Es schreibt: Václav Maidl
(19. 1. 2022)Seit längerer Zeit verfolge ich das gesteigerte Interesse an der Geschichte tschechischer Regionen sowie deren Kultur. Es betrifft auch das Inland, im Falle der ehemals von Deutschen bewohnten Grenzgebiete sticht dieses Interesse allerdings bereits ins Auge. Es widerspiegelt sich in den Texten auf Informationstafeln, in der Gestaltung neu eröffneter Naturlehrpfade sowie in vielen Bücher- und digitalen Projekten (zu nennen sind beispielsweise die Webseite Kohoutí kříž / `s Hohnakreiz der Südböhmischen wissenschaftlichen Bibliothek [Jihočeská vědecká knihovna] in Budweis oder die Rubrik Sudetský tulák [Auf Wanderung im Sudetenland] auf dem Internetportal novinky.cz). In ihrer Textsammlung Rovinám rodným náleží písně mé [Den Ebenen der Heimat widme ich meine Lieder] erinnerte Lenka Kusáková so etwa an Camill Hoffmann, die Gebrüder Janowitz und Rudolf Fuchs. Der Víkend-Verlag zögerte nicht, die Memoiren der Böhmerwälder Autorin Rosa Tahedl herauszubringen, wenn auch mit einem neutral gewählten Titel Svědectví z poválečné Šumavy [Zeugnisse aus dem Nachkriegs-Böhmerwald] (die wortwörtliche Übersetzung des Originals „Dřevorubkyně ve stínu rudé hvězdy“ [Die Holzfällerin im Schatten des Roten Sterns] hätte wahrscheinlich etwas provokativ geklungen). Die zweisprachige Publikation Šumava poetická a kouzelná / Der Böhmerwald, seine Poesie und Magie, von Gernot Peter und dem Fotografen Petr Moravec vorbereitet, mit den Übersetzungen von Jan Mareš, bringt die Verse von Johann Peter. In Vorbereitung ist die Übersetzung des Romans Bibel und Jesuit (Bible a jezuité) von Anton Schott. Gearbeitet wird ferner an einer bibliophilen Ausgabe aus dem Werk Gustav Leutelts, des Barden des Isergebirges.
Im Kontext dieser Wiederentdeckungen unserer „deutschen Vergangenheit“ lässt sich auch die tschechische Ausgabe des Buches Žena v polární noci von Christiane Ritter (mit dem klarstellenden Untertitel Rok na Špicberkách) betrachten. Das Buch erschien 1938 und die Karlsbaderin gab der Erzählung aus dem unwirtlichen Norden den etwas dramatischeren Titel Eine Frau erlebt die Polarnacht. Die Handlung schildert die faszinierenden Erlebnisse einer Frau, die der Aufforderung ihres Mannes, eines Polarjägers, Folge leistete und mit ihm und einem anderen Jäger ein Jahr in einer kleinen Hütte auf der Insel Spitzbergen (die westlichste Insel des gleichnamigen Archipels) verbrachte. Das Buch erschien zu einer ungünstigen Zeit und in den Wirren des Zweiten Weltkrieges wurde es nicht beachtet. Im Nachkriegsdeutschland wurde es allerdings sehr populär (bis heute gibt es 22 Ausgaben); der Durchbruch im Ausland gelang mit der französischen Übersetzung im Jahre 1952, in den 1950er Jahren folgte noch eine britische und amerikanische Ausgabe. Auf Spanisch erschien das Buch 1964 in Mexiko, zwei Jahre später konnten es auch die Leser in der Tschechoslowakei lesen (allerdings auf Slowakisch) und 1967 kam auch eine bulgarische Version hinzu. Soweit die deutsche Wikipedia. Anfang der 1980er Jahre erwähnte Josef Mühlberger, allerdings ohne nähere Angaben, das Buch sei sogar in 18 Sprachen übersetzt worden. Dazu kam beinahe nach 40 Jahren im Jahre 2018 die niederländische Variante, 2020 entstand dank der Übersetzerin Viola Somogyi endlich auch die tschechische Übersetzung. Dass der Text von Christiane Ritter heute noch hohe Wellen schlagen kann, davon zeugt das Buch der norwegischen Autorin und Journalistin Sigri Sandberg Mørke – stjerner, redsel og fem netter på Finse (dt. als Dunkelheit: Eine Liebeserklärung an den Nachthimmel, 2022), in dem es viele Paraphrasen aus dem Buch Eine Frau erlebt die Polarnacht gibt (mehr dazu in der Besprechung von Marie Voslářová Zírat do prázdnoty [In die Finsternis starren], erschienen auf dem Kulturportal A2 am 2. 12. 2020, in der sie sich beiden Publikationen widmet).
