Es schreibt: Václav Maidl
(17. 3. 2021)Obwohl ich von den sieben deutschsprachigen Ausgaben von Severins Gang in die Finsternis, die im letzten Jahrzehnt erschienen und die ich im Internet registriert habe, nur zwei in der Hand hielt (das hier rezensierte Buch und die 2015 im Verlag Edition Atelier von Thomas Ballhausen vorbereitete Ausgabe), darf ich m. E. einleitend gleich erklären, dass die vorliegende Ausgabe des Titels im Vitalis-Verlag alle anderen sowohl hinsichtlich ihrer Gestaltung, als auch in Bezug auf die Begleittexte, für die die sorgfältigen Herausgeber Julia Hadwiger und Di(e)rk O. Hoffmann verantwortlich zeichnen, übertrifft. Während es einigen Verlagen offenbar nur um den bloßen Textnachdruck ging (in Holzingers Berliner Createspare Independent Publishing Plattform wurde der Text auf bloße 68 Seiten gedrängt und die Kindle Edition im Good Press Verlag umfasst 77 Seiten), in der Prager Ausgabe nehmen allein die Begleittexte und Illustrationen bereits 90 Seiten vom gesamten Buchumfang mit 200 Seiten ein. Das Seitenformat ist begreiflicherweise kein exakter Maßstab, der Satz kann angesichts des Zeilenabstands und der Schriftgröße jeweils unterschiedlich ausfallen, die oben erwähnten Ausmaße zeugen allerdings von der Absicht der Herausgeber und des Verlegers, Paul Leppin als Autor und Persönlichkeit im Kontext der Zeit, in der er lebte, vorzustellen, literarische Zusammenhänge hervorzuheben, u. a. auch die Topographie des bereits verlorengegangenen, in Leppins Roman allerdings lebendig dargestellten Prag (es handelt sich natürlich hierbei um keinen Stadtführer durch das historische Prag). Lapidar zusammengefasst: eine präzise geleistete Arbeit (Di/e/rk O. Hoffmann widmete der Erforschung von Leppins Werk übrigens ein halbes Jahrhundert seines Lebens).
Auch Thomas Ballhausen versah seine Ausgabe mit einem Nachwort, das davon zeugt, dass Ballhausen recht gut über den Dichter und das Netzwerk der Prager Autoren informiert ist (auch er zitierte Otto Picks Gedicht Paul Leppin, im Unterschied zu der Vitalis-Ausgabe, die den vollständigen Text bringt, erwähnt er nur den ersten Vierzeiler zur Illustrierung). Er konzentriert sich v. a. auf die Deutung der Severin-Figur und geht diesbezüglich von der gleichen inneren Spannung zwischen dem nüchternen, mit monotoner Büroarbeit gefüllten Alltag und dem Trubel des Nachtlebens aus, welche sowohl der Autor als auch seine Figur erlebten. (Eine ähnliche Spannung zwischen der zivilen bürgerlichen, von Berufspflichten getragenen Existenz einerseits und den freien, dem Werk gewidmeten Momenten findet sich allerdings bei vielen, wenn nicht allen Autoren – sei etwa an das illustrative Beispiel Kafkas erinnert, von den älteren tschechischen Zeitgenossen etwa an Petr Bezruč, von jüngeren etwa an Jaroslav Havlíček, abgesehen von einer ganzen Reihe prominenter tschechischer Literaten, die ihren Lebensunterhalt als Lehrer verdienten, etwa Jirásek und Sládek, ich erinnere nur daran, dass die Renten der erwähnten Autoren, genauso wie die eines Klostermann oder Heyduk, sich von der Anzahl der Dienstjahre herleiten, nicht von ihren literarischen Werken.) Das Nachwort zu dem Buch, das als erster Band die Bücherreihe Bibliothek der Nacht 2015 einleitete, legt nahe, dass Ballhausen diejenigen Aspekte bevorzugt, die mit dem ambivalenten Sinn des Titels Severins Gang in die Finsternis übereinstimmen. Daher auch wohl die flüchtige, jedoch unabdingbare Erwähnung der „bildhaften Sprache“, die der Darstellung der vielfältigen Stadtatmosphäre diene, insbesondere der nächtlichen und dunklen.
