Es schreibt: Václav Petrbok
(E*forum, 15. 8. 2018)Unter dem symbolischen, provokativen, auf den ersten Blick vermeintlich idyllischen Titel Gartenschönheit oder Die Zerstörung von Mitteleuropa: Sidonie Nádherný – Briefe an Václav Wagner (1942–1949) sind bis dato beinahe unbekannte Texte (Korrespondenz, Archivmaterialien) aus der späten, hochbewegten Lebensphase der berühmten Besitzerin und Verwalterin von Schloss und Gut Janowitz (im tschechischen Vrchotovy Janovice bei Benešov), einer Mäzenin und Freundin von R.M. Rilke, K. Kraus, A. Loos oder M. Švabinský, erschienen; herausgegeben wurden sie von Friedrich Pfäfflin und Alena Wagnerová. Im Vergleich mit den bereits erschienenen Editionen der Korrespondenz von Sidonie Nádherná (so die tschechische Schreibweise) mit bekannteren Adressaten, die immer wieder geistreiche Auseinandersetzungen über den Sinn der Kunst und Literatur aufweisen oder aber äußerst persönliche Bekenntnisse beinhalten, ist die vorliegende Edition vielleicht etwas weniger intellektuell geprägt, dafür aber wirkt sie nackter und authentischer. Allein der Datierung des Briefwechsels lässt sich schon viel entnehmen: Es geht um die Zeit des Zweiten Weltkriegs, als Sidonie Nádherná – nach vergeblichen Versuchen, ihren Umzug zu verhindern oder wenigstens zu verzögern (das Janowitzer Gebiet wurde dem SS-Truppenübungsplatz Böhmen zugeordnet) – doch ins nahegelegene Voračice, umziehen musste, in dem sie auch das Kriegsende erlebte. Ein nicht weniger düsteres – für die tschechische Leserschaft nicht besonders angenehmes – Kapitel ist ferner die Nachkriegszeit. Finanzielle wie private Ausweglosigkeit wurden nun von den Ereignissen im Februar 1948 potenziert. Sidonie Nádherná entschied sich endgültig die Tschechoslowakei zu verlassen. Ein Jahr nach ihrem illegalen Grenzübertritt im September 1949 starb sie in London an Lungenkrebs.
Václav Wagner, Beamter des Staatsdenkmalamtes in Prag, Kunsthistoriker und Archäologe, war der Gutsbesitzerin – durch Veranlassung von Anna Masaryková – bei den Versuchen behilflich, das Schlossvor der geplanten Beschlagnahme zu retten, diese blieben allerdings im Großen und Ganzen erfolglos. Und er tat dies mit Verweis auf den historischen und Denkmalschutzwert der Schloss- und Parkanlagen sowie mittels persönlicher Kontakte (auch Sidonie Nádherná bat – wenn auch nicht ohne Selbstüberwindung – ihre Verwandten in Deutschland, direkt bei Göring zu intervenieren). Die edierten Briefe bringen jedoch nicht nur bloße Berichte von Sidonie, sie sind vielmehr ein Zeugnis davon, wie diese zunächst „pragmatische“ Bekanntschaft mit der Zeit herzlich wurde und wie die Schreibpartner sich allmählich privat und intellektuell näherkamen. Bei den Besuchen auf Schloss Janowitz wurde Sidonie in die gefährlichen Unternehmungen von Wagner eingeweiht, wie etwa in die Rettung vieler Kunstgegenstände vor der Katalogisierung und darauffolgenden Requirierung. Es war bestimmt Wagners indirektem Einfluss auf Sidonie Nádherná zu verdanken, dass sie sich immer intensiver für den tschechischen Kontext interessierte und sich mit ihm teilweise auch identifizierte (wie dies etwa die Änderung des Nachnamens in Nádherná, also in die grammatisch weibliche Form des Namens im Tschechischen, bezeugt). Eine umso größere – und höchstwahrscheinlich auch eine endgültige, schicksalhafte – Desillusionierung musste sie nach Kriegsende erfahren. Bereits auf der ersten Karte vom 10. Mai berichtet sie lakonisch über die Diebstähle, die die sowjetischen