Es schreibt: Aleš Urválek
(E*forum, 31. 1. 2018)Über den Ersten Weltkrieg nachzudenken, heißt auf eine bereits hundertjährige Denktradition zurückzublicken, deren kontroverseste Beiträge man in Deutschland mit Fritz Fischer und weltweit mit Christopher Clark verbindet. Wen die Forschung über Literatur und den Ersten Weltkrieg interessiert, möge, abgesehen von etlichen bereits während des Krieges herausgegeben Sammlungen, in den 1970er Jahren ansetzen; damals erschienen die ersten bis heute zitierten Monographien und Tagungssammelbände, in denen etwa Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Stefan George, ideengeschichtliche Kontexte („Ideen von 1914“), die geistesgeschichtliche Vorarbeit von Friedrich Nietzsche oder Sigmund Freud, sowie spezielle Themen, so die Frage der (Dis-)Kontinuität der jeweiligen Stellungnahmen der Literaten zum Kriege erörtert wurden.
Seit 2008 kann man sich vom Umfang des Themas in einem bio-bibliographischen Handbuch überzeugen, das auf eine erschöpfende Art über Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum Ersten Weltkrieg in den Jahren 1914 – 1939 informiert. Eine wahre Flut der Publikationen zum Thema hat allerdings das Jubiläumsjahr 2014 gebracht. Außer dem kulturwissenschaftlichen Handbuch zum Ersten Weltkrieg und der bekannten Monographie Die Schlafwandler… von Ch. Clark ist auch ein gesamteuropäischer Überblick über die damalige literarische Szene von Geert Buelens erschienen, in dem auch weniger bekannten Autoren wie Janko Jesenský oder Anton Schnack Gehör geschenkt wird. Dieser jubiläumsbedingte Anlass scheint auch hinter dem Sammelband Der Erste Weltkrieg auf dem deutsch-europäischen Literaturfeld von Bernd Neumann und Gernot Wimmer zu stehen.
Dessen Anliegen bringt im einleitenden Essay B. Neumann zunächst allgemein auf den Punkt, indem er dem Ersten Weltkrieg insofern eine Exklusivität zuschreibt, als bis dahin noch nie „so viele Künstler und Wissenschaftler demonstrativ für eine Seite Partei wie zu Beginn des Großen Krieges“ (S. 15) ergriffen, ja sich „die Künste noch nie derart einschneidend und radikal“ (ibid.) wie eben durch diesen verwandelt hätten. Konturen bekommt das eigentliche Ziel der beiden Herausgeber allerdings erst, sobald die Frage der repräsentativen Stimmen gestellt wird, wobei sich zeigt, dass „Franz Kafka in die Riege der vom Weltkrieg beeindruckten Dichter gar nicht erst aufgenommen“ (S. 17) worden sei. Daraus leiten die Herausgeber zunächst die Notwendigkeit ab, die Kriegszeit in möglichst allen ihren Phasen in den Blick zu nehmen, um – und dies scheint das Besondere an dem Band zu sein – nachdrücklich belegen zu können, dass „der Prager Angst-Dichter“ (ibid.) diesem Kontext doch zuzuordnen sei.
