Es schreibt: Jozo Džambo

(20. 12. 2018)

Nicht wenige Bilder, Symbole oder Metaphern, die einst Bestandteil der kulturellen und gesellschaftlichen Kommunikation waren, sind im Laufe der Zeit als „anachronistisch“ verdrängt oder in Vergessenheit geraten, wobei sie in ihrer Aussage zeitlos sind und gehaltvoller nicht sein könnten. Ein solches Bild stellen „Bienen“ dar, die als nützliche und selbstlose Insekten im alltäglichen Sprachgebrauch, in Literatur und Emblematik allgegenwärtig waren, um dann dem Fabrikrauch, den Maschinen, dem Asphalt, dem Lärm und nicht zuletzt auch neuen Symbolen zu weichen. Die Aufklärer des 19. Jahrhunderts bei den slawischen Völkern fanden kein geeigneteres Wort und Zeichen, um ihr Anliegen – den „Nektar“ der Kultur zu sammeln und weiterzugeben – bildhaft auszudrücken, als „matica“ (Bienenmutter, Bienenkönigin); gerade so nannten sie die kulturellen Einrichtungen, die sich von den wissenschaftlichen Akademien unterschieden und das Wissen in einer möglichst populären Weise vermitteln wollten. So gründeten ihre „matice“ die Serben (1826), die Tschechen (1831), die Kroaten (1839), die Sorben (1847), die Ukrainer (1848), die Mährer (1849), die Slowaken (1863), die Slowenen (1864) und die Polen (1882).

 

Breit war das Programm der „matice“; es erschöpfte sich nicht nur in einer vielfältigen Publikationstätigkeit, sondern beinhaltete auch Vorträge aus allen Wissensbereichen und glich in dieser Hinsicht am meisten der Volksbildungseinrichtung Urania; „matice“ sorgten für Volksbüchereien, für die Unterstützung von Schülern und Lehrlingen, für die Aufklärung der breiten Volksschichten usw. Jedoch blieb die Belletristik immer ihr wichtigstes Tätigkeitsfeld; die Literatur des eigenen Volkes wie auch jene anderer Völker, die in Übersetzungen dargeboten wurde, berechtigt auch hier – mit gebührender Einschränkung – das Goethe’sche Wort von „Weltliteratur“ zu gebrauchen. Dass für die Slawen der deutschsprachige Raum von besonderer Bedeutung war, lässt sich sowohl geographisch wie auch politisch und allgemein kulturell leicht belegen. Dass auch auf deutscher Seite der slawische Raum keine „tabula rasa“ war, ist nicht minder leicht nachzuweisen. Der Spruch Slavica non leguntur (Slawisches liest man nicht) gilt für die Zeit, die der hier zu besprechende Band behandelt (1770–1850), auf jeden Fall nicht. Die Namen Goethe und Herder stehen hier nur als herausragende Beispiele für eine Vielzahl von weniger bekannten Enthusiasten, die für slawisches Schrifttum und überhaupt für die Kultur der slawischen Völker großes Interesse zeigten.

 

Mehrere Beiträge in dem Sammelband Neue Bienen fremder Literaturen“ demonstrieren an konkreten Namen, neben zwei übergreifenden Beiträgen (Michael Rössner und Moritz Csáky), wie die Vermittlung der Literatur zwischen verschiedenen Sprachen vonstattenging. Peter Drews widmet sich Josef Wenzig als Vermittler tschechischer Literatur im deutschen Sprachraum. Wenzig war derjenige, der deutlich formuliert hat, was auch andere „vermittelnde“ Zeitgenossen in ihrem Bestreben bewegt hat, nämlich, dass die Kenntnis der Literatur eines Volkes „ein unentbehrliches Mittel [ist], dasselbe in seinen Ideen, in seinem tiefsten innersten Leben begreifen zu lernen (S. 92)“. Wenzig war Übersetzer, d. h. Vermittler der Literatur aus Überzeugung, und bestrebt, „den deutschen Lesern nach und nach in aufeinander folgenden Bändchen das Interessanteste aus der gesamten poetischen Literatur der Böhmen vorzuführen“ (S. 93). Mit den „Bändchen“ war eine literarische Form gemeint, die als „Blumenlese“ bzw. „Sammlung von Blüten“ (lat. florilegium) bekannt war und uns heute in dem Begriff Anthologie (griechisch anthologia) begegnet. Somit sind wir wieder beim Motiv der Bienen, die die „Süße“ der Blüten sammeln und daraus, was schon Vergil beeindruckte, selbstlos Honig herstellen. Ebenso ist es mit der Literatur, die man uneigennützig weiter gibt.

