Es schreibt: Václav Petrbok

(E*forum, 1. 5. 2019)

Kurt Krolop (1930–2016), Autor der in der vorliegenden Rezension besprochenen Studien des Übersetzungsbandes Studie o německé literatuře [Studien zur deutschen Literatur] war auch in seinen letzten Lebensjahren eine unübersehbare Persönlichkeit des kulturellen Lebens in Prag. Den gesundheitlichen Beschwerden zum Trotz nahm er an diversen Fachveranstaltungen, Vorträgen und Autorlesungen teil (der Verfasser der vorliegenden Rezension empfindet es als eine Art Genugtuung, dass es gelang, Kurt Krolop 2008 die Teilnahme an der Tagung über Paul Eisner zu ermöglichen, die in Ústí / Aussig in Nordböhmen, dem Heimatland Kurt Krolops abgehalten wurde). Krolop stach durch seine eruptive und ansteckende Bereitschaft hervor, mit seinen Kollegen über Literatur und Kultur zu diskutieren, er sprach allerdings auch gern über sein eigenes Leben zwischen Graber, Halle, Berlin und Prag. In die letztgenannte Stadt kehrte er nach 1989 zum zweiten Mal (und endgültig) zurück, wiewohl sich ihm nach der Wende auch anderswo verlockende Möglichkeiten einer Karriere und der Betätigung seines Fachs anboten. Eine solche Treue der Heimat, den alten Freunden sowie den Fachthemen gegenüber ist heutzutage nicht unbedingt üblich und mag vielleicht altmodisch anmuten, für Kurt Krolop war sie – bei all seiner Aufgeschlossenheit für neue Themen und Kontakte – jedoch typisch. Zusammenhängen mag dies wohl mit einem gewissen Maß an Eigensinn, mit seinem Konservativismus (der jedoch nicht das Gedankliche betraf) und sicher auch mit seinem Willen, das Umfeld seiner eigentlichen Themengebiete zu durchdenken, sich mit den vergangenen sowie gegenwärtigen Ereignissen zu beschäftigen, die Möglichkeiten des Philologen und Literaturforschers in der Gegenwart auszuloten, also immer danach zu fragen: „Wie soll ich dies und jenes handhaben“. Vielleicht können wir in diesen Tendenzen zur (Selbst-)Reflexion die Nähe zum Arbeits- und Lebensmodus von Karl Kraus verfolgen, dem sich Krolop „schicksalhaft“ zuwandte und mit welchem ihn auch andere für Krolop kennzeichnende Persönlichkeitsmerkmale verbanden, wie etwa die (Selbst-)Ironie, die Skepsis gegenüber Klischees und diverse harmonisierende außerliterarische Konzessionen.

 

