Es schreibt: Václav Maidl
(E*forum, 28. 8. 2019)Es war für manche wohl eine Überraschung, als zu Ende 2016 im Pardubitzer Verlag Vespero eine zweisprachige Lyrikanthologie aus dem Werk der Elbgebiets-Dichters Camil Hoffmann, Rudolf Fuchs und der Gebrüder Franz und Hans Janowitz erschien. Als Titel wurde der Anfangsvers eines der Gedichte Camil Hoffmanns, Rovinám rodným náleží písně mé... [Ich singe meine Lieder der Ebenen / meiner Heimat] gewählt, als Herausgeber figuriert die Bohemistin Lenka Kusáková. Eine Überraschung ist diese Anthologie für die meisten tschechischen Leser deshalb, weil wohl nur wenige von ihnen das tschechisch konnotierte Elbgebiet mit hier geborenen deutschsprachigen Dichtern verbunden haben, die sich an vielen Stellen in ihrem Werk auf diesen Raum beziehen (offenbar ist das v. a. im Werk späterer Emigranten wie Hans Janowitz und Rudolf Fuchs sowie in vielen der hier veröffentlichten Gedichte Hoffmanns). Mehr Licht in die Finsternis des Geheimnisses bringt der Untertitel des Buches Výbor z tvorby polabských židovských básníků [Auswahl aus dem Werk jüdischer Dichter des Elbgebietes], denn für viele in Böhmischen Ländern geborene Juden galt das Deutsche im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts immer noch als die erste Kultursprache (vgl. das Bekenntnis von Max Brod in Streitbarem Leben), abgesehen vom pragmatischen Zugang zur ersten Staatssprache in der Habsburgermonarchie.
Die Publikation trägt somit unabsichtlich zur territorialen, nicht sprachlichen Auffassung der Literatur bei (in der Reihe Dichter des Elbgebietes, herausgegeben von dem oben genannten Verlag, handelt es sich bereits um den 16. Band und innerhalb des Verlagsprogrammes um insgesamt den vierten, der sich dem literarischen Gedächtnis dieser Gegend widmet). Trotzdem stolpert man über das Sprachkriterium (Literatur wird dennoch in einer Sprache geschrieben): die deutsch schreibenden Dichter des Elbgebietes erwarben ihren literarischen Ruhm hauptsächlich in Kulturzentren, die tschechischen Mitbürger in ihren jeweiligen Heimatorten (Kolín, Poděbrady) nahmen ihn wahrscheinlich nicht besonders wahr. Die Verknüpfung der Literatur mit der Sprache stellt allerdings ein größeres Hindernis dar als gedacht. Es geht nicht nur um die Sprache des Schreibenden, sondern auch um die Sprachkompetenz des tschechischen Publikums, welches das Werk rezipiert – diese ist, handelt es sich konkret um die Elbeebene um Kolín und Poděbrady, stark monolingual (also tschechischsprachig). Die Wahl der literarischen Sprache ist bei den vier erwähnten Autoren sicherlich auf ihr Studium an deutschsprachigen Prager Gymnasien und auf das rege deutschsprachige Kulturleben in Prag zurückzuführen. Der Familienhintergrund spielte hier von Fall zu Fall eine Rolle: Ambivalent ist er bei Hoffmann; bzgl. des Tschechischen als Muttersprache bei Fuchs vgl. sein Bekenntnis, publiziert in Serkes Buch Böhmische Dörfer (Wien, 1987) auf Seite 249; angesichts der Vornamen Hans, Franz und Ella in der Familie Janowitz dürfte man Deutsch als Muttersprache, oder wenigstens als Alltagssprache, voraussetzen, und zwar trotz der Tatsache, dass Franz Janowitz sich in den ersten Jahrgängen des Piaristengymnasiums Am Graben zum Tschechischen als seiner Muttersprache bekannte (vgl. Jaromír Czmero: Der bekannteste Unbekannte der Prager deutschen Literatur – Franz Janowitz, Innsbruck, 2015, S. 14). Ist nun aber die Sprachfrage in der Literatur derart wesentlich? Ist nicht grundlegend, was und wie es mitgeteilt wird? Im Falle der Lyrik geht es nicht nur um „Fakten“, sondern auch um Gefühle, Stimmung, um Bevorzugung bestimmter zeitbedingter Themen oder Ästhetiken – und gerade hierin lassen sich Bezugspunkte mit der Poesie „der anderen Landessprache“ verfolgen. Das erste im tschechischsprachigen Milieu verbrachte Jahrzehnt zeigt im Falle der angeführten Dichter zweierlei Auswirkungen: Ohne dass sie sich dessen bewusst gewesen wären, hat sie das tschechischsprachige Milieu beeinflusst. Jürgen Serke brachte es im Falle von Fuchs wie folgt auf den Punkt:
„Die Faszination, die seine Gedichte einst in Deutschland auslösten, ist eine Faszination der Fremdheit. Einer Fremdheit deshalb, weil es hier jemandem gelingt, die größere sinnliche Ausdruckswelt des Tschechischen deutsch darzustellen. In Rudolf Fuchs übersetzte sich Jüdisches, Tschechisches, Deutsches zu einer eigenartiger Dreifaltigkeit.“ (Jürgen Serke: Böhmische Dörfer, S. 247)
Manche von ihnen (etwa Hoffmann, Fuchs) wurden infolge ihrer erlebten (nicht erlernten) Kenntnis der tschechischen Sprache und des Milieus zu Vermittlern zwischen beiden Sprachgemeinschaften (vgl. z. B. Hoffmanns Übersetzungen von Masaryks und Kamil Kroftas Büchern oder die berühmte Übertragung Bezručs Schlesischer Lieder von Fuchs). Durch den Umweg der Sprache kommen wir somit zur räumlichen Auffassung der Literatur zurück.
Zahlreiche Gedichte (auswahlweise seien etwa Hoffmanns Ich singe [Zpívám] und Die Heimat [Otčina], Fr. Janowitz‘ Die Weide. Eine böhmische Sage [Vrba. Česká pověst], H. Janowitz‘ Starý dům [Das alte Haus], Vzpomínka v krajině [Gedenken in der Landschaft] oder Uprostřed osudu [Inmitten des Schicksals], Fuchs‘ Mé matce VII [Meiner Mutter VII], Nám na vsi [In unseren Dörfern], Opět vyvstávaly [Wieder zogen] genannt) zeigen die Verankerung in der Heimat und deren Landschaft, Gestalt und Geist, sie bleiben der konkreten Region tief verhaftet. Diese Heimatbezogenheit ließe sich ebenso bei vielen tschechischen Dichtern verfolgen (sie dürfte ja sogar als eine Konstante der tschechischen Lyrik ausgemacht werden), sie ist allerdings auch für die sog. Heimatliteratur zentral, die als künstlerisch minderwertig, auf eine bestimmte Region begrenzt und daher nicht übergreifend klassifiziert wird. Ich lege hier eine andere, nicht ablehnende Sicht auf dieses Thema vor, die in den Einträgen von Josef Kroutvor, dem Fortsetzer der Landschaftslyriktradition, vorzufinden ist:
„Heimatliteratur, das aus den regionalen Quellen sich speisende Schrifttum, gibt es hierzulande seit Jahren nicht mehr. Sie wurde von der starken städtischen Literaturelite der Ersten Republik und dann sicherlich auch durch die kommunistische Kulturpolitik überwälzt. Das Dorfmilieu thematisierte im 20. Jahrhundert nur die katholische Moderne, z. B. Jan Čep, Jan Zahradníček oder Jakub Deml, diese Dichterhatten allerdings mit Unverständnis, Vorurteilen der Avantgarde und letzten Endes auch mit der politischen Verfolgung der Kommunisten zu kämpfen.“ (Josef Kroutvor: Lesní eseje [Waldessays], Zlín, 2019, S. 143f.)
