Es schreibt: Václav Maidl
(9. 6. 2021)Im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschien im Jahr 2018 das Buch Heinrich Böll. Der Panzer zielte auf Kafka, Untertitel Heinrich Böll und der Prager Frühling. Das war ein Jahr nach Bölls hundertstem Geburtstag und fünfzig Jahre, nachdem der Autor zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn René den Einmarsch der sowjetischen Truppen erlebt hatte, sozusagen „in Liveübertragung“, denn er verbrachte auf Einladung des damaligen Verbandes der tschechoslowakischen Schriftsteller die Tage vom 20. zum 25. August 1968 in Prag.
Wer sich wundert, wie aus dem elfseitigen Artikel, der Ende August 1968 im Spiegel erschien, ein über zweihundert Seiten starkes Buch werden konnte, der sollte dem Untertitel seine Aufmerksamkeit zuwenden. Das Buch enthält nämlich nicht nur den titelgebenden Text, mit Anmerkungen bestückt, sondern auch einen weiteren Text, der sich auf die Erfahrungen des Einmarsches vom August beziehen, veröffentlicht unmittelbar danach, Anfang September 1968, in der schweizerischen National-Zeitung unter dem Titel Ein Brief aus Prag, sowie alle Interviews, die Böll als Augenzeuge der Ereignisse nach seiner Rückkehr für westdeutsche Medien gab. Außerdem wird in diesem Buch neben den „finalen“ Texten auch erstmals ihr „Substrat“ veröffentlicht, das, worauf sich diese „finalen“ Texte stützen konnten und woraus sie entstanden waren: Bölls Notizen der fünf Augusttage, die er in Prag verbrachte. Da es sich dabei um ein Originaldokument handelt, sind die Notizen neben den Abschriften (inklusive markierter unleserlicher Stellen) auch als Faksimile abgedruckt und durch einen sorgfältig erstellten Anmerkungsapparat ergänzt, der vor allem den damaligen tschechoslowakischen Kontext erläutert und der nicht nur für deutsche Leserinnen und Leser, sondern auch für die tschechischen, die nicht gerade Historikerinnen und Historiker sind, unbedingt gewinnbringend ist. Dokumentarischer Charakter wird dem Buch zudem durch die zahlreichen Fotografien von René Böll verliehen, die der Zwanzigjährige damals, teilweise unter einigermaßen turbulenten Bedingungen, anfertigte (siehe etwa die Episode, als ihm sowjetische Soldaten auf dem Altstädter Ring seinen Fotoapparat abnehmen wollten). René Böll schrieb für das Buch auch eine Einleitung mit einem persönlichen Rückblick auf jene Tage.
Das Buch ist jedoch nicht nur ein Produkt von Vater Schriftsteller und Sohn Fotograf. Der erwähnte dokumentarische und sachliche Charakter wird ergänzt durch einen Essay von Martin Schulze Wessel, Heinrich Böll und der Prager Frühling, der die einzelnen Strömungen des Prager Frühlings im europäischen Kontext erläutert, sowie einen Beitrag des Böll-Biografen Jochen Schubert, Der Geist der Unteilbarkeit, in dem er vor allem auf Bölls Beziehung zur Tschechoslowakei und ihrer Kultur sowie auf die dortige Rezeption seines Werks eingeht. Als Ausgangspunkt für dieses Thema und zugleich roter Faden der Interpretation dient dabei Bölls Freiheitsbegriff, eine für ihn zentrale Kategorie, und zwar nicht nur in seinem Denken, sondern auch im praktischen Leben (man denke etwa daran, wie die Pianistin Jaroslava Mandlová in Bölls Auto 1961 aus der Tschechoslowakei geschmuggelt wurde).
