Es schreibt: Ladislav Futtera

(E*forum, 17. 4. 2019)

Der Weg vom Manuskript zur Druckmaschine ist nicht immer direkt und schnell, und so erblickte das letzte Werk von Jiří Kořalka (1931–2015), Nestor (und wohl auch Klassiker) der Erforschung des tschechischen Nationalismus und der deutsch-tschechischen Beziehungen in der Zeit des „langen“ 19. Jahrhunderts, Tschechen und Deutschland im langen 19. Jahrhundert. Studien zum gegenseitigen Verhältnis 1800–1918 (Dresden: Thelem), erst im Laufe des letzten Jahres, mehr als drei Jahre nach dem Tod seines Autors, das Licht der Welt. Kořalka verstarb während der Korrekturen, die Endredaktion übernahm Václav Petrbok, der das Buch, das im Rahmen der Editionsreihe Mitteleuropa-Studien herausgegeben wurde, in Zusammenarbeit mit Jan Randák mit einem fundierten Vorwort versah, das die gesammelten Studien in den Kontext von Kořalkas Lebenswerk setzt (S. XI–XX).

 

Obwohl es sich um keine Synthese handelt, sondern um eine Sammlung relativ eigenständiger Studien, bietet das Buch einen wirklich synthetisierenden, strukturierten Einblick in Kořalkas Überlegungen zur Problematik der deutsch-tschechischen Beziehungen und in das Repertoire der Themen, die ihn beinahe sein ganzes Leben lang beschäftigten. Im Wesentlichen erinnert die Struktur der Arbeit an Kořalkas wenigstens im tschechischen Kontext bekannteste Monografie Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815–1914 (1991, auf Tschechisch erst 1996 erschienen), in der Fragen nach der Herausbildung moderner Nationen und der damit zusammenhängenden Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, nach den Versuchen um eine politische Lösung der tschechisch-deutschen Nationalitätenfrage, der tschechischen Arbeiterbewegung im Kontext der österreichischen Arbeiterbewegung und schließlich nach der internationalen Verankerung der tschechischen Politik in den Vordergrund traten. Die Spannweite der Themen ist im Falle von Tschechen und Deutschland allerdings erheblich größer: Insgesamt neunzehn Studien sind hier in sieben größeren thematischen Abschnitten zusammengefasst.

 

Die einleitenden „synthetischen Betrachtungen“ versammeln Texte, die den (ethnisch) tschechischen Anschauungen über die deutsche Frage nach 1848 und den Formen tschechischer Emigration (aus religiösen, ökonomischen und politischen Gründen) in deutsche Staaten gewidmet sind. Der darauffolgende Abschnitt widmet sich der Rezeption der Hussitenzeit. Neben einer Analyse der Vorstellungen von Jan Hus und den Hussiten im deutschen Raum am Beispiel deutscher Enzyklopädien verdient eine den „Wallfahrten“ nach Konstanz gewidmete Studie besondere Aufmerksamkeit; diese fanden zu der Zeit statt, als die Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – obwohl Kořalka dieses Konzept von Pierre Nora nicht ausdrücklich erwähnt – in Zusammenhang mit der Annahme des historischen Narrativs von der Reformationszeit als verbindlicher Deutung der tschechischen Nationalgeschichte zu einem bedeutenden Gedenkort wurde (S. 79–128). Der dritte Abschnitt ist den tschechisch-deutschen Wissenschaftskontakten gewidmet. Obwohl Kořalka hier auch den Reflexionen über Alexander von Humboldts Werk in tschechischer Sprache Aufmerksamkeit schenkt, überrascht es nicht, dass sich das Gros der Auslegungen František Palacký zuwendet, dem Schlüsselthema des Autors. Es folgt ein Kapitel über internationale Politik und Diplomatie, in dem Kořalka am deutlichsten an seine in Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815–1914 eingereihten Texte anknüpft, wenn er die verschiedenen Vorstellungen vom Begriff der Nation in Mitteleuropa um 1848 und das Verhältnis der Tschechen zur Frankfurter Nationalversammlung interpretiert (ergänzt werden sie von Studien über das Verhältnis der Tschechen zur Entstehung des Zweibunds und über die Errichtung der deutschen Botschaft in Prag). Der dem „Bild des Anderen“ gewidmete Abschnitt belegt dann nicht nur durch seinen Titel, sondern auch durch seinen Inhalt, dass Kořalka Schritt hielt mit Themen, die die tschechische Geschichtsschreibung erst vor relativ kurzer Zeit entdeckte. Seine Beobachtungen zum doppelten Blick auf Berlin als Kultur- und Bildungszentrum, aber auch als Symbol des angriffslustigen Preußens (im folgenden Kapitel auf das ganze Deutsche Reich ausgeweitet) stimmen in großem Maße mit der bahnbrechenden Monografie Michal Topors über den Aufenthalt böhmischer Philologiestudenten an der Berliner Universität überein (Berlínské epizody. Příspěvek k dějinám filologie v Čechách a na Moravě 1878–1914. [Berliner Episoden. Ein Beitrag zur Philologiegeschichte in Böhmen und Mähren 1878–1914], Prag 2015). Die Überlegungen zu den tschechisch-deutschen Nationalstereotypen in Karikaturen vertiefen wiederum anregend die Arbeiten von Roman Prahl oder Jiří Štaif. Der sechste Abschnitt, der sich mit dem Anstieg des extremen Nationalismus um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auseinandersetzt, führt die LeserInnen in umgekehrter Richtung zu den Anfängen von Kořalkas wissenschaftlicher Karriere. Er selbst war es, der die Problematik des Alldeutschen Verbands und der tschechischen Frage, die hier skizziert wird, bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert in die tschechische Historiographie brachte (Všeněmecký svaz a česká otázka koncem 19. století. [Der Alldeutsche Verband und die tschechische Frage Ende des 19. Jh.], Prag 1963). Der Schlussabschnitt konzentriert sich dann auf den symbolischen wie faktischen Ausklang des „langen“ 19. Jahrhunderts: den Ersten Weltkrieg, der hier durch das Prisma tschechischer Reaktionen auf die Vorstellung eines deutschen Mitteleuropas und der Einstellung der deutschen Außenpolitik zu der entstehenden Tschechoslowakei gesehen wird.