Soldaten auf dem Gewissen hatten. Es folgten schier unglaubliche Berichte über die Plünderung von Schloss und Park durch Einheimische, die wohl auch durch die Frustration erklärt werden kann, welche durch die erwähnte Beschlagnahme des wunderschönen Landguts im sog. Böhmischen Sibirien für militärische Zwecke und eine später beabsichtigte Kolonisierung dieses Gebietes durch „deutschstämmige Bevölkerung“ verursacht worden war. Es kam noch das zweifelhafte Argument hinzu, welches das alte böhmische Adelsgeschlecht der Nádhernýs mit Hinweis auf die dominante Umgangssprache kurzweg als „Deutsche“ abstempelte, deren Besitz nun nach Kriegsende dem „tschechischen Volk“ gehöre. Obwohl es Sidonie trotz unermesslicher Schwierigkeiten gelang, nach Janowitz zurückzukehren(wobei wohl auch František Kovárna half, mit dem sie die Liebe zu dieser Landschaft verband), lebte sie „provisorisch“ in der Waschstube und bemühte sich trotz der fatalen finanziellen, durch die Abnahme der Ländereien vertieften Nöte, die Rekonstruktion des Schlosses zu initiieren. Sie wurde allerdings auch mit Neid und Missgunst der Einheimischen konfrontiert, mit denen sie an die fünfzig Jahre in guten Beziehungen gelebt hatte. Die Ermittlung gegen sie wegen „aktiver Unterstützung der Okkupationsmacht“ wurde infolge einer Falschaussage eingestellt. Trotz dieser Erlebnisse entschied sich Sidonie Nádherná, die Sammlungen und das Schlossmobiliar dem Museum in Pacov (Patzau) zu widmen, damit sie für folgende Generationen erhalten blieben und nach ihrer Emigration der Konfiszierung entkämen. Der Schenkungsvertrag konnte jedoch bis heute nicht gefunden werden... Nach ihrem Tod wurde auch der Rest ihres Besitzes (v. a. Archivalien) beschlagnahmt, zur Aufnahme in den Archivfond „Velkostatek Vrchotovy Janovice“ kam es erst nach den unermüdlichen Anstrengungen der opferbereiten Arbeiter vor Ort Anfang der 1970er Jahre.
Die sorgfältig zusammengestellte Edition (nur eines: Warum wurden auf Tschechisch verfasste Passagen nicht auch im Original abgedruckt?) wurde um einen umfangreichen Anmerkungsapparat (einschließlich der Schlosspläne),ein Literaturverzeichnis (das auch die bisher erschienenen Editionen der Bibliothek Janowitz beinhaltet), einen Abbildungsteil und vor allem um zwei Studien ergänzt: Pfäfflin kontextualisiert die herausgegebenen Texte kulturhistorisch und macht auf die aktuellen Ereignisse aufmerksam, die mit der Renovierung der Janowitzer Parkanlagen und der Übertragung der exhumierten sterblichen Überreste von Sidonie Nádherná 1999 zusammenhängen. Wagnerová beschäftigt sich wiederum detailliert mit dem Leben und Werk Václav Wagners (einschließlich seiner originellen Auffassung von Denkmalschutz), der später aus politischen Gründen inhaftiert war. Auch wenn das Buch als ein freudloses und wenig angenehmes Zeugnis von der Brutalität der Zeit gelesen werden kann, in der die Rachsucht und Kleinheit des „tschechischen Menschen“ gedieh, bieten die Zeilen der vorliegenden Publikation genauso eine Aussage über ungebrochenen Willen und Opfermut angesichts der eigenen Werte und Überzeugungen, über Sympathie und Großzügigkeit den Menschen gegenüber ungeachtet deren Abstammung, Konfession oder Nationalität und nicht zuletzt über bedingungslose Liebe zur Heimat.
Übersetzung: Lukáš Motyčka
Friedrich Pfäfflin / Alena Wagnerová (Hg.): Gartenschönheit oder Die Zerstörung von Mitteleuropa: Sidonie Nádherný – Briefe an Václav Wagner 1942–1949. Göttingen: Wallstein Verlag, 2015, 342 S.