Es schreibt: Aleš Urválek

(E*forum, 3. 4. 2019)

Wer sich für die deutsch geschriebene Literatur böhmischer und mährischer Provenienz interessiert, kann seit Kürzerem auf das deutsch geschriebene Handbuch der deutschen Literatur Prags und der böhmischen Länder (2017) zurückgreifen, das die Erkenntnisse zu diesem Thema zusammenfasst. Der Handbuchcharakter dieser Publikation dürfte den Eindruck entstehen lassen, dass die Erforschung der deutschsprachigen Literatur aus unseren Ländern eine Phase erreicht hat, die vielmehr zu einer Gesamtschau auf ein bereits halbwegs erforschtes Terrain auffordert. Liest man das Buch O německy psané literatuře pražské, moravské a židovské [Die deutsch geschriebene jüdische, mährische und Prager Literatur] von I. Fialová-Fürstová, beschleicht einen allerdings ein anderes Gefühl: Auch wenn es sich insgesamt um hie und da publizierte, für den Zweck der vorliegenden Publikation übersetzte bzw. stark überarbeitete Texte handelt, lässt sich sagen, dass die Autorin sich primär nicht nach dem umsieht, was bereits bekannt ist, sondern dass sie danach Ausschau hält, was noch zu erforschen wäre.

 

Das Buch beinhaltet 17 Studien, ein Vorwort, eine Zusammenfassung und ein deutsches Resümee; auch wenn die Publikation nicht in einem Zug entstanden ist, der Gesamteindruck bleibt kompakt. Die thematische Dichte ist darauf zurückzuführen, dass makroskopische Abhandlungen sich abwechseln, einerseits zur Prager deutschen, andererseits zur deutschmährischen Literatur. Einmal wird die mährische jüdische Literatur, ein anderes Mal deren romantische Phase und wieder ein anderes Mal die expressionistische Phase sowohl der deutschen als auch der tschechischen Literatur fokussiert. Unter die Lupe kommen weniger bekannte Persönlichkeiten (wie etwa Auguste Hauschner, die Großmutter der Prager deutschen Literatur oder Josef Körner – ein Germanist zwischen den Fronten im deutsch-tschechischen Konflikt) oder aber vernachlässigte Themen (wie z. B. Der Lyriker Max Brod) und stereotyp wahrgenommene Kontexte (Bilinguismus in Böhmen oder Johannes Urzidil als sudetendeutscher Autor?). Ebenfalls fehlt es weder an Fallstudien zu allgemeinen literatur- und kulturhistorischen Themen mit judaistischen Akzenten (Romantik und Juden, Moses, Schiller, Goethe, Freud und Reckendorf und Der strafende Gott und der missratene Sohn) noch an Darstellungen einzelner SchriftstellerInnen (etwa L. Winder, P. Härtling, F. Spunda oder das mährische Triumvirat M. Ebner-Eschenbach, F. Saar und J. J. David).

 

Die Frage, warum die gesammelten Studien – nota bene auf tschechisch – herausgegeben werden, beantwortet die Autorin, indem sie die Notwendigkeit der Öffnung der tschechischen (v. a. bohemistischen und historischen) Fachöffentlichkeit gegenüber den bisherigen Ergebnissen der germano-bohemistischen Forschung betont, die – im Geiste der Gründergeneration der tschechischen Germanistik – die Grenzen der nationalen Philologien überschreitet. Angesprochen werden vor allem werden zwei Zielgruppen: Zunächst sind es die Studierenden diverser Geisteswissenschaften, denen eine große Palette von Fragen vor Augen geführt wird, auf die es bis unlängst nur ideologische Antworten gab. In diesen Themenbereich, der seit zwanzig Jahren von der Olmützer Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur bearbeitet wird (auch dieses Jubiläum wird einer der Gründe für die Publikation darstellen), führt die vorliegende Publikation auf eine spannende und inspirierende Art und Weise ein. Es sollen jedoch auch erfahrene Forscher adressiert werden: nicht nur dass die Texte die historischen Peripetien bei der Erforschung der deutsch-tschechischen jüdischen Literatur schildern, sondern es wird manchenorts unermüdlich auf noch zu erforschende Themen und Bereiche, auf bis dato vernachlässigte Literatur aufmerksam gemacht. Die Lektüre gleicht so einer amüsanten, bereichernden Konsultation eines älteren Kollegen, dem es beliebt, nicht nur seine Erkenntnisse, sondern auch die Freude bei deren Gewinnung zu teilen.

