Es schreibt: Konstantin Kountouroyanis
(23. 5. 2018)Auch 100 Jahre nach Bertha von Suttners Tod ist ihr Traum von einer friedvollen Menschheit nicht in Erfüllung gegangen. Diese Zukunftsvision sowie zahlreiche Vorträge und Veröffentlichungen haben Bertha von Suttner unter ihren Zeitgenossen oft den spöttischen Beinamen „rote Bertha“ oder „Gschaftlhuberin“ und den Ruf einer angeblich naiven „Friedens-Bertha“ eingebracht, wie Johann Georg Lughofer in seinem Essay über die am 9. Juni 1843 unter dem Namen Bertha Gräfin Kinsky von Wchinitz und Tettau in Prag geborene Pazifistin, Journalistin, Frauenrechtlerin und Schriftstellerin im jüngst erschienenen Sammelband Suttner im Kontext – Interdisziplinäre Beiträge zu Werk und Leben der Friedensnobelpreisträgerin schreibt (S. 1ff.).
Der Band fasst zahlreiche Vorträge zu der Autorin des berühmten Anti-Kriegs-Romans Die Waffen nieder! zusammen, die im Juni 2014 auf einer ihr anlässlich ihres 100. Todestages gewidmeten interdisziplinären Konferenz in Prag vorgetragen und im Sommer 2017 von Johann Georg Lughofer und Milan Tvrdík herausgegeben wurden. Auf 238 Seiten werden u. a. die Bedeutung der Friedenstifterin, die zeitgenössische Rezeption, ihre Einflüsse auf andere Autoren wie u. a. Rainer Maria Rilke und Vertreterinnen der tschechischen Frauenbewegung diskutiert. Neben Beiträgen von Viera Glosíková und Laurie R. Cohen, beleuchten auch Ulrich Tanzer und Dietmar Goltschnigg Leben und Wirken der Friedensforscherin, während Milan Tvrdík Licht in das familiäre Dunkel der Suttner bringt und anhand von Sekundärquellen, Archivalien und Matriken (Tauf-, Trauungs- und Sterbebüchern) nachweist, dass Bertha von Suttner nicht, wie häufig irrtümlich angegeben, im Palais Kinsky am Altstädter Ring geboren wurde, sondern in einem unscheinbaren Bürgerhaus in der Prager Neustadt mit der Konskriptionsnummer 697, das in der heutigen Vodičkova liegt. Der Vater war bereits vor ihrer Geburt verstorben. Sie selbst konnte keine 16 hochadeligen Vorfahren nachweisen, die nach Berthas eigener Aussage Voraussetzung für die Aufnahme in den Hochadel war (vgl. S. 136ff. und Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart/Leipzig, 1909, S. 62).
Nachdem die heimliche Beziehung mit dem jüngsten Sohn des Freiherrn Karl von Suttner in Wien, bei dem sie als Gouvernante angestellt war, aufflog und sie das Haus verlassen musste, heiratete sie später heimlich Arthur Gundaccar von Suttner und brannte mit ihm nach Georgien durch. Alexandra Millner und Katalin Teller widmen sich in ihrem Beitrag Auf Reisespuren in Bertha und Arthur Gundaccar von Suttners Literatur dieser Reise (S. 45ff.). Für die Suttners waren Land und Leute fremd. Millner und Teller behandeln daher in ihrer Untersuchung insbesondere das Thema der Fremderfahrung in Bertha und Arthur von Suttners Literatur, die „bei den beiden Suttners unterschiedlich ausfällt und stellen fest, dass [...] diese Differenzen auch in den Entwürfen von Frauen- und Männerbildern vorwiegend beibehalten werden, während sich in Bezug auf die Geschlechterrollen gewisse Akzentverschiebungen feststellen lassen“ (S. 58). Bertha attestiert in ihrem Zeitungstext Kaukasische Frauen (in: Deutsche Revue über das gesamte nationale Leben der Gegenwart 10/1885, Bd. III, S. 173–179), indem sie über die Alters- und Klassenzugehörigkeit der georgischen Frauen berichtet, den georgischen Frauen eine sprichwörtliche Schönheit. In Arthurs literarischen Texten tritt dagegen die Gesamtheit seines ethnografischen Wissens zutage. Dieser Unterschied mag sich daraus erklären, so konstatieren die Autoren, dass Arthur als Mann häufig außer Haus war und mehr von dem Land sehen konnte, während es sich für eine Dame, insbesondere eine aus höheren Kreisen, nicht schickte, das Haus zu verlassen (vgl. S. 53f.).
Die Lebens- und Erfahrungswelt der Frauen des 19. Jahrhunderts war also eine grundlegend andere als die der Männer. Das trifft auch auf Vlasta Pittnerová, Jindřiška Wurmová, Pavla Moudrá und Anna Pammrová zu. Vier Frauen, die von Libuše Heczková und Olga Słowik in dem vorliegenden Band der tschechischen Friedensbewegung zugerechnet werden und deren literarisches Schaffen sowie gesellschaftliches Engagement sie in ihrem Aufsatz ausführlich untersuchen.
