Es schreibt: Manfred Weinberg
(E*forum, 2. 1. 2020)Auf dem rückwärtigen Umschlag des Romans Winterbergs letzte Reise (München: Luchterhand, 2019) von Jaroslav Rudiš, seinem ersten in Deutsch verfassten Buch, liest man: „So wurde die Geschichte Mitteleuropas noch nie erzählt: eine abenteuerliche Eisenbahnreise durch ein verschwundenes Land.“ Die Diagnose ist bei näherem Zusehen befremdlich, denn sie setzt zum einen voraus, dass Mitteleuropa tatsächlich einmal „ein Land“ gewesen ist, zum anderen, dass es dieses „Land“ nicht mehr gibt. Allerdings wusste schon Milan Kundera: „Central Europe is not a state: it is a culture or a fate. Its borders are imaginary and must bedrawn and redrawn with each new historical situation.“ (The Tragedy of Central Europe, in: New York Review of Books 31 [1984], Nr. 7, S. 34) Dann aber gibt es Mitteleuropa noch. Doch wo liegt es?
Auf einer offiziellen Website der EU werden als zu den förderfähigen Gebieten Mitteleuropas gehörig aufgezählt: „Austria, Croatia, Czech Republic, Germany, Hungary, Italy, Poland, Slovakia and Slovenia“ (https://www.interreg-central.eu/Content.Node/CENTRAL-EUROPE-programme.html). Wenn die Tschechische Republik aber so unbezweifelbar zu Mitteleuropa gehört, warum wurde ich dann etwa zur Eröffnung einer Ringvorlesung über Metropolen des Ostens mit einem Vortrag über Prag eingeladen? Dass man Prag als osteuropäische Stadt versteht, hat offenbar mit der anhaltenden Prägung durch die gut vierzig Jahre der europäischen Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Aber ging dem nicht eine Jahrhunderte währende Geschichte voran, in der wohl kein Westeuropäer auf die Idee gekommen wäre, in Prag schon den Osten beginnen zu sehen? Und ist dieser „Ostblock“ nicht auch schon wieder seit dreißig Jahren Geschichte? Es gibt also gute Gründe, sich wieder einmal mit Mitteleuropa zu befassen.
Winterbergs letzte Reise ist eine klassische „road novel“, wobei zur Reise allerdings keine Straßen genutzt werden, sondern diese mit der Eisenbahn erfolgt. Rudiš schickt zwei sehr ungleiche Männer durch Mitteleuropa: Zum einen Wenzel Winterberg, geboren 1918 in Liberec (Reichenberg) und nach dem Zweiten Weltkrieg von dort vertrieben. Zum anderen Jan Kraus, der in Vimperk, dem früheren Winterberg, im Böhmerwald geboren wurde. Nach einem Gefängnisaufenthalt als Folge seiner Flucht aus der Tschechoslowakei, bei der ein Mensch zu Tode kam, lebt er seit 1986 als Altenpfleger in Deutschland, genauer aber als eine Art mobiles Sterbehospiz, da er Todkranke auf ihrer „Überfahrt“ (S. 16) begleitet. In dieser Funktion wird er auch für Winterberg engagiert. Die Erzählungen Kraus‘ von seiner Heimat und nicht zuletzt die Namensgleichheit seines Nachnamens mit dem Geburtsort von Kraus machen Winterberg jedoch wieder munter, so dass er mit seinem Pfleger noch einmal durch Mitteleuropa reisen will – genauer nach Sarajevo, von wo er die letzten Lebenszeichen der großen Liebe seines Lebens, der Jüdin Lenka Morgenstern, erhalten hat. Doch die beiden kommen nicht bis nach Sarajevo – auch weil dorthin von Zagreb aus nur noch ein Bus fährt, den sich der Zugfanatiker Winterberg zu benutzen weigert.