Kroutvors Sätze beziehen sich zwar auf die tschechische Literatur, sie entstanden jedoch im Prozess des Nachdenkens über das Gebiet des Gratzener Berglandes, das früher deutsch besiedelt war. Kontextuell ist es daher mit der Kultur der „anderen Sprache“ verbunden, was die auffällige Benutzung des deutschen Begriffs „Heimatliteratur“ im tschechischen Text illustriert. Ich stelle mir die Frage, inwiefern wir die sog. Heimatliteratur tatsächlich mit Verdacht und Missfallen betrachten sollen und worin sie sich von den in der rezensierten Anthologie publizierten Gedichten unterscheidet. Es sei zunächst das Gemeinsame erwähnt: eine positive, wohl sogar idealisierte Beziehung zur Heimat. Vielen Gedichten ist ferner ihr lyrischer Charakter gemeinsam, das Auffangen eines bestimmten Augenblickes und die Naturstimmung. Bei den Dichtern des Elbgebietes fehlt es sowohl an nationaler Proklamation als auch an vom Pathos begleiteter Kampfstimmung, wie man sie etwa aus dem Werk einiger Böhmerwäldler (wie Johann Peter oder Hans Watzlik) kennt, sie brauchten sich nämlich national nicht abzugrenzen. Im Gegenteil: die Lyrik der deutschschreibenden Dichter des Elbgebietes zeichnet sich durch eine gewisse Melancholie aus (wenigstens in dieser Auswahl), die dem Schreiben von Stimmungslyrik in der Moderne entsprechen mag (beim Lesen der angeführten Verse Hoffmanns, v. a. des Gedichtes Die Heimat [Otčina], fühle ich mich an die Abenddämmerungsstimmung bei Antonín Sova erinnert), die sicherlich mit der Erinnerungsperspektive in den Gedichten von H. Janowitz und R. Fuchs zusammenhängt.
Die schmale Auswahl (die Bände der Reihe Dichter des Elbgebietes zählen immer nur 96 Seiten), versehen mit Kurzdarstellungen zu den jeweiligen Autoren, lassen nicht erahnen, wie viel (nicht honorierte) Forschungsarbeit sich hinter der Zusammenstellung eines solchen Bandes verbirgt (es geht nicht nur um das Durchforsten alter Lyriksammlungen, sondern auch um viele in Archiven verbrachte Stunden, wegen des Nachlasses von Hans Janowitz musste L. Kusáková sogar das Filmarchiv in Berlin besuchen). Schade, dass auf diesen großen Einsatz dann letztendlich mehrere Tippfehler (Reiner Maria Rilke oder R. R. Rilke oder der Name des Verlegers Kurt Wolf, die Schreibweise der tschechischen Variante des Stadt namens Salzburk, „statut politického uprchlíka“[Statut eines politischen Flüchtlings] oder die Datierung der lyrischen Texte auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Anmerkung des Herausgebers) sowie kleine Ungenauigkeiten Schatten werfen (in der Anthologie Pražská léta německých a rakouských spisovatelů [Prager Jahre deutschsprachiger Autoren] von Pravoslav Kneidl befinden sich keine Texte von Hans Janowitz, wie auf Seite 8 angeführt – wenigstens nicht in deutscher Übersetzung aus dem Jahre 2003; die Herder-Blätter erschienen weder 1901–1902 [S. 35] noch 1911–1913 [S. 57], sondern von April 1911 bis Oktober 1912). Die fehlenden zwei Verse in Fuchs‘ Gedicht Mé matce III [Meiner Mutter III] lässt die Frage aufkommen, ob es sich um die Absicht der Übersetzerin oder um eine Unterlassung des Herausgebers handle. Meiner Meinung nach hätte in der Quellen- und Literaturliste auch Hoffmanns in der Kurzdarstellung erwähntes Politisches Tagebuch aufscheinen sollen.
Das Angeführte sollte jedoch den Hauptverdienst der Anthologie nicht schmälern und zwar, dass sie die Existenz der Dichtung, die Werdegänge der Dichter des Elbgebietes, in Erinnerung ruft und somit eine Möglichkeit für den tschechischen Leser darstellt, sich mit diesen Texten in Übersetzung der führenden tschechischen Übersetzerinnen, Michaela Jacobsenová und Věra Koubová, vertrautzumachen.
Übersetzung: Lukáš Motyčka
Rovinám rodným náleží písně mé... Výbor z tvorby polabských židovských básníků. Hrsg. von Lenka Kusáková. [Polabští básníci, Bd. 16] Pardubice: Vespero s. r. o., 2016, 131 S.