Man sollte sich nun die Frage stellen, was den Text auch achtzig Jahre nach dem Erscheinen für die Leser noch so attraktiv macht. Höchstwahrscheinlich wird es nicht nur an der außerordentlichen Naturlandschaft liegen, die beschrieben wird, und es wird nicht nur mit den abenteuerlichen, an eine Robinsonade erinnernden Situationen zusammenhängen, die allerdings sehr spezifisch sind, da beinahe die Hälfte der Handlung ohne Tageslicht auskommen muss. In den letzten achtzig und insbesondere in den letzten zwanzig Jahren veränderte sich unser Planet dank des Internets und der Sattelitentelefone gravierend, als ob er wesentlich geschrumpft wäre, und das Alleinsein in den arktischen oder antarktischen Gefilden scheint nicht mehr so absolut zu sein. Auch die Ausrüstung und Kleidung haben sich seitdem ungeheuerlich verbessert – das Risiko, unter extremen Bedingungen nicht zu überleben, scheint heute ein niedrigeres zu sein (die Toten von unterhalb des Mount Everest warnen uns allerdings jedes Jahr). Deshalb mag wohl die Erzählung aus den Zeiten umso mehr faszinieren, als der Mensch nur auf sich selbst angewiesen war, auf seine körperliche Tüchtigkeit, auf seine Handfertigkeit und Erfahrungen (sowie auf eine gehörige Portion Glück – diese Voraussetzung gilt allerdings bis heute).
Der Text mag die Leser jedoch auch bloß mit seiner Geschichte anziehen: eine junge, unerfahrene Frau begibt sich in ein Umfeld und in eine Landschaft, in der die Wahrscheinlichkeit zu überleben nicht besonders hoch ist und die (wie der Titel des Buches verrät) bis zu diesem Zeitpunkt für Männer vorbehalten war (aus der Perspektive einer Mitteleuropäerin, die die Frauen der Lappländler nicht registrierte). Auch hier kann man die Wandlung der Gesellschaft innerhalb von 80 Jahren verfolgen: Was in den 1930er Jahren für außergewöhnlich hätte gehalten werden können („Freilich musste ich immer wieder hören, dass es ein hirnverbrannter Blödsinn sei, als Frau in die Arktis zu gehen.“), wird heutzutage als durchaus üblich angesehen (die heutzutage übliche Teilnahme der Forscherinnen an Polarexpeditionen stellt kein besonderes Ereignis dar – es sind die Ergebnisse der Forschung, die zählen). Aus der Perspektive der Gender-Verhältnisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts könnte man sich jedoch fragen, ob das Telegramm des Ehemannes „Lass alles liegen und stehen und folge mir in die Arktis!“ als eine althergebrachte Dominanz des Ehemannes zu verstehen sei (im Sinne, dass „die Ehefrau ihrem Ehemann überallhin folgt“), oder ob es sich um eine Herausforderung an eine Partnerin handele, von der der Ehemann wusste, dass sie Abenteuergeist besaß und der er es gerne ermöglich hätte, all das, was er selbst erlebte, auch zu erleben. Christiane Ritter vereinigt beides in ihrer Person. Die Landschaft der Arktis, durch die Briefe und Tagebucheinträge ihres Mannes vermittelt, zog sie an, und sie war zugleich eine Ehefrau, die ihren Mann respektierte. Jedoch nicht deshalb, weil er ihr Mann war, sondern wegen seiner Fähigkeiten und Erfahrungen, die es ihm ermöglichten, in einem so extremen Umfeld zu überleben. Ihr Dankeswort am Anfang des Buchs klingt daher gar nicht formal: „Mein Dank gilt meinem Mann, der mit seiner Geduld und Erfahrung der denkbar beste Kamerad in der Polarwelt war. Er vereinigte beides in sich, den Instinkt des arktischen Naturmenschen und die geistige und seelische, auch künstlerische Durchbildung eines Europäers.“
Bei aller Anerkennung der Fähigkeiten ihres Mannes verliert sie jedoch die kritische Sichtweise und eigene Selbstständigkeit nicht. Mit einem leicht ironischen Abstand, der sich bereits im Titel des ersten Kapitels ankündigt (Die ersten Tage in der Wildnis oder Ein typischer Männerhaushalt, im Inhaltverzeichnis gekürzt Die ersten Tage in der Wildnis) schildert sie den Schock der europäischen Dame aus einer „besseren Familie“, den der Anblick einer primitiv eingerichteten und nicht aufgeräumten (!) Hütte, die für ein Jahr ihr Zuhause werden sollte, verursachte. Während der hier verlebten Zeit lernte sie das Leben in der Arktis kennen, sie durchdrang seine Geheimnisse und passte sich dem Lebensstil vor Ort an. Sie reflektiert dies im Schlusskapitel auf dem Deck des Schiffs, das sie zurück nach Europa bringt („Nein, die Arktis gibt ihr Geheimnis nicht her für den Preis einer Schiffskarte“), zugleich wird sie sich ihrer neuen Andersartigkeit bewusst: „Etwas fremd sitzen wir im Speisesaal zwischen den Passagieren, die so poliert und gebügelt sind und sich brav unterhalten.“
