Es schreibt: Ladislav Futtera

(E*forum, 28. 2. 2018)

Die Editionsreihe Wechselwirkungen setzt sich zum Ziel, die „Kontakte der österreichischen Literatur zu anderen (vorzugsweise europäischen) Literaturen unter komparatistischer Perspektive im weitesten Sinne“ (S. 433) aufzuzeigen. Dieser breitgefächerte komparatistische Ansatz liegt auch dem achtzehnten Band der Edition, Von Lenau zu „Laibach“. Beiträge zu einer Kulturgeschichte Mitteleuropas (Frankfurt am Main: Peter Lang, 2016), zugrunde, der eine Sammlung von Studien des Wiener Slawistikprofessors Stefan Simonek, eines der Mitherausgeber der Reihe, enthält.

 

Die sechzehn Studien aus den Jahren 2000–2013, die von ihrem Autor für die Buchausgabe überarbeitet wurden, befassen sich mit einer breiten Themenpalette, von der Rezeption Nikolaus Lenaus in den slawischen Literaturen bis hin zur Dekonstruktion von Nationalhymnen in den Texten der umstrittenen slowenischen Band Laibach. Im Mittelpunkt des Interesses steht jedoch die literarische Moderne der Jahrhundertwende im mitteleuropäischen Kontext, d. h. mehr oder weniger innerhalb der Grenzen Österreich-Ungarns (zu überdenken wäre hier die Eignung des historisch belasteten Terminus „Mitteleuropa“ gegenüber dem Begriff „Zentraleuropa“, wie er z. B. von Moritz Csáky verwendet wird), bzw. die Vermittlung zwischen der Wiener Moderne und den slawischen Literaturen Zentraleuropas. Dieser Epoche widmen sich die ersten vier Kapitel des Bandes (Lineare und zirkuläre Rezeptionsverläufe im Kontext der Moderne; Zwischen Galizien und Wien; Orte der Moderne und Korrespondenzen). Es folgen drei Studien zur gegenwärtigen Reflexion des k. u. k.-Erbes sowie eine abschließende methodologische Betrachtung. In den einzelnen Studien tauchen wiederholt u. a. die Namen des ukrainischen Dichters Ivan Franko und des tschechischen Dichters Josef Svatopluk Machar auf, welche Beiträge für die von Hermann Bahr geleitete Wochenschrift Die Zeit verfassten. Weitere Themen sind z. B. die Kontakte des deutsch und polnisch publizierenden Schriftstellers Tadeusz Rittner zu Peter Altenberg, die Topoi des Wiener Parks und des Wiener Kaffeehauses im Werk des slowenischen Modernisten Ivan Cankar oder die Rezeption Hugo von Hofmannsthals im tschechischsprachigen Milieu.

 

Die oben genannte Breite des Zugangs ist auch für tschechische Leser und Leserinnen einer der wichtigsten Vorzüge des Bandes. Hier würde sich insbesondere eine Gegenüberstellung von Simoneks Beobachtungen mit den Arbeiten Lucie Merhautovás (Kostrbovás) anbieten. Während Merhautová in ihrer Monografie Mezi Prahou a Vídní [Zwischen Prag und Wien] (Praha: Academia, 2011) detailliert die Kontakte des tschechischen Dichters J. S. Machar zu Hermann Bahr und seiner Wochenschrift Die Zeit wie auch Machars Wiener Freundeskreis beschreibt, zu dem u. a. der Pole Zenon Przesmycki gehörte, lenkt Simonek das Augenmerk auf die Beziehungen zwischen Przesmycki und dem Zeit-Redakteur (S. 211–239). Insgesamt betrachtet, entsteht auf diese Weise ein plastisches Bild vom Kontaktnetz zwischen ähnlich gesinnten Schriftstellern aus verschiedenen Teilen der Monarchie.