 

Auch methodologisch lässt sich das Buch auf einen Nenner bringen, dank dessen das Buch einheitlich wirkt, ohne dass die Autorin den Leser allzusehr mit der Erörterung ihrer methodologischen Grundsätze quälen würde. Die Grundlage bildet der literaturhistorische Positivismus, der durch materialbelegte Behauptungen jede Spekulation unterbindet. Der Stil ist wortwörtlich wissenschaftlich fröhlich, manchenorts sogar persönlich („Ich habe mich [… ] beschäftigt […] damit will ich nicht suggerieren […] ich konnte nicht umhin“ [S. 25–27]). Bezeichnend für die interpretatorische Großmut der Wissenschaftlerin ist, dass hier keine künstlichen methodologischen Strohmänner angeboten werden; explizit gewarnt wird allerdings vor der marxistischen Spiegelungstheorie. Prinzipiell lehnt es Fialová ab, dass man sich „von herrschenden Ideologien“ weiterhin diktieren lasse, auf welche Weise man sich mit der Prager deutschen sowie mit der deutschmährischen Literatur zu beschäftigen habe. Sie stört sich an voreilig zugeschnittenen, vor allem national und ideologisch bedingten Etiketten, sie kritisiert auch die teilweise überspannte politische Korrektheit, die die Wissenschaft deformiere, und ferner das, was sie – möglicherweise ungerechtfertigt – für postmodernen Eklektizismus hält. Eine der Auswirkungen solcher Wissenschaft sei die literaturwissenschaftliche Kraftmeierei, die sich zu modischen Begriffen und in versimpelte Dichotomien flüchte, um das Material nicht bearbeiten zu müssen, wie es sich gehört. Wer „die Unkenntnis faktographischer und historischer Zusammenhänge anhand von ideologischen Losungen verschleiern und übertrumpfen will“ (S. 92), müsse mit einer freundlichen, zugleich aber unerbittlichen Aburteilung rechnen.

 

Anstatt zu verallgemeinern, sammelt die Autorin vielmehr einzelne Mosaiksteinchen. Anstelle eines wirkungsvollen Abschlusses bevorzugt sie weitere Fragen zu stellen; die Skepsis gegenüber definitiven Antworten, Rubrizierungen und Pauschalisierungen gerät zuweilen fürwahr an ihre Grenzen („Jede Generation, jede Avantgarde […]“, S. 30); im Großen und Ganzen bleibt sie bestehen. Es zeigt sich etwa auch daran, wie oft die Autorin eingesteht, dass sie nun selbst relativieren und korrigieren müsse, was sie einst dachte und schrieb. Dieses Charaktermerkmal besitzt in ihrem Falle die generelle Gültigkeit einer bestimmenden argumentativen Einstellung zum Gegenstand literarhistorischer Forschung: Die einzelnen Studien setzen sich kaum zum Ziel, die eine Auslegung durch eine andere zu ersetzen, eine Meinung durch eine Gegenmeinung, Lüge mit Wahrheit zu widerlegen. Fialová relativiert vielmehr überlieferte Ansichten, sie lenkt die Perspektive leicht. Um konkret zu sein: Sie rekapituliert M. Brod zunächst, wie es Usus ist, als einen Autor, der mit dem Expressionismus nichts zu tun haben will, worauf sie sich mit einigen vernachlässigten Aspekten in seinem Werk beschäftigt. Dies tut sie nicht mit der Absicht, Brod zum Expressionisten zu erklären, sondern um darauf aufmerksam zu machen, dass man – sobald man ihn vom Expressionismus völlig abschneidet – zu Unrecht kraft des einen Interpretationsschlüssels das leugnet, was sich diesem Interpretationsschlüssel in einem Werk widersetzt und was Brod eben dem Expressionismus näherstellt. Obwohl dies nicht ohne Weiteres oder absolut gelten kann („[…] müssen wir einräumen, dass man viel Expressionistisches in Brods Gedichten tatsächlich nicht vorfindet“, S. 62), wagt Fialová, eine Relativierung zu formulieren, die sie eindeutig, allerdings ohne Anrecht auf Endgültigkeit vorbringt: „Es ist klar, dass Brod nicht als zentraler Expressionist anzusehen ist […]. Benutzen wir jedoch eine breitere Definition des Expressionismus […], dürfen wir sagen, dass die frühen Texte Max Brods wenigstens als wichtige Wegweiser auf dem Weg zu einem neuen, expressionistischen Stil und Ausdruck“ (S. 60). zu betrachten sind. In ähnlicher Weise sind auch andere Schlussfolgerungen bar aller revolutionären Gesten: so etwa die Entdeckung der Metapher des dreifachen Ghettos, die bisher Paul Eisner zugschrieben wurde, und die Fialóva nachweislich in Texten von Josef Körner diagnostizierte, der im germanistischen Umfeld wohl für den Habilitierungsskandal bekannt ist (seine Habilitation wurde von August Sauer aus Gründen abgelehnt, die Fialová fesselnd aufdeckt) – die Autorin kommentiert hier mit einer Behauptung, die wohl wahr einen Verzicht auf Effekthascherei verrät: „[…] verleitet es uns nicht – auch wenn das Wort ‚Ghetto‘ bis zu dieser Stelle nicht fiel – die Autorschaft der Metapher Körner zuzusprechen und ihre Entstehung bereits ins Jahr 1917 zu verlegen?“ (S. 81).

