zwar in Bezug auf Romane über den Sport (S. 132), sie hatte jedoch zweifellos eine größere Reichweite und ist für alle behandelten Romane relevant (hierzu vgl. z. B. Wolfgang Eßbach et al. [Hg.]: Plessners ‚Grenzen der Gemeinschaft‘. Eine Debatte, Suhrkamp, 2002).

 

Der oben formulierte Kritikpunkt bezieht sich mithin vor allem auf den literaturhistorischen Rahmen der „Prager deutschen Literatur“. Diese figuriert unter anderem als literarisches Territorium, auf welchem die Neue Sachlichkeit außerhalb der Grenzen Deutschlands zur Geltung gekommen sei. Grimes merkt an, dass noch zu Beginn der 30er Jahre vor der Machtergreifung Hitlers in Deutschland eine Reihe neusachlicher Romane erschienen waren, und dass sie nach dem „Ende“ dieser Literatur noch in der Tschechoslowakischen Republik erscheinen konnten (S. 19); auch sollte das allgemeine Bild der Zusammenhänge dieser Strömung sicherlich im breiteren Kontext verankert werden, durch Verweise auf die österreichische Literatur bis 1938 und die Kontinuitäten der neusachlichen Ästhetik nach dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in diesen Ländern. Beides wird zum Beispiel durch das Werk Rudolf Brunngrabers belegt, der nur flüchtig in einer Aufzählung erwähnt wird. Diese wird übrigens abgeschlossen mit der bezeichnenden und in verschiedenen Modifikationen wiederholten Formel „Eine Erwähnung verdient auch…“ (der Roman Jas, der Flieger August Scholtis; S. 21). Doch nun zurück zur „Prager deutschen Literatur“.

 

Nicht nur (aber auch) die Bezeichnung des Malenski als „Prager Roman“ (S. 28), gegen die sich Einwände erheben ließen (thematisch handelt es sich hier sicher nicht um einen Roman über die Stadt Prag), führt zur Frage nach dem Begriff der „Prager deutschen Literatur“, der im Titel des Buches und in einer Kapitelüberschrift platziert ist. Obwohl Grimes das Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder (2017) zitiert und dessen Anregung zur „Neuvermessung“ dieses literarischen Territoriums auch abstrakt erwähnt, positioniert sie sich selbst in keiner Weise zur Kritik am Begriff der „Prager deutschen Literatur“, die nicht nur von Autoren dieses Kompendiums formuliert wurde. Sie legt zugrunde, es werde in der Verhandlung über diesen (keiner Reflexion unterzogenen) Gegenstand weiterhin der Schwerpunkt auf die Etappen vom Aufkommen der Moderne bis zum expressionistischen Jahrzehnt und dem sogenannten „Prager Kreis“ gelegt, während aber die hier behandelten Autoren und Texte Opfer der „Ausgrenzung“ (S. 29) der Neuen Sachlichkeit aus diesem literarischen Bereich seien. Es ist dabei jedoch nicht ganz klar, woraus sie ausgegrenzt wurden, und so wird auch der Wert der Korrektur dieses Fehlers nicht deutlich – denn es ist nicht klar, wie die Autorin die „Prager deutsche Literatur“ begreift (und ob sie diese Bezeichnung überhaupt braucht). Es lässt sich auch nicht implizit aus den Kriterien für die Auswahl der Romane schließen, die die bereits zuvor dargelegte Auswahl der Texte (S. 28f.) ex post legitimieren sollen (S. 33f.), denn außer der „formalen und/oder thematischen“ Zugehörigkeit zur Neuen Sachlichkeit (Kornfelds Roman wird eher als ihr „Vexierspiegel“ bezeichnet, vgl. die Überschrift des Kapitels S. 198–269) und der Entstehungszeit um das Jahr 1930 legt sie eben zugrunde, jeder ausgewählte Autor „lässt sich“ (S. 33) zur deutschen Literatur Prags zählen – dabei meidet sie aber zum Beispiel die Frage, inwiefern bzw. nach welchen Kriterien auch Natoneks Roman, der zwanzig Jahre, nachdem der Autor Prag verlassen hatte, erschien (S. 108), zur „deutschen Literatur aus Prag“ oder zu den „Prager deutschen Romanen“ gehört. Die Begründung, dass Natonek kurz darauf nach Prag zurückkehrte, führt hier eher in die Irre, da Natonek nach knapp vier Jahren Prag erneut und für immer verließ. Kornfelds Roman wiederum entstand nachweislich nach seiner Rückkehr nach Prag, ab dem Jahr 1933; um ihn näher an die genannten Auswahlkriterien heranzurücken wird erwähnt, Kornfeld habe daran wahrscheinlich schon ab 1927/28 gearbeitet (S. 202; die Quelle für diese Information ist nicht angegeben; Margarita Pazi führt sie in ihrer Arbeit Fünf Autoren des Prager Kreises als mündliche Mitteilung von Ludwig Marcuse an). Neben diesen offensichtlichen Unterschieden zwischen den Bezügen der behandelten Romane zur deutschsprachigen Literatur in Böhmen (wie man sie nun auch immer definiert) lässt sich im Buch keine Aussage darüber finden, welchen Ort die Neue Sachlichkeit allgemein und über den Rahmen dieser drei Romane hinaus in der „Prager deutschen Literatur“ erhalten sollte, und ob es hier (außer beim zitierten Max Brod) zu einer literaturkritischen Reflexion oder zu Diskussionen über die Neue Sachlichkeit kam.

 

Wenn das Buch die These vertritt, dass die Neue Sachlichkeit aus dem Gesamtbild der deutschen Literatur in Böhmen oder der „Prager deutschen Literatur“ verdrängt worden sei, dann wäre es angebracht im Fazit zu diskutieren, auf welche Weise sich dieses Gesamtbild nach der Einbeziehung der neusachlichen Werke nun verändern würde. Das Fazit beschränkt sich jedoch auf eine (übrigens übersichtliche und hilfreiche) Zusammenfassung der Interpretationen der einzelnen Romane und die Empfehlung weiterer, die sich in die Neue Sachlichkeit der böhmischen Länder eingliedern ließen. Die einzelnen Studien zu Roedl, Natonek und Kornfeld verdienen jedoch Aufmerksamkeit, ebenso wie die behandelten Romane selbst, und beweisen u. a. die enge (wenn auch teils kritisch ausgerichtete) Bindung des Werks dieser Autoren an den literarischen Diskurs in Deutschland.

 

Übersetzung: Lena Dorn

 

 

Adéla Grimes: Neusachliche Verhaltenslehren in der Prager deutschen Literatur. Olomouc: FF UP, 2020, 292 S.


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