Es schreibt: Jan Budňák
(E*forum, 10. 6. 2020)Der Zlíner Germanist Libor Marek legte zwei komplementäre Publikationen über deutsch schreibende Autoren aus der Walachei vor – die monografische Studie Zwischen Marginalität und Zentralität und ein dazugehöriges Textlesebuch unter dem Titel Bilder und Stimmen des anderen deutschen Ostens. Gerade aus der Perspektive der tschechischen Germanistik kann man feststellen, dass die Bücher ein bislang ignoriertes, überwiegend schwer zugängliches Material verarbeiten. Darüber hinaus werfen sie die Frage auf, wie man mit stark subkanonischer Literatur umgehen soll, die ohne solche Wiederbelebungsversuche in regionaler Rahmung wohl gänzlich unbekannt bleiben würde.
Libor Marek bezeichnet seinen Forschungsgegenstand relativ unumwunden als deutschwalachische Literatur, analog zu den bereits etablierten Begriffen der Prager deutschen Literatur und der deutschmährischen Literatur. Auch konzeptuell versteht er die deutschwalachische Literatur als eine Art kleine Schwester der deutschmährischen Literatur, wenn er sich auf die häufig verwendete „inklusive“ Definition von Jörg Krappmann (beziehungsweise der ganzen Olmützer Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur) bezieht. Ein deutschwalachischer (bei Krappmann deutschmährischer) Autor ist demzufolge einer, der „mit der Mährischen Walachei zu tun hat, das heißt, dass er hier geboren wurde, einen Teil seines Lebens oder sein ganzes Leben verbrachte oder dass sein Schaffen mit der Mährischen Walachei zusammenhängt.“ (S. 68, die Seitenzahlen beziehen sich auf die Monografie Zwischen Marginalität und Zentralität). Marek ist sich der grundlegenden Schwierigkeiten durchaus bewusst, die eine so breite Definition mit sich bringt, wenn man sie auf eine (fast bis zur Unsichtbarkeit) kleine Literatur anwendet: Es sind die Schwierigkeiten ihrer Charakteristik. Wodurch lässt sich dieses Objekt, so es denn existiert, literatur- und kulturhistorisch definieren? Anhand welcher Kriterien lässt es sich charakterisieren und gliedern, wenn der Literaturhistoriker hier nicht nur zum Jäger und Sammler werden will? Wobei auch diese Rollen in Bezug auf Autoren wie Paul Zifferer, Heinrich Herbatschek, Marianne Bohrmann und August Benesch höchst verdienstvoll sind.
Es gereicht dem Autor zur Ehre, dass er sich den Fragen nach dem „Wesen“ (S. 19) und der inneren Logik seines Materials stellt. Die ältere Theorie, der Ursprung der walachischen Kultur liege in der rumänischen Kolonisation, die der Wiener Slavist Franz von Miklosich (Franc Miklošič) im 19. Jahrhundert vertrat und die unter anderem der aus Zlín stammende Ethnograph František Bartoš unterstützte, lehnt Libor Marek ab und schließt sich dem aktuellen Standpunkt von Jaroslav Štika an (Valaši a Valašsko, 2007, [Die Walachen und die Walachei]). Laut Štika ist das Wesentliche dieser peripheren Region, in der die Kolonisierung nur eine von vielen kulturellen Größen sei, „eben ihr seltsamer interkultureller Hintergrund […], die Interaktion der Kulturen und Sprachen, ihr Neben- und Ineinander im Laufe der Jahrhunderte unter spezifischen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen.“ (S. 24) Aus dieser Bestimmung der Region folgert Marek, nunmehr auf dem literarischen resp. textlichen Terrain, dass „die Mährische Walachei als ein Konstrukt [erscheint], das seine Einheit verschiedenen, manchmal widerspruchsvollen Behauptungen und dem Anhauch des Exotischen, des Fremden innerhalb des Eigenen, der karpatischen innerhalb der mährischen Kultur, verdankt.“ (S. 25)