 

Als Problem erweist sich jedoch mitunter die Tiefe der Untersuchungen. Simonek erlaubt sich bisweilen anhand marginaler Erwähnungen in den Quellen recht vorschnelle Urteile. Als Beispiel sei hier die Studie Zur widersprüchlichen Rezeption Hugo von Hofmannsthals in der tschechischen Literatur um 1900 (S. 39–50) genannt: Aus der tschechischen Rezeption Hofmannsthals greift sich Simonek lediglich einige Erwähnungen bei Karel Toman, J. S. Machar und F. X. Šalda heraus. Im Falle Šaldas befasst er sich mit dem Essay Ležela země přede mnou, vdova po duchu [Vor mir lag das Land, die Witwe des Geistes], der letzte Text aus der Sammlung Boje o zítřek [Kampf um das Morgen]. Šalda beschreibt hier das Milieu eines jüdischen Landgasthofs (das gegenüber der vorhergehenden Szene mit einem slowakischen Mädchen und dem nachfolgenden Gespräch mit einem tschechischen Arbeiter negativ konnotiert ist), und zwar mit den Worten: „Aus dem ersten Stock schallt das Lachen und perlt der Gesang der jüdischen Söhne und Töchter, ein Klavier ächzt und stöhnt unter ‚Tristan und Isolde‘ oder unter den ‚Meistersingern‘. Und manchmal hört man von dort auch Verse von Hauptmann und Hofmannsthal deklamieren.“ Simonek sieht in Šaldas Essay zu Recht Berührungspunkte mit dessen Manifest der tschechischen Moderne, aus welchem Šaldas Interesse an der Frauenfrage wie auch an der sozialen Frage hervorgeht. Die Erwähnung Hofmannsthals in einem negativen Kontext interpretiert er jedoch als Abgrenzung vom Ästhetizismus der Wiener Moderne (S. 47–48). Dieser Interpretation widerspricht allerdings Hofmannsthals gleichzeitige Nennung mit Hauptmann, dessen Werk – zumindest in seiner naturalistischen Phase – stark von der sozialen Frage beeinflusst war. Die Triade Wagner – Hauptmann – Hofmannsthal ist hier eine Synekdoche der deutschsprachigen Kultur. Mittels dieser (wie auch mittels der stark antisemitischen Bilder) delegitimiert Šalda das Bestreben der jungen jüdischen Generation, sich an die deutsche Kultur zu assimilieren, wobei er ihnen Epigonentum und Provinzialität vorwirft. Auf dieser Basis Schlüsse über das Verhältnis zur Wiener Moderne zu ziehen (die hier als recht homogener Komplex betrachtet wird, ohne Berücksichtigung der inneren Dynamik ihrer verschiedenen Strömungen), scheint nicht gerechtfertigt.

 

Eine ähnlich schwach untermauerte Interpretation findet sich auch in dem Text Austriakische Simulakra in der tschechischen Literatur der letzten Jahrzehnte (S. 275–293), in welchem Simonek mehrere auf Angehörige der Habsburger Dynastie bezogene Beispiele für das postmoderne Spiel mit Bedeutungen anführt. Der Versuch, ein von 1969 stammendes, als Brief an Kaiserin Sissi stilisiertes Vorwort Jan Skácels (Místo eseje dopis císařovně [Statt eines Essays ein Brief an die Kaiserin]) zu einer Werkauswahl Karel Jaromír Erbens im Kontext dieses postmodernen Spiels mit der Realität zu interpretieren (S. 277), lässt nicht an einen sachlichen Irrtum glauben. Das Motto dieses Vorwortes „Wie [Erbens Gedichtband] Kytice vom ganzen Volk herzlich willkommen geheißen wurde, so ward ihm auch die seltene Ehre zuteil, in die Handbibliothek Ihrer Majestät der Kaiserin Elisabeth aufgenommen zu werden. (Zeitgenössische Rezension)“ deutet Simonek als Mystifikation. Es handelt sich jedoch um einen leicht abgewandelten Satz aus einer Erben-Biografie Václav Zelenýs, erschienen 1859 im zweiten Jahrgang des Almanachs Máj (Vácslav Zelený: Karel Jaromír Erben. In: Vítězslav Hálek (Hg.): Máj. Jarní almanah na rok 1859. Prag: Jaroslav Pospíšil, 1859, S. 102). Ähnlich irreführend sind auch die Schlussfolgerungen einer Analyse von Bemerkungen über die Habsburger in den Stücken des Theaters Jára Cimrman. Simonek interpretiert die Kritik und Lächerlichmachung bezüglich der Habsburger als Dekonstruktion des Habsburger-Mythos (S. 286–287). Die Cimrman-Texte streben nach einer Entpathetisierung des tschechischen nationalen Narrativs über die Zeit nach der Schlacht am Weißen Berg. Dieses wird jedoch nicht gänzlich negiert, im Gegenteil: Die häufige Kritik an Wien bestätigt es im Prinzip. Neben dem humorvollen Blick auf das späte 19. Jahrhundert ist diese Zeit jedoch gegenüber den darauffolgenden geschichtlichen Umschwüngen als eine Zeit der Stabilität konnotiert, was eines der wichtigsten Attribute des Habsburger-Mythos ist. Bis zum Erscheinen des letzten Cimrman-Stücks České nebe [Der tschechische Himmel] im Jahre 2008 war Cimrman unauflöslich mit jener Zeit verbunden, „in der Wiener Walzer getanzt wurde, in der die Menschen fliegen und telefonieren lernten und sich an den Kassen der ersten Kinematografen drängten. [...] Als sich jener Wiener Walzer im Gefechtslärm des Ersten Weltkriegs verliert, verlieren sich aus der Geschichte auch die Spuren unseres Jára Cimrman“ (Ladislav Smoljak / Zdeněk Svěrák: Divadlo Járy Cimrmana. Praha: Melantrich, 1988, S. 290).