 

Mit etwas Übertreibung lässt sich behaupten, dass diese a-revolutionäre Argumentationshaltung eine konkrete Antwort auf den allgemeinen und vielgestaltigen Unfug darstellt, dem Fialová mit ihren Studien die Stirn bietet: den versimpelnden Dichotomien. In den Übersichtsstudien – falls man soweit gehen kann, zu generalisieren – tut sie dies, indem sie zunächst die Geschichte der tschechischen Germanistik skizziert und daran den Willen bzw. Unwillen, sich mit der Prager deutschen Literatur zu beschäftigen, aufzeigt, worauf sie sich der Zeit des Prager Frühlings zuwendet, in der es zwar zu einer ersten Lockerung kam, parallel jedoch auch unter Einfluss ideologischer Deformationen die verhängnisvolle Dichotomie konstituiert wurde, die einerseits die ausnahmsweise fortschrittliche, moralisch akzeptable, sozial sensible und international geprägte (oder wenigstens dem tschechischen Element zugeneigte), d. h. „gute“ Prager deutsche Literatur und andererseits die nicht-Prager, also provinzielle Literatur aus den Sudetengebieten suggerierte, die militant antitschechisch, national, ja nationalsozialistisch geprägt sei. Der Forschungsimpuls der Autorin und der ganzen Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur in Olmütz besteht eben in den Versuchen, die erwähnten dichotomische Automatismen durch detailfokussierte Analyse des literarischen Materials zu relativieren und die Selbstverständlichkeit zu unterwandern, mit der häufig behauptet wird, es habe in der nicht-Prager deutschen Literatur aus Böhmen und Mähren „keine Autoren protschechischer oder wenigstens national ambivalenter Gesinnung, Landespatrioten, ‚Bohemisten und Moravisten‘, umso weniger Philosemiten oder gar jüdische deutsch schreibende Autoren und erst recht keine deutschen Nationalismus, Chauvinismus, Antisemitismus und den erstarkenden Nationalsozialismus kritisierenden Autoren“ (S. 112) gegeben. Dass die Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur in den verflossenen 20 Jahren einen großen Teil dieser Problemstellung bewältigt hat, verschweigt die Autorin nicht, mehr Raum widmet sie allerdings den anstehenden Herausforderungen, die die Forscher, welche sich mit der skizzierten Sichtweise identifizieren, noch erwarten. Listen von AutorenInnen, Themen, Gattungen und Aufgaben, die noch einer kritischen Auseinandersetzung harren, gehören zu den Lieblingsgattungen der Autorin.