Diese knappe Inhaltsangabe unterschlägt einen entscheidenden Aspekt des Romans, denn lange Passagen des Buches sind von Winterberg in aller Ausführlichkeit vorgelesene Zitate aus einem Reiseführer – allerdings einem besonderen: Baedekers Österreich – Ungarn. Handbuch für Reisende von 1913, dem letzten Reiseführer für „Kakanien“ vor dem Ersten Weltkrieg. Dabei gilt für Winterberg: „1913 war die Welt noch in Ordnung.“ (S. 245), auch wenn er weiß, dass das interkulturelle „Zusammenleben in Österreich nicht so leicht [war], und zwar nicht nur zwischen Slawen und Deutschen“ (S. 391).
Der Roman beginnt mit Winterbergs Aussage: „Die Schlacht bei Königgrätz [von 1866] geht durch mein Herz“ (S. 9); diese Schlacht sei „der Anfang von allen unseren Katastrophen“ (S. 9). Das präludiert die düstere Grunddiagnose Winterbergs: Kein Mitteleuropäer kann der Gewaltgeschichte seines Kulturraums entgehen. Gleichzeitig beginnt auf formaler Ebene das Spiel mit fast unendlich vielen Wiederholungen – im Kleinen: ein von Winterberg immerfort wiederholtes „ja, ja“ (erstmals S. 9), flankiert von einem ebenso oft vorkommenden „traurig, traurig“(erstmals S. 10). Weiterhin findet sich die Aussage, dass eine bestimmte Form von Leichen „keine schönen Leichen“ seien, in stetiger Variation: „Strangleichen“ (S. 10), „Bierleichen“ (S. 15), „Beilleichen“ (S. 28), „Artilleriegranatenleichen“(S. 29) etc. pp.
Gleich am Anfang nimmt Winterberg (auch das später immer wiederholt) für sich in Anspruch: „ich schaue historisch durch“ (S. 10). Dieses „Durchschauen“ ist Gegenstand seiner wortreichen „historischen Anfälle[]“ (S. 12). Der Anspruch „durchzuschauen“ wird ergänzt durch den Vorwurf an Kraus, von Geschichte keine Ahnung zu haben; eine Diagnose, die später verallgemeinert wird: „nur sehr wenige Menschen schauen heute noch historisch durch, ja, ja, nur die historisch Kranken“ (S. 112). Kraus verbindet dabei in einer Selbstdiagnose sein mangelndes Wissen „[ü]ber Königgrätz und über Sarajevo“ (S. 47) mit einem mangelnden Wissen über sich selbst. Der Roman ist somit auch die Geschichte einer Initiation in ein Verständnis Mitteleuropas (und damit seiner selbst) – sowohl für Jan Kraus als auch für die LeserInnen dieses Romans. Dabei wird kein „happy end“ in Aussicht gestellt: „lieber Herr Kraus, ich weiß, was sie sagen möchten, zu viele Geschichten und zu viel Geschichte, ja, ja, es gibt kein Entkommen“ (S. 73).
Gleich zu Beginn des Romans taucht eine weitere Aussage auf, die den ganzen Roman durchzieht: „Schön ist es hier, wunderschön, wirklich the beautiful landscape of battlefields, cemeteries and ruins, wie der Engländer [ein Bomberpilot im Zweiten Weltkrieg, mit dem Winterberg in Berlin-Kreuzberg lange Gespräche über Geschichte geführt hat; M.W.] immer sagte“ (S. 13). Die schöne Landschaft Mitteleuropas ist also gezeichnet durch auf die Kriege zurückgehende Friedhöfe und Ruinen sowie „kontaminiert“ durch die oft unsichtbar gemachten Überreste der Schlachten.
Zugleich ist dieser Roman eine Auseinandersetzung mit dem „Herzstück“ dieses Mitteleuropas, Böhmen, und seiner besonderen Interkulturalität, die auch für Winterbergs Familie relevant ist. Zwar waren seine Mutter und sein Vater beide „Deutsche“, doch waren ihre politischen Sympathien deutlich anders: Winterbergs Mutter sympathisierte mit Henlein resp. Hitler, Winterbergs Vater dagegen war „vielleicht der treuste Tschechoslowake unter allen Reichenberger Deutschen überhaupt“ (S. 338). Dies führt im Übrigen auch zu Winterbergs Geheimnis. Während er zunächst immer wieder von den „Henleintrottel[n]“ (S. 133) spricht, wird spät im Roman klar, dass er damals selbst ein Anhänger Henleins war. Daraus ergibt sich: „Ich habe Lenka verraten, lieber Jan, ich habe sie umgebracht, ich bin der Mörder, den ich suche“ (S. 525), denn er war im Grunde froh, dass sie wegging. So ist auch der eigentliche Grund seiner Reise, dass er sich in Sarajevo ebenso wie Lenka, die dort vergeblich auf ihn wartete, aus dem Fenster stürzen will.