 

Aber die Literatur hatte im Untersuchungszeitraum auch vielfach die Aufgabe, mehr oder weniger deutlich die Selbstidentifikation gegenüber anderen Nationen zu stärken oder diese spielerisch und als geschickten Kunstgriff zur Schau zu stellen. Am slowakischen Beispiel zeigt Peter Deutschmann, wie Biene und Bienenzucht beinahe zu Nationalsymbolen wurden. Er weist nicht nur auf zahlreiche bienenkundliche Schriften des 18. Jahrhunderts hin, sondern sieht eine metaphorische Kontinuität bis in unsere Zeit und nennt in diesem Zusammenhang Peter Jaroš‘ 1983 verfilmten Roman Tisícročna včela (Tausendjährige Biene, 1979). Schon im Altertum wurde die Biene als soziales Insekt wahrgenommen, die Analogie zwischen der Organisation der Bienengemeinschaft mit jener der Menschen drängte sich auf; die Parallelisierung von Biene und Mensch ließ sich leicht auf das politische Feld übertragen, und so wurde der Umgang mit Bienen auch als Kulturarbeit für das eigene (slowakische) Volk aufgefasst. Die Biene wurde demnach nicht nur zur Metapher oder zum Symbol, sondern auch zum Modell des patriotischen Handelns, das besonders auf dem Gebiet der Volksbildung sichtbar war.

 

Róbert Kiss Szemán zeigt an zahlreichen Beispielen, welche Blüten der „nationale Emblematismus“ (S. 195) in Ján Kollárs Slávy dcera [Tochter der Sláva, 1824] treibt. In der Ausgabe dieses Werks von 1832 findet man als Erweiterung zwei Gesänge über den slawischen Himmel und die Hölle, darin eine Auflistung der (slawischen) „nationalen Sünden“ (z. B. Entnationalisierung) sowie „Sünden von nicht-slawischen Tätern gegen die slawische Nation“ (S. 198) (z. B. Verachtung, Germanisierung, Magyarisierung u. a.).

 

Um Selbstidentifikation handelt es sich auch in anderen Literaturgattungen und Werken. So fand Václav Hanka Gefallen an der südslawischen Heldenepik, in der Historie und Mythos vermischt existieren, und es verwundert nicht, dass ausgerechnet er einer der eifrigsten Protagonisten der Theorie von der Echtheit der Königinhofer und Grünberger Handschriften war. Über die Übereinstimmungen und Unterschiede in der tschechisch- und deutschsprachigen Rezeption dieser Handschriften berichtet Dalibor Dobiáš, woraus deutlich wird, dass diese Epik, ob authentisch oder nachgedichtet, ihre „Stoßkraft“ bis zum Revolutionsjahr 1848 hatte, aber im öffentlichen Diskurs auch danach keineswegs verstummt war.

 

Mit Hankas Übersetzungen und Anpassungen dieser Epik befasst sich Dalibor Tureček, während Renate Hansen-Kokorus die Leistung einer Übersetzerin, nämlich Therese Albertine Luise von Jakob (Pseudonym Talvj) würdigt. Talvj, die aus romantischer Begeisterung für die Exotik der Südslawen bei diesen „die Urlaute einer tiefen, ursprünglichen Poesie“ (S. 127) entdeckte, vermochte mit ihren Übersetzungen auch Goethe „von der Anmut und“ (S. 127) dieser Poesie zu überzeugen.

 

Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer im November 2014 in Wien abgehaltenen Tagung und setzt als Idee eine Tagung aus dem Jahr 2011 fort, die den verwandten Titel Die Bienen fremder Literaturen. Der literarische Transfer zwischen Großbritannien, Frankreich und dem deutschsprachigen Raum im Zeitalter der Weltliteratur (1770-1850) trug.

 

Im Vorwort zu dem Tagungsband „Neue Bienen fremder Literaturen“ nennt der Buchforscher Murray G. Hall „eine interessante Aufgabe für die Zukunft, die Rolle der außereuropäischen Länder (Lateinamerika, Indien, Japan, China) beim literarischen Transfer mit dem deutschsprachigen Raum einmal unter die Lupe zu nehmen“ (S. VII). Somit würde man den engen (!) europäischen Raum verlassen und Goethes Wort „Weltliteratur“ eine überzeugende Bestätigung geben.

 

Die Vorstellung einer Publikation wie dieser, in der zwanzig Autorinnen und Autoren zu Wort kommen und höchst Interessantes und Informatives anbieten, kann nur unbefriedigend ausfallen, denn sie muss sich auf nur wenige Hinweise beschränken. Dem wissenschaftlichen „florilegium“ wird diese unvermeidliche Selektion gewiss Unrecht tun, aber auch das wenige Erwähnte soll auf diese hervorragende, gut durchdachte und mustergültig redigierte Publikation neugierig machen.

 

 

Gertraud Marinelli-König / Philipp Hofeneder (Hrsg.): „Neue Bienen fremder Literaturen“. Der literarische Transfer zwischen den slawischen Kulturen und dem deutschsprachigen Raum im Zeitalter der Weltliteratur (17701850). (= Buchforschung, Beiträge zum Buchwesen in Österreich, 8), Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2016, 299 S.


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