Der breiteren Kulturöffentlichkeit (mit Ausnahme der germanistischen Gemeinde) war Krolop bis unlängst leider relativ unbekannt. Diese einigermaßen banale Tatsache ist auf die andauernde relative Verschlossenheit des tschechischen Milieus gegenüber denjenigen Persönlichkeiten zurückzuführen, die von „anderswoher“ kommen, in diesem Milieu trotzdem weiterhin leben und es durch ihre Arbeit sogar bereichern, jedoch gewissen Voraussetzungen nicht „gerechtwerden“, wodurch die Abkapselung der tschechischen Kultur noch mehr zutage tritt. In erster Reihe ließe sich die Verwendung der tschechischen Sprache nennen. Obwohl auch in diesem Punkt der Schein trügt (Krolop sprach sehr gut Tschechisch, auch übersetzte er aus dem Tschechischen ins Deutsche, viele seiner Studien publizierte er in tschechischen Übersetzungen, einige von ihnen erschienen sogar ausschließlich auf Tschechisch), hatte das anzuzweifelnde Sprachkriterium eine geringe Rezeption seiner Texte sogar in benachbarten Bereichen (etwa innerhalb der Bohemistik) zur Folge. Als wiederholte sich in der tschechischen Germanistik das alte Problem mit der Verwendung der (ehemaligen) zweiten Landessprache, mit dem bereits Arnošt Kraus und vielmehr noch Otokar Fischer zu kämpfen hatte. Wenn man darüber hinaus einen verbreiteten Widerwillen, eine Abneigung gegenüber allem Deutschen in Betracht zieht, die in den Geisteswissenschaften nach 1990 teilweise von einem anders gearteten Nachholbedarf (nämlich die anglophone sowie frankophone Kultur- und Wissenschaftslandschaft betreffend) abgelöst wurde, nimmt es nicht wunder, dass die meisten Studierenden sowie viele PädagogInnen in Tschechien von Krolops Werk keine Ahnung haben. Wer aber sollte seine Texte lesen und weiterdenken, wenn nicht sie? Dennoch bildeten viele der heute lauthals und programmatisch diskutierten Themen (wie etwa Transkulturalität, Mehrsprachigkeit, die Loyalitäts- und Identitätsfrage in der Kultur und Literatur oder aber eine neue Auffassung von Übersetzung) bereits vor vierzig Jahren einen nicht proklamierten, umso mehr natürlichen Bestandteil von Krolops wissenschaftlichen Bemühungen.

 

Eine schrittweise Veröffentlichung von Krolops Werk in tschechischer Sprache (bis dato sind zwei schmale Bände erschienen, die einerseits Nachworte zu Autoren der deutschen Klassik und Romantik in der Übersetzungsreihe des Odeon-Verlags, andererseits Krolops zentrale Studie Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur des „expressionistischen Jahrzehnts“ umfassen) gipfelt nun in der Herausgabe des umfangreichen Bandes Studie o německé literatuře [Studien zur deutschen Literatur]; an seiner Realisierung – in Zusammenarbeit mit dem Kollektiv der ÜbersetzerInnen, die sehr oft auch Krolops Studenten waren – arbeitete Krolops Kollege und Freund Jiří Stromšík, der den Band auch mit einer Auswahlbibliographie und einem Vorwort versah. Das großzügig ausgestattete Buch – es handelt sich bereits um den vierundzwanzigsten Band der herausragenden Edition Paprsek im Verlag Triáda – ergänzen zwei Bilddokumente sowie das lebhafte, ursprünglich 2006 auf deutsch gedruckte Interview mit Kurt Krolop, das Peter Becher, der Geschäftsführer des Adalbert Stifter Vereins in München, führte. Dies prägt dem Buch das Merkmal einer persönlichen Zeugenaussage, eines Berichts ein. Die Auswahl wurde noch in Zusammenarbeit mit dem Autor der Texte konzipiert (einige Übersetzungen konsultierte Krolop mit dem Herausgeber sogar). Im Buch finden sich fünf zentrale Themenbereiche: Goethe, Prager deutsche Literatur, Franz Kafka, Karl Kraus, tschechische Autoren und deutsche Literatur.

 