 

Wie vom Umriss des Inhalts deutlich, wird das Buch durch die Themenbreite unterschiedliche Lesertypen eher durch einzelne Studien ansprechen als zur monographischen Leseart in continuo anregen. Dazu stiftet auch der erheblich verschiedene Auslegungsstil der einzelnen Texte an. Studien, die aus übersichtlichen synthetisierenden Passagen bestehen und im Grunde Hochschullehrbücher ersetzen – am deutlichsten zeigt sich dies im (in der Tat übersichtlichen) Übersichtskapitel zu den Typen der Nationenvorstellung (S. 213–232) –, stehen neben minuziösen, materialreichen Analysen, die auf einen engeren Kreis der an der Geschichte des 19. Jahrhunderts Interessierten zielen.

 

Die größte Devise von Kořalkas Werk wird von Václav Petrbok und Jan Randák bereits in der Einleitung zum Vorwort genau benannt: „die Fähigkeit und Bereitschaft, über die nationalen Schranken hinwegzusehen und die erforschte Problematik in einem übernationalen und breiteren mitteleuropäischen Kontext zu erfassen“ (S. XI). Der Autor beweist nicht nur eine souveräne Erfassung von Material aus dem tschechischen bzw. westslavischen, aber auch dem deutschsprachigen Umfeld (z. B. in der erwähnten Studie zu den Karikaturen, S. 321–331), er ist auch fähig, die gewählten Themen aus untypischen, dafür jedoch umso inspirierenderen Blickwinkeln zu betrachten, und das sowohl für die tschechische, als auch für die deutsche Geschichtsschreibung. Erkenntnisreich sind so die Bemerkungen zu den Kontakten František Palackýs, der in der deutschen Geschichtsschreibung traditionell durch das Prisma seiner Schreiben nach Frankfurt gesehen wird, in ein deutsches Umfeld, sei es die Zusammenarbeit mit dem Brockhaus-Verlag (S. 151–154) oder die Würdigung der wissenschaftlichen Möglichkeiten, die Berlin ihm bot (S. 305–307). Auf einen nicht unwesentlichen Unterschied zwischen der tschechischen und der deutschen Terminologie stößt man auch im Falle des Schlüsselbegriffs Bohemismus. Während Steffen Höhne in seiner programmatischen Studie zu dem Projekt, das diesen Diskurs um die Jahrtausendwende erforschte, eine durchaus positive Definition des Bohemismus als eines „Integrationsmodell[s] für die böhmischen Länder […], welches die nationalen Divergenzen und Interessen zugunsten internationaler Einstellungen aufzulösen sucht“, bot, dessen Ziel die Gleichberechtigung der Tschechen und Deutschböhmen sei (Der Bohemismus-Diskurs zwischen 1800 und 1848/49. In: brücken. Germanistisches Jahrbuch Tschechien – Slowakei, Neue Folge 8, 2000, S. 18), definierte Kořalka, der den Bohemismusbegriff nicht in erster Linie von den Thesen Bernard Bolzanos ableitete, sondern seine Durchsetzung mit dem Adelsumfeld des Landes identifizierte, sein Ziel deutlich skeptischer als die „Vorrangigkeit der deutschen Amts- und Kultursprache mit der Anerkennung der tschechischen Volkssprache“ (S. 218). Von der Notwendigkeit, die verschiedenen Perspektiven und traditionellen Geschichtsnarrative miteinander zu konfrontieren, wozu Kořalka ausdrücklich auffordert, konnte ich mich schließlich selbst überzeugen, als ich mit seinem Buch im Rucksack das Sorbische Museum in Bautzen besuchte. In der Ausstellung wird der Vorschlag der Frankfurter Nationalversammlung auf Anerkennung der Sprachrechte slawischer Ethnien im Rahmen des geplanten vereinigten Deutschlands hoch bewertet. Kořalka wiederum weist darauf hin (S. 6), dass der primäre Adressat dieser Maßnahme die Tschechen sein sollten, für deren politische Vertreter diese jedoch völlig unzulänglich war…