Diese Herangehensweise, die offen für Ambivalenzen ist (strukturanalog zu Conrads „Herz der Finsternis“ oder Freuds Konzept vom „Unheimlichen“ [1919]), erscheint auf den ersten Blick als hervorragender Ausgangspunkt für die Kontextualisierung eines neu entdeckten Segments der Regionalliteratur. Es wäre dies eine im breiten Sinne imagologische, konstruktivistische Herangehensweise, deren gemeinsame Linie die Interkulturalität der Literatur der nämlichen Region wäre. Mareks Monografie verfolgt sie in gewissem Maße auch, z. B. im Kapitel über die „(Fehl-)Geburt eines Mythos“, welcher das geteilte Bild der Region als rebellische und edle exotische begründet. Dieses Bild aus ethnografischen Texten in deutscher und tschechischer Sprache erstreckt sich auch auf einige der deutschsprachigen literarischen Texte, mit denen sich Libor Marek befasst. Er nennt es „Gegen-Welt“ und identifiziert diese in den Mährischen Novellen (1913) von Marianne Bohrmann (1849–1916) sowie in Die fremde Frau (1916), einem späten naturalistischen Roman von Paul Zifferer (1879–1929), dessen Schauplatz teilweise die Walachei ist, und auf andere, viele Klischees wiederholende Art und Weise taucht sie auch im Gedichtband Goralen. Lieder aus den Beskiden (1964) der ursprünglich nordmährischen Autorin Nina Wostall (1901–1996) auf sowie im Werk der Wiener Schriftstellerin und Esoterikerin Susanna Schmida-Wöllersdorfer (1894–1981). Dann entfernt sich Marek jedoch in beträchtlichem Maße vom konstruktivistischen Zugang und bezieht die weiteren analysierten Texte, die keinen explizit walachischen Schauplatz haben, nicht mehr auf den „seltsamen interkulturellen Hintergrund“ und seine Bilder. Hier kommt voll und ganz zum Vorschein, was der Autor selbst auf sympathisch offene Art zugibt: dass nämlich der Begriff der deutschwalachischen Literatur ein tatsächlich nur heuristischer ist. Es ist ein Träger, der es „möglich macht, unerforschte Segmente der deutschgeschriebenen Literatur und der deutschen Kultur aus den östlichen Regionen Mährens (Tschechiens) – d. h. Autoren, Werke, Sachkenntnisse – systematisch zu erfassen und einer wissenschaftlichen Untersuchung zu unterziehen“. (S. 167) Die „Systematik“ seiner Erfassung und die „Form“ der wissenschaftlichen Untersuchung des erfassten Inhalts haben mit der spezifischen Regionalität im Weiteren wenig gemein.
Libor Marek spezifiziert die inklusive Konzeption der deutschwalachischen Literatur mit Verweis auf die Typologie der Trajektorien der untersuchten Autoren. Er unterteilt sie in Autoren, die zwischen Zentrum (v. a. Wien) und Peripherie oszillieren (Schmida-Wöllersdorfer, Zifferer, Herbatschek, Ludwig Kurowski [1866–1912], Rudolf Hirsch [1816–1872], Ida Zifferer-Waldek [1880–1942], Bohrmann), außerdem solche, die zwischen Regionen wanderten (Johann Karl Ratzer [1802–1863], Karl Wilhelm Gawalowski [1861–1945], Georg Simanitsch [1836–?], August Benesch [1829–1911], Karl Klaudy [1906–?] u. a.). Eine weitere Gruppe bilden diejenigen, die nur „punktuell“ mit der Walachei in Berührung kamen (Grillparzer, Walter Seidl, E. E. Kisch) und eine letzte schließlich die tschechoslowakischen aus der Walachei stammenden Autoren, die auch auf Deutsch schrieben (Mňačko, Stanislav Struhar). Dabei handelt es sich im Prinzip um ein literatursoziologisches Kriterium. Zugleich arbeitet Marek ziemlich orthodox germanistisch (im Sinne der Berücksichtigung der literarischen Produktion nur in einer Sprache: Deutsch), und es stellt sich die Frage, inwiefern das literaturhistorische Material diese Perspektive aus sich heraus verlangt, und inwieweit die Abwesenheit der germanobohemistischen Perspektive vom spezifischen „Auge des Betrachters“ herrührt. Wenn es z. B. erforderlich ist, einen peripheren Autor oder eine periphere Autorin mithilfe einer Analogie zur „großen“ Literaturgeschichte zu charakterisieren, so greift Libor Marek auf österreichische oder deutsche Analogien zurück, nicht auf tschechische. Wenn hier jedoch die erwähnten literatursoziologischen Kriterien Zentrum – Peripherie verwendet werden, so stellt sich die Frage, warum man die Funktionsweise der regionalen Literatur nicht ohne Rücksicht auf ihre sprachliche Zugehörigkeit charakterisieren sollte. Weist die tschechisch sprachige walachische Literatur, auf gleiche Art inklusiv konzipiert, nicht ähnliche Trajektorien auf wie die deutschsprachige? Ändern sich diese Trajektorien im betrachteten Zeitraum zwischen 1848 und 1948? Dies könnte ein vereinigendes Kriterium in der Beschreibung der gesamten walachischen Literatur sein (mit einer Materialauswahl, die tatsächlich auf dem Prinzip der Regionalität beruhte, nicht auf dem germanistischen Segment derselben).