Die Begleittexte in der vorliegenden Vitalis-Ausgabe sind sowohl für den einfachen, als auch für einen wissenschaftlich fokussierten Leser von Nutzen. Zur visuellen Gestaltung gehört die Anwendung origineller Illustrierungen von Richard Teschner auf dem Buchumschlag und Frontispiz sowie der Abdruck der Titelseite und der ersten Seite der Ausgabe aus dem Jahr 1914 (im Anschluss an den Text zu finden). Die erwähnten Einzelheiten scheinen den Raum für eine editorische Notiz vorzubereiten, die u. a. auf kleine Eingriffe in den Text (Tippfehler, Ergänzung von Umlauten) hinweisen. Es folgen dann zwei Textabteilungen, die erste beschäftigt sich mit der Zeit, der Werkgenese und -auswirkung und die andere nimmt sich die in Leppins Roman erwähnten Orte vor, kommentiert sie erklärend und illustriert sie anhand einer reichen Fotodokumentation. Eine Rarität stellt dann der Erinnerungstext von Huga Rokyta dar, in dem von der persönlichen Begegnung mit Leppin bei dessen Autorabend im Mai 1938 berichtet wird. Das Literaturverzeichnis besteht einerseits aus der Liste zeitgenössischer Besprechungen von Leppins Buch, andererseits aus der Auflistung selbstständiger Ausgaben dieses Romans inkl. Übersetzungen (bis 2015), ferner wird eine Auswahlbibliographie der Forschungsliteratur zu Leppin und schließlich eine Liste Leppins im Vitalis-Verlag publizierter Werke angeführt. Angaben zum Bildapparat (mit der Quellenangabe) fehlen nicht.
Diese Beschreibung mag dem Leser allzu detailliert, langwierig und langweilig vorkommen – ihr Ziel war aber zu zeigen, wie selten auf unserem heutigen übersättigten Büchermarkt (siehe die Einleitung) derart sorgfältig vorbereitete Editionen sind. Sie sind auf große Erfahrungen und Kenntnisse der Herausgeber zurückzuführen. Die gewählte Vorgehensweise ist kein Zufall, für eine ähnliche entschied sich das Editionsteam (dessen Mitglieder ebenfalls J. Hadwiger und D. O. Hoffmann waren) bereits 2007 im Zusammenhang mit der Herausgabe von Leppins Roman Hüter der Freude. Auch in diesem Fall wurde das Buch mit Begleittexten versehen, die den Autor, die Zeit und das Werk dem Leser näherbrachten, auch wurden die topographischen „Kulissen“ Prags fokussiert, im Rahmen derer sich die Romanhandlung abspielt, und ein kleines Wörterbuch (so etwas wäre wohl auch im Falle von Severins Gang in die Finsternis von Nutzen) hinzugefügt. Es folgten ebenso eine Liste benutzter Sekundärliteratur sowie das Abbildungsverzeichnis. Um die Qualifizierung beider Herausgeber zu betonen, muss noch ihre Teilnahme an der Vorbereitung der Werkausgabe von Leppin erwähnt werden (es blieb leider beim ersten Band, 2007).
