Es schreibt: Manfred Weinberg
(26. 9. 2019)Schon in der Besprechung von Marcel Krings Studie Franz Kafka: Der ‚Landarzt‘-Zyklus. Freiheit – Schrift – Judentum (Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2017) (siehe E*forum vom 11. 9. 2019) habe ich auf Manfred Engels Generaldiagnose bezüglich der Kafka-Forschung verwiesen: Gemeinsam sei allen Interpretationen, „dass sie [...] das ‚Eigentliche‘ ‚hinter‘ oder ‚unter‘ der ‚uneigentlichen‘ Textoberfläche nicht wirklich suchen, sondern bereits gefunden haben. Vor jeder Interpretation wissen sie, worauf der Text hinausläuft, hinauslaufen muss – und der Interpretationsakt besteht hauptsächlich darin, einen (mehr oder weniger) plausiblen Bezug zwischen der Textoberfläche und dieser ‚Bedeutung‘ herzustellen.“ (Kafka lesen – Verstehensprobleme und Forschungsparadigmen. In: Bernd Auerochs / Manfred Engel: Kafka-Handbuch, Stuttgart: Metzler, 2010, S. 424) Diese Diagnose bestätigt sich hinsichtlich Markus Grafenburgs Dissertation Gemeinschaft vor dem Gesetz. Jüdische Identität bei Franz Kafka (Wien: mandelbaum Verlag, 2016). Auch hier ist das Ergebnis schon im Titel formuliert: Alles Schreiben Kafkas war nur eine Auseinandersetzung mit der jüdischen Identität, genauer mit der „Conditio moderna Judaica“(S. 9), dem „Erlebnis [...] eines Bruches zwischen der eigenen Tradition und der je gegenwärtigen Situation“ (S. 9). Später heißt es entschieden: Niemand kann „Kafka [...] verstehen, [d]er ihn nicht als Jude begreift“ (S. 139). Deshalb solle zum einen „versucht werden, den ‚Sitz im Leben‘ von Kafkas Texten biographisch, sozialhistorisch und theologisch zu ermitteln, zum anderen aber die Welt, die die Texte darstellen, zu präsentieren“, um den Bezug von Leben und Werk aufeinander zu klären und damit, was „über Kafkas Selbstverständnis als Schriftsteller auszusagen ist.“ (S. 12) Grundsätzlich folgt die Studie also der hermeneutischen Voraussetzung einer alles entscheidenden Autorintention, auch wenn Grafenburg anders als Krings keinerlei Emphase zeigt, dass Kafkas Texte gegen den vermeintlichen Konsens ihrer Uninterpretierbarkeit doch nach den Regeln der Hermeneutik auslegbar seien.
Der Bezug der Texte auf das Leben Franz Kafkas prägt dann auch den Aufbau der Studie: Es finden sich Interpretationen der Erzählungen Das Urteil (S. 22ff.) und Vor dem Gesetz (S. 40ff.), der drei fragmentarischen Romane (S. 60ff.), gefolgt von Interpretationen der Erzählungen Beim Bau der chinesischen Mauer, In unserer Synagoge lebt ein Tier und Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse (S. 141ff.). Danach geht Grafenburg zum Biographischen über – zunächst in der Befassung mit dem Brief an den Vater (S. 165ff.), der hier einmal mehr ganz als Ego-Dokument gelesen wird, obwohl doch vor allem sein Schluss Anderes nahelegt. Weitere Kapitel gelten dem Verhältnis Kafkas zu Felice Bauer (S. 178ff.), Milena Jesenská (S. 198fff.) und Dora Diamant (S. 210ff.). Es folgt „Zusammenfassung und Schluss“ (S. 222ff.).
Während es den der Biographie Kafkas geltenden Kapiteln gelingt, die Frage nach der „Conditio moderna Judaica“ als Lebensthema Kafkas zu erweisen (auch wenn die Diagnose der Monokausalität eine der in der Kafka-Forschung üblichen Übertreibungen darstellt), unterstehen die Interpretationen dem Verdikt von Manfred Engel: Alles ist schon vorentschieden. Der vorausgesetzten These wird die genaue Lektüre geopfert und nur das in die Analysen aufgenommen, was sie stützt.
Bezugsgrößen der Interpretationen sind zum einen – vor allem in der Auseinandersetzung mit Vor dem Gesetz – die Lektüre Jacques Derridas (von der unklar bleibt, wie sie zum hermeneutischen Duktus von Grafenburgs Studie passen soll) (Préjugés. Vor dem Gesetz, Wien: Passagen, 1992), zum anderen das im Briefwechsel zwischen Adorno und Benjamin hinsichtlich der Kafkaschen Texte Diskutierte (vgl. Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2. Aufl., 1992). Weiterhin wird öfters auf Stéphane Mosès’ Studie Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Gershom Scholem (Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag, 1994) verwiesen. Im Ausgang von dieser Studie findet sich eine Zusammenfassung der Grundannahmen des Buches: Nach Mosés veranschauliche „Kafkas Schreiben [...] (erstens) die Krise der jüdischen Tradition in der Moderne. Ihre metaphorische Darstellung mache (zweitens) Paradoxe und Widersprüche sichtbar, die der jüdischen Mystik seit je innewohnten. Es handele sich hier (drittens) um historische Parallelen, denen sich der Autor niemals bewusst gewesen sei. Als Ähnlichkeiten zwischen der fiktiven Welt Kafkas und gewisser häretischer Strömungen innerhalb der jüdischen Mystik ließen sich (viertens) nach Scholem feststellen: die obsessive Fixierung auf das Gesetz in einer Welt, aus der Gott entschwunden sei, die Unausdeutbarkeit und Unvollziehbarkeit des Gesetzes, der Gedanke der Unerreichbarkeit der Wahrheit. Hinzufügen ließe sich (fünftens), dass Kafka, indem er die Frage nach dem Gesetz festhält, sich als ‚säkuralisierter Schriftgelehrter‘ [...] in die jüdische Tradition einreiht und sie fortführt.“ (S 124f.) Das sind alles bedenkenswerte Hypothesen, die in geduldigen Lektüren zu überprüfen wären. Hier aber wird stattdessen ein Ausschlusskriterium formuliert: Gelesen wird nur, was zu diesen Hypothesen stimmt.