Trotz ihrer strikt germanistischen Ausrichtung enthält die Publikation jedoch eine Reihe von inhärent germanobohemistischen Teilthematiken, wobei die faszinierendste im Kapitel über die deutschsprachige literarische und journalistische Produktion in Baťas Zlín verarbeitet wird. Libor Marek konstatiert „eine auffällige Ähnlichkeit mit dem Mythos von der rumänischen Kolonisation“ (S. 49) und fügt hinzu: „Selbst der Baťa-Mythos [...] wurde zum großen Teil mittels deutscher Texte gestaltet“ (S. 52), z. B. durch das Buch Thomas Bata – ein Schuster erobert die Welt von Eugen Erdély (1932). Das Kapitel zeichnet auch die Geschichte der deutschsprachigen journalistischen Projekte in Zlín nach, der Wochenzeitung Der Pionier (1935–1938) und der kulturellen Monatszeitung Weltblick (1936–1938). Eine interkulturelle Kontextualisierung dieser Projekte, einschließlich ihrer Anknüpfung an den „walachischen Mythos“, bietet sich unmittelbar an, und ich bin sicher, dass sie nicht lange auf sich warten lassen wird – ebenso wie, so hoffe ich, die tschechische Ausgabe von Mareks Monografie und Lesebuch.
Zum Schluss muss eingeräumt werden, dass wohl auch nach der Herausgabe dieser beiden entdeckungsreichen Publikationen von Libor Marek die „leidenschaftlichen Diskussionen der Walachei-Forscher“ darüber, „ob das Forschungsobjekt tatsächlich (und in vorausgesetzter Gestalt) existiert“ (S. 28), nicht verstummen werden, wie der Autor selbst in gewitzter, (selbst-)ironischer Art hinzufügt. Was auch nicht verstummen wird, und das ist wunderbar, sind die Diskussionen darüber, ob es adäquater ist, die sprachlich minoritäre Literatur einer bestimmten (peripheren) Region gesondert zu beschreiben oder gemeinsam mit der sprachlich unterschiedenen Literatur derselben Region, im Rahmen von ein- oder mehrsprachigen literaturhistorischen Kontexten oder im Rahmen von territorialen Kontexten oder aber ganz anders. Mit seiner Monografie über die deutschwalachische Literatur und dem dazugehörigen Lesebuch legt der Autor jedoch zweifellos Material vor, das für weitere Forschungen unerlässlich sein wird, seien sie ähnlich oder anders konzipiert. Seine Typologie der Trajektorien (Bourdieu) von Akteuren des sprachlich minoritären Segments einer Regionalliteratur ist auch für weitere Überlegungen zum Verhältnis von Literatur, Regionalität/Zentralität und Ein-/Mehrsprachigkeit sehr gut nutzbar.
Übersetzung: Lena Dorn
Libor Marek: Zwischen Marginalität und Zentralität. Deutsche Literatur und Kultur aus der Mährischen Walachei (1848–1948). Zlín: Univerzita Tomáše Bati, 2018, 202 S.
Libor Marek: Bilder und Stimmen des anderen deutschen Ostens. Eine kritische Edition der Werke deutscher Autoren aus der Mährischen Walachei. Zlín: Univerzita Tomáše Bati, 2018, 199 S.