Es schreibt: Manfred Weinberg

(E*forum, 9. 9. 2020)

Im letzten Kapitel seiner Studie Das Gedächtnis Zentraleuropas. Kulturelle und literarische Projektionen auf eine Region (Wien: Böhlau-Verlag, 2019), das überschrieben ist Zentraleuropa – ein Laboratorium für lokale und globale Prozesse, denkt Moritz Csáky über den Sinn einer „Beschäftigung mit Zentraleuropa“ und einer „Analyse von kulturellen Prozessen in dieser Region“ nach, die kein „Selbstzweck von Intellektuellen“ sei: „Vielmehr ist die Reflexion über die komplexen sozial-kulturellen Befindlichkeiten und über die zuweilen krisenhaften kulturellen Prozesse in Zentraleuropa auch von einer allgemeinen gesellschaftlichen Relevanz. Denn das von Pluralitäten, Differenzen und Heterogenitäten dominierte Zentraleuropa erweist sich als ein Versuchsfeld, das die Sicht auf analoge gesellschaftliche Problemfelder in der Gegenwart zu schärfen und von daher auch zu möglichen Deutungen von solchen analogen globalen kulturellen Prozessen beizutragen vermag.“ (S. 350) Damit ist eigentlich schon alles über die Ansprüche dieses Buches gesagt: Es will ein möglichst differenziertes Bild von Zentraleuropa (vor allem im frühen 20. Jahrhundert) zeichnen, so aber auch eine Grundlage für die Reflexion über die globalisierte Gegenwart anbieten.

 

Die Studie gilt, wie es im Vorwort (S. 9ff.) heißt, dem „Vielvölkerstaat der Habsburger Monarchie“ (S. 9) und damit noch einmal dem „Lebensthema“ Moritz Csákys, zu dem er ja schon unzählige Aufsätze und andere wichtige Studien (etwa: Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien / Köln / Weimar: Böhlau, 2010) vorgelegt hat. Die neue Studie trägt dabei – das wird man bei einem über Achtzigjährigen sagen dürfen – durchaus Züge eines „Alterswerks“, was nur positiv gemeint ist: Alles, was der Autor im Laufe eines langen und reichen Forscherlebens zusammengetragen hat, hat an passender Stelle Eingang in dieses Buch gefunden, das so zu einer wahren Fundgrube „passender“ Zitate geworden ist.

 

In der Einleitung wird Zentraleuropa als ein „zwar geographisch oder historisch nicht eindeutig abgrenzbare[r] oder definierbare[r], vielmehr [...] relationale[r] Raum[], der diskursiv immer wieder neu ausgehandelt wird“ beschrieben, allerdings hinzugefügt, dass dieser schwer bestimmbare Raum im „Vielvölkerstaat der Habsburgermonarchie“, mit Jurij M. Lotman zu reden, „real-territoriale Züge“ (S. 9) angenommen habe. Es ist dabei kein Zufall, dass Lotman schon auf der ersten Seite des Buches Erwähnung findet, denn das Semiosphären-Modell des späten Lotman bildet neben Homi K. Bhabhas Verständnis des Hybriden und des „third space“ (und weiterhin Michel Foucault, Ludwig Wittgenstein und zahlreichen writing culture-Ethnologen) die theoretische Grundlage dieser Studie. Allerdings neigt Csáky dazu, die so in den Fokus gerückte Vielfalt zu essentialisieren. Immer wieder wird Vereindeutigungen – etwa im Sinne diverser Nationalismen – entgegengehalten, dass die Situation ja „eigentlich“ eine der unüberschaubaren Vielfalt sei. Dieses „eigentlich“ macht es aber schwierig, die Wirksamkeit (und damit eigene Wirklichkeit) etwa der genannten Nationalismen zu beschreiben. Anders gesagt: Das „Spiel“ scheint mir tatsächlich noch unüberschaubarer, als es Csáky beschreibt, weil neben der „eigentlichen“ uneinholbaren Vieldeutigkeit, auch immer noch unzählige Vereindeutigungen an ihm beteiligt sind, die es aber gerade nicht einfacher, sondern nur noch komplexer machen. Csáky schreibt: „Angesichts einer solchen komplexen Realität [...] [ist] Identität nicht [...] etwas Stabiles, [...] ein unabänderlicher Besitz, sondern [...] ein relationaler, kontinuierlicher, dynamischer Prozess“ (S. 10). Doch ist ein Prozess ja nicht reine „Verflüssigung“, sondern der stete Wandel von einer Stabilität zur nächsten. Die Rede vom Hybriden etc. unterschätzt m. E. diese wirksamen „Identitäten“, wenn die „Vielheit“ als tatsächlich „viel nachhaltiger“ (S. 86) als diese verstanden wird.

 

Das Problem resultiert natürlich auch aus dem Thema von Csákys Studie: dem Gedächtnis, das, wie ich vor längerer Zeit auf über 700 Seiten (Das „unendliche Thema“. Erinnerung und Gedächtnis in der Literatur/Theorie, Tübingen: Francke, 2006) zu zeigen versucht habe, eben ein „unendliche[s]“ und deshalb strikt unfassbares „Thema“ ist, das nicht handhabbarer wird, wenn man es auf einen so offenen Kulturbegriff wie den von Csáky in Anschlag gebrachten bezieht. Kultur ist ihm „ein Ensemble von Zeichen, Symbolen und Codes, mittels derer Individuen in einem sozialen Kontext performativ, verbal und – was vielleicht noch wichtiger ist – nonverbal kommunizieren“ (S. 57), ein „dynamisches und performatives, mehrdeutiges und hybrides [...] System“ (S. 100). Der unfassbaren „Unendlichkeit“ des Gedächtnisses wie der Kultur wird aber eben auch eine „Diffenrenztheoretische Hermeneutik“ (S. 321ff.) nicht Herr, die Csáky anempfiehlt, wenn er diese auch mehr durch ihre Anwendung als theoretisch erläutert.