Die Erzählung von Christiane Ritter zeigt, dass sie eine gute Beobachterin war, die ebenso das Ganze wie das winzige, allerdings sehr vielsagende Detail erfassen konnte. Da sie mehrere Kunstschulen besuchte (in Wien, München, Berlin), mag es nicht verwundern, dass sie ein Auge für Farben und deren Valeurs hatte, dass sie die Prägung der Landschaft und die Gestalt der Eisschollen genau wahrnahm, genauso wie den immer seltener werdenden Sonnenschein und dessen Auswirkung auf menschliche Sinne und das menschliche Gemüt. Eine extreme Situation (als beide Jäger auf eine Expedition gehen, ist die Autorin gezwungen, mehrere Tage in der Hütte allein zu verbringen, darüber hinaus während eines Schneesturms) führt sie zu ihrem Selbst, zum wahren Kern des Lebens, sie unterscheidet zwischen dem Wesentlichen und Entbehrlichen, grübelt über den Sinn des menschlichen Lebens angesichts des Weltalls. Sie erlebt kritische Augenblicke, in denen man „[m]it Entsetzen ohnegleichen in seine eigene abgrundtiefe Leere [schaut]“, das sie allerdings mit Hilfe der Zuversicht überwinden kann, dass es eine höhere Macht gebe. Andernfalls wäre sie wahrscheinlich verzweifelt, hoffnungslos und wahnsinnig geworden.
Der Leser wird möglicherweise überrascht werden, dass die Autorin sich sehr wenig an ihre Heimat erinnert, wo sie ihre kleine Tochter in der Obhut ihrer Eltern überließ, sowie die „Abkapselung“ von den Ereignissen in Europa (wenn auch die Bewohner der Hütte einigermale mit einer großen Verspätung Post und Zeitungen erhalten). Dass es nur Anzeichen gibt, oder die erwähnte Nähe zur Heimat völlig ausbleibt, hat einen Grund – erstens wird so das Gefühl der Vereinsamung verstärkt, zweitens ist das Leben in der Öde sehr anstrengend und fordert praktisch alle Kräfte, eine allzu intensive Gebundenheit an die Heimat würde einen daher nur schwächen.
Man kann ein wenig bedauern, dass der Portál-Verlag die Aquarelle und Zeichnungen der Autorin aus der Originalausgabe nicht übernahm. Auch wenn insbesondere die Zeichnungen von einer geschulten Malerin und Illustratorin etwas naiv anmuten, hätten die Leser trotzdem anhand dieser die Unterschiede zwischen einer Darstellung durch Bild oder Wort verfolgen können. Andererseits wird die tschechische Ausgabe um die Karte der Insel Spitzbergen ergänzt, auf der die Hütte der Polarjäger sowie andere, fürs Überleben wichtige Schutzhütten markiert sind – die im Text erwähnten Orte konkretisieren sich somit für den Leser bedeutend. Positiv muss auch das Nachwort der Übersetzerin erwähnt werden, in dem der Leser über das weitere bewegte Schicksal des Ehemannes von Christiane Ritter im Laufe des Zweiten Weltkriegs auf der Wetterstation der Wehrmacht in der Nähe Grönlands und dann im amerikanischen Kriegsgefangenenlager informiert wird (vom Leben der Autorin nach ihrer Rückkehr von der Insel weiß man wesentlich weniger).
Abschließend möchte ich noch auf ein Phänomen aufmerksam machen, in dessen Zusammenhang man das Buch auch sehen könnte. Es ist seltsam, wie viele Mitteleuropäer in den letzten zwei Jahrhunderten von den unwirtlichen Nordgegenden angezogen wurden. Viele von ihnen verarbeiteten ihre Erfahrungen und Erlebnisse zum Buch. Von denen, die aus den böhmischen Ländern kamen, nennen wir Jan „Eskymo“ Welzel, Julius Payer (für E*forum 21. 4. 2021 schrieb Mirek Němec über seine auf Tschechisch neuverlegten Tagebücher) oder František Běhounek. Unter dem Begriff „čeští polárníci“ [Polarforscher aus den böhmischen Ländern] verzeichnet die tschechische Wikipedia insgesamt 17 Persönlichkeiten, durchweg Männer. Mit Christiane Ritter kommt eine weibliche Stimme in diese Gesellschaft, sie würde es bestimmt verdienen, in diese Gruppe aufgenommen zu werden.
Übersetzung: Lukáš Motyčka
Christiane Ritter: Žena v polární noci. Rok na Špicberkách. Praha: Portál, 2020, 200 S.