Der Blick von „anderswo“ auf den „eigenen“ Zusammenhang ist oftmals mit Überraschungsmomenten verbunden. So verwundert uns manches Mal eine Offensichtlichkeit, die wir notorisch übersehen (eben weil sie offensichtlich ist), ein anderes Mal ist es ein anderes Akzentuieren von Sachverhalten, das erstaunen kann. Das stellen wir zum Beispiel beim Lesen des Anmerkungsapparates fest. So steht zum Beispiel in der Charakterisierung Eduard Goldstückers, er sei ein „britisch-tschechoslowakischer Diplomat und Literaturwissenschaftler“ gewesen, und es wird an die von ihm initiierte Konferenz in Liblice 1963 erinnert, die sich dem Leben und Werk von Franz Kafka widmete. Für die beschriebene Zeit und gerade in Hinblick auf Bölls offizielle Einladung durch den tschechoslowakischen Schriftstellerverband würde ich es jedoch bei Goldstücker zudem für einen relevanten Hinweis erachten, dass er in jener Zeit Vorsitzender dieser Organisation war. Demgegenüber wird aber die hier erwähnte Beteiligung Goldstückers am Band zu Bölls fünfzigstem Geburtstag heute in Tschechien ansonsten nur selten registriert. Ein anderes Beispiel: Über Jiří Mucha erfahren wir, er sei Schriftsteller, Journalist und Dramatiker gewesen, was eine prägnante und korrekte Beschreibung ist, jedoch würde ein Tscheche hier gleichsam automatisch hinzufügen, dass er außerdem der Sohn von Alfons Mucha war. Diese doppelte Perspektive lässt sich auch andersherum aufzeigen: Beim Lesen des letzten Satzes eines der abgedruckten Protestplakate, „Svoboda ist nicht Hácha, die anderen Genossen sind nicht Moravec!!!“ [„Svoboda není Hácha, ostatní soudruzi nejsou Moravcové!!!“], benötigen die meisten tschechischen Leserinnen und Leser keine Erklärung dazu, wer Hácha und Emanuel Moravec waren, während die deutschen die hier fehlende Erklärung sicherlich begrüßt hätten und sie dadurch um eine weitere Schicht der historischen Erfahrung der Tschechinnen und Tschechen bereichert worden wären. Die Abwesenheit einer Erläuterung zu dieser Stelle im ansonsten sorgfältig ausgearbeiteten Anmerkungsapparat ist fast überraschend; auch hätte es sich bei Manfred Bieler gelohnt, der Angabe über seinen Umzug aus der DDR in die ČSSR 1965 den Hinweis auf seinen Umzug nach München im Jahr 1968 beizufügen.
Es ist jedoch nachvollziehbar, dass bei einem so umfangreichen Konzept eines Anmerkungsapparats etwas vergessen und in Ausnahmen (in einem Fall) auch falsch interpretiert werden kann: Der Text des Plakats „VYKUPUJEME SHNILÉ ŠVESTKY“ [„Wir kaufen faule Pflaumen“] bezieht sich in Wirklichkeit nicht auf verdorbenes Obst, sondern auf Oldřich Švestka, Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, der im August 1968 ähnlich prosowjetische Positionen vertrat wie Vasil Biľak, Drahomír Kolder oder Alois Indra. Gelegentliche Probleme mit den tschechischen Diakritika sind in der deutschen Ausgabe verzeihlich (Květa Hyřslová, Jan Patoèka, Jiøí Lederer, Jirí Grusa), ein eher unerfreulicher Tippfehler findet sich in der Jahreszahl des Treffens der Gruppe 47 in Dobříš, das nicht im Mai 1999, sondern 1990 stattfand.
Auf Grundlage seines literarischen Werks wird Böll gerne als „widerspenstiger Humanist“ (Norbert Honsza) oder „Humanist und Sozialkritiker“ (Milan Rusinský) bezeichnet, denn in seiner Prosa stellte er vor allem die Welt und die Sorgen des gewöhnlichen Menschen dar, der ins Getriebe der Geschichte oder des Systems gerät, oder nahm das sich neu herausbildende Establishment Westdeutschlands und seine personellen Verstrickungen mit dem Naziregime kritisch ins Visier (am deutlichsten wohl in seinem letzten Roman Frauen vor Flußlandschaft). Diese Empathie für den „erniedrigten und beleidigten“ Menschen kommt auch in seinem publizistischen Text Der Panzer zielte auf Kafka zum Tragen. Sein Mitgefühl gilt nicht nur den Menschen des besetzten Prag, sondern er kann sich auch in die Situation der desorientierten einfachen sowjetischen Soldatinnen und Soldaten der sowjetischen Einheiten einfühlen: Die vom Politoffizier versprochene Konterrevolution war gar nicht vorzufinden, und statt der erwarteten Dankesbekundungen regnete es Beschimpfungen vonseiten der Zivilistinnen und Zivilisten. Böll kommentiert: „Es war ein imperialer, hegemonialer Akt, doch die sowjetischen Soldaten wirkten nicht imperial. […] Sie hatten die Wahl, verrückt zu werden oder Selbstmord zu begehen, und ich frage mich, was in Menschen vor sich geht, die drei Tage lang vor dieser Wahl gestanden haben. Die dritte Wahl, zu desertieren, hatten sie nicht. Es hätte sie keiner aufgenommen.“ Das Nachdenken über die Situation der sowjetischen Soldaten verbindet er dabei mit einer kritischen Charakterisierung der eigenen Gesellschaft: „[…] ihre Gesellschaft, auch ihre Armee, ist eine Privilegierten-Gesellschaft – wie unsere, die sich auf dem Umweg über die ‚Prominenz‘ ihren neuen Adel kreiert und den alten weiterhin anbetet.“