Befremdlich ist der Einstieg in die Studie. Angeführt wird ein Tagebucheintrag vom 29. Oktober 1911, in dem Kafka eine ihm „von Löwy [dem Leiter der ‚ostjüdischen‘ Theatergruppe, die damals in Prag gastierte; M.W.] erzählte Geschichte“(S. 17) wiedergibt, in der unter anderem von „rabbi Elieser“ die Rede ist, der „mit 40 Jahren Freidenker“ (Franz Kafka: Tagebücher, Frankfurt a. M.: Fischer, 2002, S. 209) geworden sei. Grafenburg versteht diese einmalige Erwähnung als umfassenden „Selbstentwurf“ Kafkas „als Elischa ben Avuja“ (S. 18), „einer häretischen Gestalt im rabbinischen Judentum“ (S. 17). Die Bezugnahme erlaube es Kafka, „sich einerseits die eigene Tradition zu eigen zu machen, und andererseits, eine häretische Figur der Vergangenheit in eine subversive Gestalt der Moderne zu verwandeln“ (S. 18).Grafenburg gibt sich keinerlei Mühe, diese vermeintliche Identifikation Kafkas mit dem häretischen Rabbi zu untermauern. Man kennt das aus der Sekundärliteratur zu Kafka: Eine Textstelle wird als zentrale Bezugsgröße gesetzt und an ihr die ganze Interpretation ausgerichtet. Aber außer dem zwischen den Zeilen herauszulesenden ‚Entdeckerstolz‘ des Autors findet sich keinerlei Rechtfertigung für diesen vermeintlichen Universalschlüssel zu Kafkas Werk.
Die Interpretationen machen allesamt Jüdisches zum Angelpunkt der Texte. Im Falle des Urteils sei entscheidend, dass die Erzählung in der Nacht nach Jom Kippur geschrieben wurde. Die Lektüre von Vor dem Gesetz bringt „das jüdische Gesetz, die Tora, mit Kafkas ‚Gesetz‘ in Verbindung“ (S. 41). Der Verschollene wird als „Ahasver-/Moses-Figuration“ (S. 60) und der Roman als „jüdischer Bildungsroman“ (S. 75) verstanden. Die Process-Interpretation will klären, was es mit den ‚Gericht auf den Dachböden‘ auf sich hat – und natürlich erinnern die Dachböden an die „enge und ‚schmutzige‘ Welt [...] ‚ostjüdischer‘ Jeschivot“ (S. 95). Die Welt des Schloss-Romans ist, man erwartet es schon, die Welt von Kafkas „Großvater, die ‚vormoderne‘ Welt des böhmischen Dorfjudentums, in der man sich in der jüdischen Tradition noch heimisch fühlte“ (S. 119) und vermesse – schließlich geht es um einen Landvermesser – „das Land zwischen jüdischer Tradition und Moderne“ (S. 226). Beim Bau der chinesischen Mauer stelle „Kafkas Verhältnis zum Zionismus“ (S. 141) dar, In unserer Synagoge lebt ein Tier sei eine Darstellung des Verhältnisses der „‚Vorwelt‘ (Benjamin)“ (S. 152) zum Gesetz, und „die Geschichte von Josefine und dem Mäusevolk [lasse] Kafkas Sehnsucht erkennen, „zu einem ‚Lied‘ in seinem (west)jüdischen Volk zu werden“ (S. 141). Auch der Brief an den Vater kreist für Grafenburg einzig um die Frage des Judentums und sei „für eine ganze Generation“ (S. 168) geschrieben. Folgerichtig scheitern die Beziehungen zu Felice Bauer und Milena Jesenská an unterschiedlichen Haltungen zum Judentum und ist die Beziehung zur „Ostjüdin“ (S. 221) Dora Diamant eine, die Kafka noch einmal vor die „Schwelle des Glücks“ (S. 210) bringt.
Die vorstehende Zusammenfassung macht überdeutlich, dass nur das gelten gelassen und ausgelegt wird, was zur vorab nominierten These passt. Dabei ist es hier wie meist in der ‚Kafkologie‘: Man lernt enorm viel über den Horizont, der als der alles entscheidende vorab festgelegt worden ist, was in diesem Fall der umfassenden Kenntnis der jüdischen Tradition seitens des Autors geschuldet ist. Für die Interpretationen aber gilt die Nachfrage von Marcel Krings: „welche Relevanz besitzt [...] eine Lesart, [...] [die] dem unendlichen Feld der Deutungen nur eine weitere hinzufügt?“ (Krings: Franz Kafka: Der ‚Landarzt‘-Zyklus, S. 8). Die Antwort liegt auf der Hand.
Markus Grafenburg: Gemeinschaft vor dem Gesetz. Jüdische Identität bei Franz Kafka, Wien: mandelbaum Verlag, 2016, 247 S.