 

Der Teufel steckt oft im Detail und gerade einige solcher Details stören doch den durchweg positiven Eindruck von Kořalkas Texten. Als erstes schon der Titel der Arbeit bzw. die absolute Selbstverständlichkeit, mit der mit dem Begriff „Deutschland“ umgegangen wird, ohne im Buch gebührend zu erklären, was damit eigentlich gemeint ist. Aus der ersten Nennung dieses Begriffs in der Studie, die der tschechischen Emigration nach „Deutschland“ gewidmet ist (S. 25), ergibt sich indirekt, dass damit offensichtlich alle deutsche Staaten außer dem Kaisertum Österreich gemeint sind (also auch das zukünftige Deutsche Reich). Obwohl der Begriff „Deutschland“ vor allem in popularisierenden Kompendien und Synthesen relativ oft erscheint, bin ich der Meinung, dass gerade in einer Arbeit, die sich mit der Zeit der Wandlung dieses Begriffs vom identitätsstiftenden Terminus zur geographischen Einheit (mit nach wie vor unklaren Grenzen) ausführlich befasst, größere Vorsicht geboten wäre.

 

Weitere Anmerkungen fallen dann eher auf die Editoren bzw. die Herausgeber der Editionsreihe zurück: Zumindest in der Studie zu den Karikaturen fehlt fatalerweise das Bildmaterial. Eine relativ langwierige Ausführung zum Bild des Deutschen als Michel, als preußischer Offizier oder rücksichtsloser Kapitalist mit jüdischer Nase (S. 328) würde durch einen Bildanhang übersichtlicher oder wenigstens frischer. Das einzige Bild im ganzen Buch bleibt so die Titelfotografie, die ein wenig paradox die Jan-Hus-Statue auf dem Altstädter Ring in Prag zeigt, die erst 1915 enthüllt wurde und darüber hinaus in keiner der Studien Erwähnung findet…

 

Der wichtigste Vorwurf richtet sich aber gegen eine fehlende Anmerkung des Herausgebers, welche die Aufmerksamkeit der Leser und Leserinnen auf die Texte lenken würde, die Grundlage der abgedruckten Studien waren (vgl. die analoge Anmerkung in der Monografie Tschechen im Habsburgerreich und in Europa, S. 338–342). Angesichts dessen, dass Kořalka seine Lieblingsthemen jahrzehntelang variierte und ständig weiter entwickelte, stellt sich die Frage, auf welche Art und Weise sich seine Überlegungen entwickelten und in welche Richtung die letzten Redaktionen seiner Arbeit wiesen. Wer lesend nach Antworten sucht, dem bleibt jedoch nichts anderes übrig, als sich auf die Bibliografie zur Geschichte der Böhmischen Länder zu verlassen, deren Angaben im Falle der vor 1990 publizierten Texte bisher jedoch eher fragmentarischer Natur sind.

 

Übersetzung: Katka Ringesová

 

 

Jiří Kořalka: Tschechen und Deutschland im langen 19. Jahrhundert. Studien zum gegenseitigen Verhältnis 1800–1918. Dresden: Thelem, 2018, XX + 468 S.


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