Das neu installierte Regime der sogenannten „Normalisierung“ unterbrach für mehr als 15 Jahre die vielversprechend begonnene Rezeption von Bölls Werk in tschechischer Übersetzung aufgrund seiner öffentlich geäußerten Haltung zur Niederschlagung des Prager Frühlings und später wegen seiner Unterstützung der Charta 77. Erst 1987 durfte Die verlorene Ehre der Katharina Blum in tschechischer Übersetzung erscheinen, dann kam eine neue Edition der Romane Und sagte kein einziges Wort und Billard um halb zehn in einem Band, die neue Übersetzung von Der Zug war pünktlich erschien im Jahr 1989. Eine knapp drei Wochen dauernde Ausstellung in der Prager Stadtbibliothek mit dem Titel Dílo překonává hranice (dt. etwa „Ein Werk überwindet Grenzen“) erinnerte in den veränderten Verhältnissen (18. 5.– 6. 6. 1992) an den in der Tschechoslowakei praktisch mundtot gemachten Autor, und die Monografie des polnischen Germanisten Norbert Honsza wurde 1994 ins Tschechische übersetzt (Heinrich Böll: vzpurný humanista, dt. etwa „Heinrich Böll, ein widerspenstiger Humanist“). So kamen Böll und sein Werk wieder ins Blickfeld der tschechischen Leserinnen und Leser. Während der aus seinem Nachlass veröffentlichte Roman Der Engel schwieg nur ein halbes Jahr nach der deutschen Ausgabe auch auf Tschechisch erschien (1993), musste Gruppenbild mit Dame fast dreißig Jahre auf die tschechische Übersetzung (2000) warten. Größeres Glück hatte der bereits erwähnte Roman Frauen vor Flußlandschaft (deutsch 1985), dessen tschechische Ausgabe 1994 knapp zehn Jahre nach der deutschen erschien. Vlastislava Žihlová übersetzte dann auch den Text Der Panzer zielte auf Kafka: Vier Tage in Prag und veröffentlichte ihn im Jubiläumsjahr 1998 im Selbstverlag. Doch damit schien das Interesse an Böll und seinem Werk in der tschechischen Gesellschaft an ein Ende gelangt zu sein. Verglichen mit dem Romancier Günter Grass, dem der Verlag Atlantis eine systematische Aufmerksamkeit und Übersetzungsarbeit widmet, ist das ein trauriger Zustand, und es ist bezeichnend, dass sich im tschechischen Kontext gerade die in Deutschland lebende Alena Wagnerová der Erinnerung an den Autor anlässlich seines hundertjährigen Jubiläums widmete (in der Zeitschrift Tvar, Nr. 21, S. 16, 14. 12. 2017 – neben einem anonymen Andenken auf Týden.cz vom 21. 12. 2017). Ich denke, dass wir Heinrich Böll einiges schuldig sind. Doch es gibt wohl einen Trost – bei den letzten Recherchen und der Überprüfung einiger Fakten bin ich im virtuellen Raum sowohl auf ein Gespräch gestoßen, das Zuzana Lizcová mit René Böll anlässlich seines Besuchs in Prag 2018 führte, als auch auf die Unterzeichnung eines Lizenzvertrags für das Buch Der Panzer zielte auf Kafka im selben Jahr, sowie auf eine Rezension der deutschen Ausgabe des Buches von Jindra Broukalová, die in der Zeitschrift Tvar im April 2019 erschien. Vielleicht hat Böll in Tschechien doch noch eine Chance.
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Böll brachte im Titel seines Textes prägnant die Absurdität und das Groteske der konkreten Situation zum Ausdruck, auch den Tschechen entging das nicht, wenn sie auch dafür – vielleicht in Verbindung zur nahenden Olympiade – eine andere Bezeichnung ersannen: Kafkiade („kafkiáda“, siehe Politika, Nr. 1, 24. 8. 1968). Der symbolische Gehalt des Titels war dem Autor selbst offenbar gar nicht bewusst – die Kafka-Konferenz von Liblice wurde in der sogenannten „Normalisierung“ erst später im Rückblick als eine der Ursachen der tschechischen „Konterrevolution“ bezeichnet.
Übersetzung: Lena Dorn
Heinrich Böll. Der Panzer zielte auf Kafka. Heinrich Böll und der Prager Frühling. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2018, 224 S.