Vlasta Pittnerová (1858–1926) übersetzte Suttners Roman Die Waffen nieder! unter dem Titel Odzbrojte!, der dann 1895 erschien (S. 171), während Jindřiška Wurmová (1863–1953) als die bedeutendste Persönlichkeit der tschechischen und mährischen Friedensbewegung für die beiden Autorinnen gilt (S. 172). Das Verhältnis Wurmovás zu Bertha von Suttner soll nach den Forschungen der beiden Wissenschaftlerinnen recht wankelmütig gewesen sein (ebd.). Wurmová war es auch, die zusammen mit der Aktivistin und Organisatorin des bedeutendsten Brünner Frauenvereins Vesna, Eliška Machová, 1899 die Zentrale der Friedensvereinigung der Mährinnen (Ústředí mírového sdružení Moravanek) gründete (ebd.). Doch bereits nach der ersten Friedenskonferenz in Den Haag wurde die Vereinstätigkeit mangels Interesses eingestellt. Wurmovás Engagement in der Friedensbewegung blieb aber bis in die 20er Jahre weiterhin ungebrochen. Im Jahre 1912 gründete sie mit Unterstützung der Mährischen fortschrittlichen Frauenorganisation die Friedenseinheit in Mähren, die innerhalb eines Jahres 1500 weibliche Mitglieder gewann (S. 173). Doch es war auch die Zeit der politischen Umwälzungen und des aufkommenden Nationalismus. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Situation in Prag und der neu gegründeten Tschechoslowakei wieder eine völlig andere. „Der Nationalismus der Tschechen wie der Deutschen“, schreiben Libuše Heczková und Olga Słowik, „in der Zwischenkriegs-Tschechoslowakei verhinderte eine weitere Zusammenarbeit. Die nationalen Spannungen innerhalb der Republik, die von der Henlein-Gruppe und der deutschen Propaganda ausgenutzt wurden, riefen auch bei liberalen Pazifisten unselige Reaktionen hervor wie z. B. im Falle Romain Rollands, der die Rechte der Sudetendeutschen auf Abspaltung unterstützte“ (S. 175). Die Autorinnen kommen zu dem Schluss, dass das erneute Aufflammen des Nationalismus eine weitere Zusammenarbeit zwischen tschechischen und deutschen Pazifisten verhinderte (S. 174).
Genau wie Bertha von Suttner forderte auch die Schriftstellerin und Übersetzerin Pavla Moudrá (1861–1940) wiederholt sittliche Reformen der Menschheit und war davon überzeugt, dass diese Reformen eine evolutionäre Notwendigkeit seien (vgl. S. 176). „Gott sei Dank“, verkündete Moudrá auf der Frauentagung in Prag am 23. März 1918, „hat keine von uns auf der ganzen Welt das Maschinengewehr und mit Giftgas gefüllte Bomben erfunden, in keinem weiblichen Kopf wurde der Gedanke an Schützengräben, Stacheldraht und Flugzeuge, die von oben unschuldige Kinder ermorden und Kulturgüter vernichten, geboren“ (S. 179). Während Lughofer in seinem eingangs zitierten Essay beschreibt, wie Bertha von Suttners Friedensarbeit von ihren männlichen Zeitgenossen als angebliche Folge weiblicher Naivität disqualifiziert wurde – selbst der spätere „Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky sah in Suttners ‚naiver‘ Arbeit [...] den Geburtsfehler des deutschen Pazifismus“ (S. 4), merkt Lughofer an –, sieht Pavla Moudrá den Grund für den Krieg als Institution in der Dominanz des Mannes sowie des männlichen Prinzips (S. 179).
In diesem Kontext scheint das bekannte Böll-Zitat: „Der Krieg hat mich gelehrt, wie lächerlich die Männlichkeit ist“. (Berng Balzer [Hg.]: Heinrich Böll Werke – Interviews 1. 1961–1978, Köln, 1978, S. 542) Moudrás Ansicht durch den Schmerz des eigenen Erlebens zu bestätigen. So diskutiert auch Werner Wintersteiner vor dem Hintergrund der Erfahrungen zweier Weltkriege und zahlreicher Stellvertreterkriege Bertha von Suttner und die Österreichische Friedensbewegung vor 1914 aus heutiger Sicht (S. 17ff.). Er konstatiert, dass auch 100 Jahre nach ihrem Tod „weder die von ihr gegründete Friedensbewegung noch der sozialdemokratische Pazifismus angemessen dargestellt wurden“ (S. 18). Im Gegenteil: Wintersteiner bemängelt, dass zum 100. Todestag der Suttner zwar zahlreiche Berichte in der österreichischen Presse erschienen sind, sie aber weder das gefährliche Wechselspiel des gegenseitigen Wettrüstens noch die Determination zwischen nationalem Chauvinismus, Militarismus und den Geschlechterrollen auch nur annähernd zur Sprache bringen. „Die jungen Männer sollen zu Helden erzogen werden, den Mädchen hingegen wird die Aufgabe zugeschrieben, diese Helden anzufeuern, zu belohnen und zu trösten. Somit tragen auch die unpolitisch gehaltenen, angeblich friedfertigen Frauen ihren Teil zur Aufrechterhaltung des Kriegssystems bei“ (S. 30), analysiert Wintersteiner scharfsinnig anhand der Erzählstruktur von Suttners Roman Die Waffen nieder! und merkt dazu an, dass dieses Faktum heute als ein Phänomen der „sexual division of violence“ diskutiert werde (vgl. ebd.).
Insgesamt versammelt der Band hochinteressante Beiträge, die Bertha von Suttners Leben und Werk unter zahlreichen, häufig noch nicht betrachteten Aspekten beleuchten und historische Fakten neu ordnen. Es ist ein Handbuch für Germanisten, Kultur- und Geschichtswissenschaftler sowie für Institute der Friedensforschung. Besonders interessant: Das Buch ist sowohl als Print als auch als PDF erhältlich.
Johann G. Lughofer (Hrsg.) / Milan Tvrdík (Hrsg.): Suttner im KonText – Interdisziplinäre Beiträge zu Werk und Leben der Friedensnobelpreisträgerin. Heidelberg: Winter Universitätsverlag, 2017, 238 S.