 

Im Vorwort verweist Csáky auf eine Besonderheit seiner Studie: „ein vermutlich neuer Zugang“ sei „die Analyse literarischer Beispiele“, seien es „Essays“ „autobiographische[] Reflexionen“ oder auch „fiktionale[] Entwürfe und Beschreibungen“ (S. 10): „Selbst wenn fiktionale literarische Texte selbstverständlich historischen Dokumenten nicht gleichgestellt werden können, spiegeln sie dennoch das gesellschaftliche Bewusstsein einer Zeit zuweilen besser wider als zum Beispiel ein diplomatischer Aktenwechsel“ (S. 10). Das ist unproblematisch (und äußerst gewinnbringend) bei den herangezogenen Essays und Autobiographien, auch noch bei deutlich als Schilderung einer spezifischen Lebenswelt konzipierten fiktionalen Texten (so das berühmte Kapitel zur Stadt „B.“ [= Brünn] in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften). Andere literarische Texte folgen aber oft einer „Eigenlogik“, die es fraglich werden lässt, ob sie als „Doppelgänger einer bestimmten Lebenswelt oder einer historischen Realität“ (S. 10) gelesen werden können resp. sollten. Das wird besonders bei der Interpretation von Kafkas Erzählung Beim Bau der chinesischen Mauer zum Problem, die Csáky ganz und gar als Allegorie auf „die innere Verfasstheit der Habsburgermonarchie“ (S. 125) versteht; er erwähnt zwar auch andere „Entschlüsselungen“, hält die seine aber für „wesentlich naheliegender und einsichtiger“ (S. 139). Damit verlängert er zuletzt jedoch nur ein höchst unfruchtbares, allerdings in der Kafka-Forschung immer noch weit verbreitetes enträtselndes Zuschreiben eines eindeutigen Sinns. Es ist hier jedoch nicht der Ort, über eine angemessene Kafka-Philologie zu streiten. (Auch die Lektüre von Kafkas „Einleitungsvortrag über den Jargon“ [vgl. S. 250ff.], also das Jiddische, übersieht im Übrigen so manche Abgründigkeiten der Ausführungen.)

 

Zur Einteilung des Buches: Dem knappen Vorwort (S. 9ff.) folgt als erstes Kapitel die über 100 Seiten lange Einführung Zentraleuropa – kulturwissenschaftliche Perspektiven (S. 13ff.). Diese beginnen mit Verweisen auf Milan Kunderas und Danilo Kiš’s (S. 15ff. resp. S. 17ff.) Verständnis von Mittel- resp. Zentraleuropa und verhandeln im Folgenden entscheidende Aspekte dieses Kulturraums – etwa: Die Rolle der Juden in Zentraleuropa (S. 24ff.), Warum nicht ‚Mitteleuropa‘? (S. 29ff.), Grenze als ein ‚Dritter Raum‘ (S. 51ff.), Nationalkultur auf dem Prüfstand (S. 59ff.), Hybride Identitäten (S. 78ff.) und Innere Kolonisierung und Mimikry (S. 120ff.), um nur einige zu nennen. Diese in höchstem Maße kenntnis- und facettenreiche Grundlegung kann hier nicht resümiert werden. Es folgen Lektüren literarischer Texte: Franz Kafkas ‚Beim Bau der chinesischen Mauer‘ und Habsburgs Central Europe. Mehrdeutigkeiten und Verunsicherungen (S. 123ff.), Hermann Bahrs ‚Austriaca‘ – slawischer Vielvölkerstaat (S. 147ff.), Joseph Roths ‚Das falsche Gewicht‘ – Innere Kolonisierung (S. 171ff.) und Miroslav Krležas ‚Illyricum sacrum‘ – Hybridität der Region (S. 189ff.). Die Überschriften zeigen schon an, dass es im Grunde immer um das Gleiche geht: die Darstellung des Habsburger Vielvölkerstaates als „Dritten Raum“ im Sinne Bhabhas resp. Um all die „Heterogenitäten, Mehrsprachigkeiten, Hybriditäten, koloniale[n] und postkoloniale[n] Verhaltensweisen, Mobilitäten und Migrationen“ sowie „Mehrfachidentitäten“ (S. 319), die diesen Raum geprägt haben. Schließlich folgen als Kapitel VI und VII: Sprachenkonflikt und Sprachkritik im Kontext von Mehrsprachigkeit (S. 213ff.) – mit einem Exkurs zum Thema Religiöse Vielfalt und Heterogenität (S. 231ff.) – und Konstruktion von Fremdheiten (S. 276ff.), schließlich das schon genannte letzte Kapitel der Aktualisierung.

 

Alles in allem hat man es mit einer höchst gründlichen sowie detailreichen Darstellung Zentraleuropas zu tun (samt dem pointierten Nachweis der auch aktuellen Relevanz dieses Forschungsgegenstands), die, auch wenn man manches gern ausführlich und gelegentlich kontrovers mit dem Autor diskutieren würde, ihren Status als Standardwerk sicher hat.

 

 

Moritz Csáky: Das Gedächtnis Zentraleuropas. Kulturelle und literarische Projektionen auf eine Region. Wien: Böhlau-Verlag, 2019, 392 S.


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