Der Gegenstand der folgenden Anmerkungen ist nicht Krolops fachliches Vermächtnis als solches, wie es im Band präsentiert wird, sondern der Teil, der sich auf das ganzheitliche, gebietsbezogene Studium der Literatur und Kultur der böhmischen Länder bezieht. Wiewohl sein Fachinteresse auch „rein“ germanistischen Themen galt (der Herausgeber weist auf die unsignierten Kapitel zur deutschen und österreichischen Literatur des 19. Jahrhunderts hin, die im 6. bis 8. Band der synthetischen Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart des Ostberliner Verlags Volk und Wissen erschienen), bildeten die beiden Sprachkulturen (also die der tschechischen sowie der deutschen Sprache) natürlich und spontan eine Art Horizont für die Überlegungen des Autors. Es überrascht also nicht, dass in der Studie über Goethes späte Gedichte auch deren Leser Karel Hynek Mácha erwähnt wird oder dass im Rahmen der Erklärung des „Prager“ Interesses an Karl Kraus die tschechische Presse eingehend durchforstet wurde. Keine Angabe (etwa in den bereits berühmt gewordenen Fußnoten sowie in seinen komplexen Satzgebilden) war jedoch Selbstzweck – einerseits bildeten diese Informationen den dargestellten historischen Kontext mit, andererseits verwiesen sie auf andere, nur angedeutete Kontexte. Diese permanente Grenzüberschreitung von Krolops philologischem Forschen ist zweifellos auf seine assoziative Denkweise, seinen unstillbaren Wissensdrang und den Fokus aufs Detail zurückzuführen, die sich als Vorliebe für die Heuristik (etwa in der Arbeit über die Erinnerungen Anna Lichtensterns an Franz Kafka oder in der bereits erwähnten Studie über die Geschichte der deutschsprachigen Literatur Prags vor dem Ersten Weltkrieg) manifestiert hat. Es sollte allerdings auch das keineswegs kleine Maß an Demut erwähnt werden, die Krolop zwang, die eigenen erreichten Leistungen und Erkenntnisse immer aufs neue kritisch zu prüfen.

 

Im Wissen um diese Maximen, denen er nie untreu wurde, überzeugen etwa auch Krolops leicht korrigierende Äußerungen über Eisners in der Zeit variierende Beobachtungen des tschechisch-deutschen Kulturaustauschs oder über dessen Konzept des „dreifaches Ghettos“ der deutschschreibenden Prager jüdischen Autoren, das Krolop auf differenzierte Weise als Resultat von Eisners erstrebter (Selbst-)Projektion und (Selbst-)Reflexion deutet. Andernorts machte Krolop auf die überraschende Nicht-Angabe des Romans Witiko von Stifter im Buch Stará historie česká v německé literatuře [Die alte tschechische Historie in der deutschen Literatur] des „Nestors der tschechischen Germanistik“, Arnošt Kraus aufmerksam, womit er Kraus‘ ambivalentes Verhältnis zur deutschgeschriebenen Literatur böhmischer Provenienz kurz und geistreich zutage förderte. Von der Strategie einer konzentrierten philologischen Analyse zeugen etwa Krolops Studien zu Čapeks „Molchhymne“ (der Hinweis auf Karl Kraus als kryptische Inspirationsquelle für Čapek) oder aber Texte über das Zitat als Potenzierung der Phrase bei Jaroslav Hašek und Karl Kraus (mit wortwörtlichen Übernahmen bei dem Wiener Autor) sowie bei Karel Poláček.

 

Nicht zufällig widmete Krolop seine Poláček-Studie Pavel Trost, mit welchem er befreundet war und dem er für manchen inhaltlichen und konzeptuellen Impuls sowie für Anmerkungen dankbar war (Stromšík deutet eine gewisse Affinität des Autors zum Prager Strukturalismus an, den sich Trost in seiner Arbeit seit den 1930er Jahren auf eine undogmatische Weise zunutze machte). Das Ethos und das Pathos des öffentlichen Wirkens, das Krolop bei Pavel Trost bewunderte, erinnert mich an ein ähnliches Engagement seiner gleichgesinnten bohemistischen Zeitgenossen Alexandr Stich und Jiří Brabec. Es liegt an jedem von uns, die wir uns mit der Philologie und Kulturwissenschaft (nicht nur) der böhmischen Länder beschäftigen, wie wir mit dem Vermächtnis des „doppelten Rückkehrers“, wie Krolop sich selbst mit der ihm eigenen Selbstironie nannte, weiter umgehen. Es wird aber wohl aber schier unmöglich sein, ihn zu umgehen.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Kurt Krolop: Studie o německé literatuře. Výbor uspořádal Jiří Stromšík. [Studien zur deutschen Literatur. Ausgewählt von Jiří Stromšík] Praha: Triáda, 2018, 728 S


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