Es gibt viele Gründe dafür, ein mehr als hundert Jahre altes Buch wieder zu lesen und es neu herauszugeben (wobei die zweite Ausgabe 1988 erfolgte und die dritte wurde vom Vitalis-Verlag 1998 realisiert). Einige dieser Gründe werden auf Seite 135 erwähnt: Gründe für (deutschsprachige) Besucher Prags, für Liebhaber von Gespenstergeschichten (wozu wahrscheinlich der Untertitel Ein Prager Gespensterroman verführen könnte), für die Leser fantastischer und bizarrer Literatur. Die Autoren des Kommentars finden die erwähnten Gründe jedoch eher pragmatisch, und sie bereuen, dass die literarische Qualität des Romans hinter diesen Motivationen verschwindet, die in Leppins Kunst bestehe, die Atmosphäre des alten, zugrunde gehenden Prags einzufangen; Karl-Markus Gauß charakterisierte Leppins Kunst in seiner Besprechung der zweiten Ausgabe als „hochgeschliffene Kunstübungen mit ganz außenordentlicher Sprachgewalt“. Noch etwas, was der heutige Leser mit Überraschung feststellen dürfte: Der grundlegende Charakterzug der Severin-Figur, eines jungen Mannes, der vom grauen Alltag gelangweilt den Lebenssinn in außergewöhnlichen Erlebnissen sucht, mag uns nicht unbedingt fremd erscheinen, wenn wir an die heutigen Männer in ihren Zwanzigern oder Dreißigern denken, die – materiell vorsorgt – sich überlegen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen…
Bei der Arbeit an dieser Echo-Rezension überraschte mich Folgendes. Paul Leppin wird gemeinsam mit Camill Hoffmann meistens als Vorzeigeautor und Beispiel für die Zusammenarbeit tschechischer und deutscher Autoren in Prag angeführt, v. a. im Hinblick auf seine Rezensionen für die Zeitschrift Moderní revue [Moderne Revue] und für Die Gesellschaft. Leppins Zitationsindex in der Publikation Praha – Prag 1900–1945. Literaturstadt zweier Sprachen ist höher als der von Rilke und Werfel und was Literaten angeht, wird er nur noch von Franz Kafka und Max Brod überholt. Wenn man jedoch nach tschechischen Übersetzungen von Leppins Büchern sucht (abgesehen von den wenigen übersetzten Kostproben aus Leppins Lyrik von Paul Eisner), findet man die erste tschechische Übersetzung von Severins Gang in die Finsternis erst 1986 in der Form einer bibliophilen Ausgabe (und diese entstand nur dank der Initiative des Übersetzers Jaroslav Achab Haidler). Von Leppin wusste man dabei auch trotz des zeitlichen Abstands – zum eigentlichen tschechischen Leppin-Boom kam es gleich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre, als in einer neuen Übersetzung sowohl Severins Gang in die Vergangenheit (1992), als auch der Roman Daniel Jesus (1993) und sogar einige Beiträge in Zeitschriften erschienen. Leppins Werk wurde jedoch bereits zu Lebzeiten des Dichters von Tschechen geschätzt – als Beweis darf an die offizielle Gratulation des Präsidentenbüros anlässlich des 50. Geburtstags des Autors erinnert werden. Es fragt sich jedoch, warum Leppins Zeitgenossen kein übersetzerisches Interesse an Leppin gezeigt hatten. Angesichts ihrer eigenen Sprachsituation konnten sie deutschgeschriebene Bücher zwar problemlos lesen, warum verspürten sie allerdings das Bedürfnis nicht, auch tschechische Leser mit diesem spannenden Dichter bekannt zu machen? Waren die Themen zu exklusiv? Passte Leppins Auffassung der Stadt nicht, die mit dem tschechischen Stereotyp von Prag als „das Mütterchen Prag“ kollidierte? Ließ die Zeit mit ihren radikal neuen Verwandlungen (Erster Weltkrieg; Zerfall der Habsburgermonarchie; Gründung des eigenen Staates, aus der Perspektive der Tschechen) die Aussage des Romans unter dem Staub der Zeit verschwinden? Gab es spätere Diskrepanzen mit den ehemaligen tschechischen Kollegen? Ich spüre, wie ich im Finstern tappe, und bitte fachkundigere Personen um Hilfe.
Paul Leppin: Severins Gang in die Finsternis. Ein Prager Gespensterroman. Herausgegeben von Julia Hadwiger und Dirk [sic!] O. Hoffmann. Mit Erinnerungen von Hugo Rokyta. Prag: Vitalis, 2018, 200 S.