 

Die oben erwähnte Inbezugsetzung Jára Cimrmans zum Habsburger-Mythos entspringt teilweise auch der angewandten Methodik. Simonek bekennt sich zum Konzept der Postcolonial Studies, insbesondere zu Homi K. Bhabha und Gayatri Chakravorty Spivak. Dieses Konzept, das ursprünglich auf die Situation im ehemaligen British Empire bezogen war, versuchte bereits der Sammelband Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis (Innsbruck: Studien Verlag, 2003) auf die Habsburger Monarchie anzuwenden. Die Postcolonial Studies bieten ein breitgefächertes Instrumentarium zur kritischen Analyse der Situation in einem Vielvölkerstaat mit einer führenden, privilegierten Kultur, Ideologie oder Sprache und einem gewissen Homogenisierungsdruck. Wie bereits Vlastimil Hála in einer Rezension des oben genannten Sammelbandes anmerkt, besteht die Gefahr dieses Konzepts in dem potenziellen Hyperkritizismus und der Einseitigkeit einer Interpretation, die ausschließlich auf eine Dekonstruktion des Habsburger-Mythos zielt (Vlastimil Hála: „Postkoloniální“ pohled na habsburský mýtus [Der „postkoloniale“ Blick auf den Habsburger-Mythos]. Soudobé dějiny 11, 2004, Nr. 1–2, 2004, S. 235–236). Jan Surman hat später anhand der Rezeption des postkolonialen Narrativs im polnischen Milieu nachgewiesen, dass ein solches Vorgehen, welches die Mythologie einer herrschenden Entität dekonstruiert, stattdessen die nationale Mythologie der nichtprivilegierten Gesellschaft stärken kann, die sich nun unter Umständen einseitig als Opfer präsentiert (Jan Surman: Postkolonialismus. In: Johannes Feichtinger / Heidemarie Uhl (Hg.): Habsburg neu denken. Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa. Böhlau: Wien / Köln / Weimar 2016, S. 181–187). Beide Klippen hat Simonek, wie die oben genannten Anmerkungen zeigen, nicht gänzlich umschifft.

 

Die methodologischen Ausgangspunkte werden zudem nicht konsistent angewendet. So steht z. B. die dem polnisch-deutschen Schriftsteller Tadeusz Rittner gewidmete Studie unter dem Einfluss der (recht problematischen) Theorie der Deterritorialisierung und der Kleinen Literatur von Gilles Deleuze und Félix Guattari (S. 52–53). Dem entspricht auch die abschließende methodologische Betrachtung, in der Simonek versucht, Bhabhas Konzept der Hybridität und des Dritten Raums mit dem Pluralitätskonzept Moritz Csákys, dem Pulsationsmodell der Literaturgeschichte von Peter Zajac und schließlich auch mit dem genannten Ansatz von Deleuze und Guattari in Einklang zu bringen (S. 358–359). In diesem methodologischen Synkretismus löst sich jedoch das ursprünglich inspirierende und potenziell nützliche Konzept mehr oder weniger auf.

 

Übersetzung: Ilka Giertz

 

 

Stefan Simonek: Von Lenau zu „Laibach“. Beiträge zu einer Kulturgeschichte Mitteleuropas. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2016, 434 S.


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