 

Auch in den Fallstudien wird den Dichotomien der Fehdehandschuh vor die Füße geworfen, wenn auch in kleinerem Maße: So lässt sich der Versuch auffassen, J. Urzidil (laut E. Schönwiese „der letzte große Erzähler des Prager Kreises“, S. 133), einen Autor, den sudetendeutsch zu kontextualisieren man automatisch untersagt, gegen den Strich zu lesen. Fialová gelingt es, der Leserschaft auseinander zu setzen, dass es vielmehr nötig sei, zu erwägen, ob es gebührend ist, dass man Urzidil dank des Hinweises auf dessen Zugehörigkeit zum Prager Kreis lediglich als einen Autor der Prager deutschen Literatur versteht. Ihre auf die Erzählung Grenzland zurückgehenden Überlegungen kulminieren in der Schlussfolgerung, Urzidil habe die Erzählung „bewusst und absichtlich gegen die Gattung des Grenzlandromans (der für die sudetendeutsche Autoren sowie deren Leser in den 1950er Jahren noch ein lebendiger Begriff war)“ (S. 138) geschrieben. Abgeschlossen wird wiederum nicht mit einer These (es geht nicht darum, Urzidil aus einem Kontext herauszureißen und in einen neuen zu verpflanzen), sondern mit einer literaturwissenschaftlichen Rechtfertigung der antidichotomischen „Unterminierung eingebürgerter Klischees und der Überschreitung verbotener Grenzen“ (S. 142). Nur am Rande und im Geiste der oben erwähnten Suche nach neuen Themen weist die Autorin darauf hin, dass es in Anbetracht der Publikation der Erzählung im Merkur im Jahre 1955 von Interesse wäre, das Bild der deutsch geschriebenen Literatur aus Böhmen und Mähren in der Zwischenkriegszeit und der Nachkriegszeit aufs Korn zu nehmen, das sich eben in dieser Zeitschrift mit dem Untertitel Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken herausbildete, in einer Zeitschrift, in der eine Zeit lang Autoren wie Kafka (oder noch mehr R. Kassner), aber auch J. Urzidil, W. Haas, M. Brod oder P. Demetz präsent waren.

 

Die Beispiele ließen sich fortführen; hier sei noch die bravouröse Relativierung des gedanklichen Automatismus erwähnt, der suggeriert, ein bilingualer Mensch müsse notwendigerweise antinational gesinnt sein (und vice versa). Es genügen nur wenige Worte und der Leser kommt zur Einsicht, dass Bilinguismus an sich vor Nationalismus nicht schützt und Monolinguismus ihn nicht notwendigerweise impliziert: „War der Grund für die Zurückhaltung vieler Deutscher dem Tschechischen gegenüber etwa nicht vielmehr ihre sprachliche Inkompetenz, eine Scheu vor der nur schwer zu bewältigenden Sprache, als eine kultur-imperialistisch und national motivierte Ablehnung?“ (S. 150).

 

Solcher Lektüre wird man nie überdrüssig. Falls die LeserInnen überhaupt etwas wie Missfallen empfinden, dann lediglich, wenn in leichter Variation die gleichen Interpretationsinnovationen vorkommen: etwa wenn die einfallsreiche Auslegung der pragerdeutsch-jüdischen Variante des expressionistischen Motivs des Vater-Sohn-Konflikts (kurz gesagt: das Umstülpen der Rollen, der Kampf zwischen dem Vater und dem Sohn endet untypischerweise meistens mit der Niederlage des Sohnes; dies ist darauf zurückzuführen, dass in die Vaterfigur der alttestamentarische Gott projiziert wird, jedoch auch darauf, dass die Figuren der pragerjüdischen Söhne gegen den gegebenen Zustand nicht nur vital rebellieren, sondern sich – vielmehr – an diesem Zustand schuldig fühlen) in einer Studie leicht angedeutet wird, in der zweiten detailliert erörtert wird; die erneute Erwähnung in der dritten Studie zum deutschen Prager und tschechischen Expressionismus vermag den Leser bereits zu ärgern. Traurig macht den Leser ebenfalls die stellenweise lasche Redaktionsarbeit (vgl. hierzu die tschechische Version der Rezension).

 

Diese Kleinigkeiten sind allerdings nur winzige Schönheitsfehler. Der Funke des Enthusiasmus, von dem Fialová abschließend spricht, packt den Leser an vielen Stellen, auch an solchen, die den Rahmen des böhmisch-mährischen Raumes sprengen und sich etwa dem deutschen romantischen Antisemitismus oder auch dem widersprüchlichen Antisemitismus Fichtes widmen, bei dessen Interpretation sich schon manche Kenner die Zähne ausgebissen haben. Eine empfohlene Lektüre, die sich selbst empfiehlt.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Ingeborg Fialová-Fürstová: O německy psané literatuře pražské, moravské a židovské. Olomouc: Univerzita Palackého Olomouc, 2017, 331 S.


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