Von Anfang an wird diese Ambition recht aufdringlich reklamiert: selbst zu allgemein gültigen Kontexten wird stets Kafka herangezogen und herbeizitiert. So muss der Leser belehrt werden, dass die in dem mentalen Humus aufblühende Rezeption der Kierkegaard’schen Angst auch „in Kafkas Tagebüchern zu finden ist“ (S. 22). Kafka muss, da er schon mal als „Großstadt-Beamter und nächstens bis zur Erschöpfung Schreibender“ (S. 24) gilt, sowohl ins „Zentrum dieser epochalen Schwächenerscheinung“ der Neurastheniker gestellt, als auch zugleich als „der österreichische Beamte“ (S. 31) hervorgehoben werden, der die „Massenhaftigkeit des Menschen und seine taylorisierte Arbeit ins Bild geholt“ (S. 25) und der Welt „der global operierenden Zwischenhändler“ (S. 26) eine Gestalt gegeben habe. Weniger Kafka würde diesem Band guttun, denkt man sich, wenn man sieht, wofür dieser „Vertreter des Expressionismus“ (S. 42), „Angstschreiber“ (S. 91) und „Weltschriftsteller der apokalyptischen Katastrophe“ (S. 118) hier stehen muss: selbst die zweideutigen Botschaften seiner literarischen Texte werden mit der schlafwandelnd (Ch. Clark) zweideutigen Art der Kriegspolitikerhandlungen parallelisiert, ja die warnend gemeinten Vorkriegsvisionen Ivan Blochs vom Ausgang des 19. Jahrhunderts und die Maßnahmen der beiden Haager Friedenskonferenzen (1899 und 1907) werden aufgrund einer recht vagen Angstähnlichkeit Kafkas Erzählung Der Bau angeglichen, obwohl diese mehr als 20 Jahre später entstanden (1923/24) und herausgegeben (1928) wurde. Diese vielerorts kontraproduktive Überakzentuierung Kafkas mag auf das langjährige Forschungsinteresse beider Herausgeber zurückzuführen sein, das eben diesem Prager Autor gilt und in den letzten Jahren zu einer Reihe von Monographien und Sammelbänden geführt hat. An sich müsste dies nicht weiter stören, hätten sich beide Herausgeber nicht das seltene Recht eingeräumt, außer der gemeinsam geschriebenen Einleitung in den Sammelband jeweils zwei ihrer Studien aufzunehmen. Von den insgesamt 276 Seiten sind somit mehr als 120 von den Herausgebern verfasst worden.
Für eine gleich dreifache Irritation mag auch der Titel des Bandes sorgen: die Reihenfolge „deutsch-europäisch“ wirkt, soweit sie nur in einem einzigen Beitrag ansatzweise reflektiert wird, an sich genauso erklärungsbedürftig wie die vollkommene Absenz jedweder methodologischen Fundierung zum Feld (Pierre Bourdieu). Den prekären Aspekten des Deutsch-Europäischen geht nämlich in seiner Studie nur Thorben Päthe nach, sofern er die deutsch-österreichischen Europavisionen – dargelegt an Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt – in das damals wiederzubelebende Deutsch-Europa Konzept einfügt. Und der europäische Horizont wird vielmehr nur proklamiert, in der Einleitung angedeutet, doch mit Ausnahme des Essays von B. Neumann nirgends erreicht. Über die deutschsprachige Grenze hinaus gelangt man wiederum nur in einer einzigen Studie (Gábor Kerekes Der Erste Weltkrieg in der ungarischen Literatur zwischen 1914 und 1948), ohne dass man dabei allerdings das Deutsche ins Europäische einbeziehen würde.
Die Struktur des Sammelbandes, chronologisch gegliedert in die Themenkomplexe „Angst – Krisenempfinden und Kriegspessimismus“, „Begeisterung – Nationalismus und Kriegspropaganda“ und „Orientierungslosigkeit – Indifferenz und Divergenz“, legt eine Kausalität nahe, die freilich dominierend, aber sicher nicht in allen Fällen gegeben war. Außerdem stellt man fest, dass einige Beiträge einfach den Themen nicht entsprechen, unter denen sie rubriziert werden. Was ein sozialgeschichtlicher Überblick über ungarische Zensurmaßnahmen weit über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinaus mit dem Krisenempfinden und Kriegspessimismus zu tun hat, ist genauso schwer zu erraten wie der Grund, warum die an sich nützliche, aber über weite Strecken recht allgemein angelegte Studie Stanley Corngolds zum Großen Krieg und dem modernen deutschen Gedächtnis mit der Orientierungslosigkeit verbunden wurde.
Dabei beginnt der Sammelband recht vielversprechend mit der Analyse der Korrespondenz zwischen Stefan Zweig und Romain Rolland, bewegt sich diese doch im Spannungsfeld zwischen Patriotismus und Transnationalismus, wo die Interessen des Eigenen und Fremden mal gegeneinander ausgespielt, mal im humanistischen und pazifistischen Sinne harmonisiert werden, so schwierig es auch gewesen sein mag. Diesem Rahmen und dessen Maßstäben scheinen die Beiträge allerdings im unterschiedlichen Maße zu genügen. Recht gut weiß ihm in seinem essayistischen Beitrag Über die Angst des Vorkriegs B. Neumann Rechnung zu tragen, Genüge tun ihm auch alle Autoren, die von profunder Kenntnis eines breiteren Materials ausgehend konkrete Fragen an dieses stellen, um zu stichhaltigen Thesen zu gelangen. Weniger gelingt es, solange man von oben herab mit groben Fragen an die Texte herantritt, um eine breites Panorama zu skizzieren, das aber einem detaillierten Blick nicht immer standhält. Solche Studien scheinen dem Gelegenheitszweck des Bandes am stärksten Tribut zu zollen, sofern sie kaum mit neuen Thesen und Kenntnissen aufwarten.