Nach diesem Geständnis brechen Winterberg und Kraus ihre Reise durch Mitteleuropa ab, fahren von Berlin aber noch einmal gemeinsam nach Peenemünde, wo Winterberg im Krieg als Soldat war. Dort sei er „an der Geschichte erkrankt“ (S. 533), indem er nach den tieferen Gründen seiner individuellen Schuld fragte. Er habe damals begonnen zu malen – unter anderem Lenka halbnackt. Ein Offizier habe ihn um dieses Bild gebeten und es „am 3. Oktober 1942 auf den Bug der Testrakete“ geklebt, so dass „die deutsche Nazirakete mit der böhmischen Jüdin Lenka aus Reichenberg als die erste Rakete in der Geschichte der Menschheit zum Himmel flog.“ (S. 530) Als sich Kraus und Winterberg Zugang zum Gelände einer Fabrik verschaffen, in der früher „die neuen Waffen für den Endsieg“ (S. 535) gefertigt worden waren, stehen sie plötzlich vor einer Rakete, an deren Bug tatsächlich die Zeichnung von Lenka klebt, wobei Rakete wie Bild wohl Kopien für ein Museum sind. Danach läuft Winterberg weg und Kraus hört nur noch „ein[en] riesige[n] Knall“: „Und dann sah ich das grelle Licht, das langsam hoch in den Himmel stieg.“ (S. 536) So verschwindet Winterberg aus diesem Roman; Kraus findet ihn nicht wieder.
Die Poetik eines Romans findet sich meist irgendwo in ihm ausformuliert – so auch hier, wenn es heißt: „während der Zugfahrt entsteht eine wunderschöne, die Seele beruhigende Eisenbahnmusik“ (S. 347). Später ist noch von der „Musik der Züge“ (S. 396) die Rede. Jaroslav Rudiš hat eine „Schienenoper“ (S. 402) geschrieben: Jenseits des Inhalts bilden die vielen Wiederholungen des Romans das einförmige Rattern der Eisenbahn nach. Der Roman ist eher von der Mündlichkeit eines Gesprächs geprägt; nur die Zitate aus dem Baedeker haben einen schriftlichen Duktus, so dass sie als verschriftlichtes historisches Wissen die für den gelebten Alltag stehende Mündlichkeit ergänzen.
Jaroslav Rudiš erzählt mit Winterbergs letzte Reise die Gegenwart eines Mitteleuropas, das sich aus seiner düsteren Geschichte nicht befreien kann, das aber andererseits auf eine beeindruckende Kontinuität eines interkulturellen Miteinanders zurückblicken kann. Rudiš hat dabei einen Weg gefunden, die mitteleuropäische Geschichte in eine spannende Handlung zu „verpacken“. Manche Kritiker ächzten zwar unter der Vielzahl von kolportierten Fakten und Namen, doch liegt gerade darin der besondere Wert des Buches. Man erhält immerhin einen Eindruck davon, was man alles wissen müsste, um die eigene mitteleuropäische Gegenwart auch aus der Geschichte heraus begreifen zu können. Solches Detailwissen um die Geschichte eines Teilkontinents, der sich im andauernden Modus der Krise befindet, kann vielleicht dazu beitragen, dass aus den aktuellen Krisen nicht wieder Kriege resultieren. Wenn allzu viele auf ein solches Wissen um die Geschichte verzichten – dann, so Winterberg, „darf man sich nicht wundern, was gerade passiert“ (S. 186). Der Roman sei deshalb dringlich zur Lektüre empfohlen.
Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise. München: Luchterhand, 2019, 543 S.