Zum erstgenannten Typus gehört B. Neumanns Studie über Franz Kafkas nächtliches Schreiben als Manövertätigkeit, der es ums Erfassen der dispositiven Funktion des Krieges geht. Insbesondere die Quellenarbeit Neumanns weiß zu überzeugen, werden hier doch nicht nur die bekannten (zu Sören Kierkegaard), weniger bekannten (Anton Kuh) und kaum bekannten Lektürebezüge (Rembrandt als Erzieher von Julius Langbehn, einem der völkischen Bestseller des späten 19. Jahrhunderts) nahegebracht. Den weiteren Schwerpunkt bildet hier die Analyse der „Manövertätigkeit“ am „Prozess“, als eines Schnittpunkts seines persönlichen (Felice Bauer) und politischen (Krieg) Konflikts, wobei der Weltkrieg mit dem Verlobungskrieg aufeinander bezogen werden. Durchaus in Anlehnung an Neumanns frühere Arbeiten wird Kafka weniger als überzeugter Pazifist, vielmehr als in seinen Positionen schwankender, ja „verhinderter Weltkriegsteilnehmer“ (S. 107) dargestellt. Nur am Rande bemerkt: Neumanns Wille, Kafkas Werk in entsprechender Ambivalenz zu erfassen, weicht manchmal eher dem Willen nach einer starken Pointe, sprich definitiven und ausschließlichen Urteilen. So kann man nur achselzuckend zur Kenntnis nehmen, dass Kafkas neue Literatur „nur unter der dispositiven Wirkung der damaligen Weltkatastrophe entstehen“ (S. 118) konnte, ja dass die Texte wie Der Prozess oder In der Strafkolonie nicht entstanden wären, „wenn es den Dreyfus-Prozess nicht gegeben hätte“ (S. 91). Ähnlich produktiv gehen mit dem literarischen Material auch Peter Beicken und Wolfgang Wangerin um. Beicken interpretiert einzelne Phasen der Kriegsbegeisterung in Ernst Jüngers In Stahlgewittern auf die einzelnen Selbststilisierungsformen hin, um diese, in deutlicher Korrektur insbesondere der Arbeiten von Heimo Schwilk, durchaus pointiert als Todesengelformen im Kriegstheater zu bezeichnen. W. Wangerin, die Kriegsbilderbücher für die Jüngsten präsentierend, analysiert auf eine erhellende Art jene literarische Mobilisierung, die in den Kinderzimmern verlief.
Zu der weniger glücklichen zweiten Kategorie gehören beide Studien G. Wimmers; hier werden entweder panoramatisch einzelne Liebesformen in den Romanen Joseph Roths vorgestellt, wobei der Krieg eher am Rande der Analyse erscheint, oder Kafka, Trakl und Kraus werden als „österreichische Wahrsager des Expressionismus“ nebeneinander gestellt, um den Wandel zu analysieren, „der die Haltung zu den religiösen Mythen und den weiteren philosophischen Modellen betrifft, ohne dass dabei jedoch eine grundsätzliche Abkehr von eben diesen erfolgte“ (S. 36). Wimmer liefert hier eine zwar theologisch belehrte, doch nicht immer klar formulierte (was sind in Bezug auf religiöse Mythen weitere philosophische Modelle?) und sprachlich nachvollziehbare Studie, deren Schluss wirkt, als wäre der Rekurs zu der emotionalen Grundkonstitution der Angst vielmehr nur auf die Zugehörigkeit zum Themenblock „Angst“ zurückzuführen. Bei der Lektüre solcher Beiträge dieses qualitativ sehr unausgeglichenen Sammelbands hofft man, nächstes Jahr, wenn 100 Jahre vom Kriegsende gefeiert werden, bei der zu erwartenden Bücherflut mitunter auch auf Publikationen lesen zu dürfen, deren Entstehen mehr als nur diesem Jubiläum zu verdanken ist.
Bernd Neumann / Gernot Wimmer (Eds.): Der Erste Weltkrieg auf dem deutsch-europäischen Literaturfeld. Wien / Köln / Weimar: Böhlau Verlag, 2017, 276 S.