Es schrieb J. L. Fischer

(E*forum, 13. 9. 2017)

Zum achtzigsten Geburtstag Tomáš Garrigue Masaryks (7. 3. 1850 – 14. 9. 1937) veröffentlichte der Philosoph und Soziologe, Analytiker und Kultursynthetiker Josef Ludvík Fischer (1894–1973) die metaphorische Glosse Der einsame Findling (Čin 1, 1929/30, Nr. 19, 6. 3. 1930, S. 448–449), in der er betonte, dass Masaryks Einzigartigkeit eine Schwierigkeit für seine Nachfolger sei. Auch andere eigenwillige Betrachtungen hat Fischer Masaryk gewidmet, wie zum Beispiel die Skizze Die Böhmische Frage (in: Kultura a regionalismus, Brno 1930), in der er u. a. über die Wirkung der „destruktiven Tradition“ Masaryks in der Realität der ersten Tschechoslowakischen Republik nachdenkt, sowie den Artikel Masaryk als Denker (Slavische Rundschau 9, 1937, Nr. 6, 30. 10., S. 366–371), in dem er Masaryk als Anthropozentristen, als „individualistischen Gottessucher“ ansieht, der ein Gleichgewicht zwischen Wissenschaft und Religion, Subjekt und Welt anstrebe. Der folgende Text ist (ebenso wie die anderen beiden genannten) Teil des Buches Čtení o T. G. Masarykovi [Lektüre über T. G. Masaryk] mit dem Untertitel Literatura – člověk – svět (1910-1938) [Literatur – Mensch – Welt (1910–1938)], welches das IPSL als zehnten Band der Edition Antologie gerade herausgegeben hat.

 

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Josef Ludvík Fischer:

Der einsame Findling

 

Er zeichnet sich in der Dämmerung am Horizont scharf ab, überragt seine Umgebung, auf die er seinen Schatten zu legen scheint.

 

So auch Masaryk.

 

Er durchdachte alles und versuchte die Bestimmung seines Volkes zu formulieren.

 

Er durchdachte alles und versuchte die Bestimmung des Staates zu formulieren, um dessen Wiedergeburt er sich vor allen verdient gemacht hatte.

 

Er durchdachte alles – in einem Wort, – er versuchte unser nationales Programm in all seinen Seiten zu formulieren und in die Tat umzusetzen.

 

Aber nach ihm niemand.

 

Deshalb ragt er empor wie ein Findling, der sich nicht gegen die Traurigkeit seiner Einsamkeit wehrt.

 

Wohl jede seiner Formulierungen lässt sich anzweifeln; gegen jede wohl Kritik anbringen; gegen jede wohl neue aufstellen.

 

Mehr noch:

 

Die verpflichtende (oder eher selbstverständliche) Hochachtung seines Werks gebot es, zu alldem wenigstens einen Versuch zu wagen: Fremde Arbeit kann nie angenommen werden, nicht passiv und bequem und kritiklos. Das edelste Vermächtnis kann nicht ohne Änderung an- und übernommen werden: je größer das Vermächtnis, zu desto größerer Arbeit verpflichtet es.

 

Uns nahm er nicht in die Pflicht.

 

(Und daher die Traurigkeit, die auch auf andere fällt.)

 

Große Persönlichkeiten sind eine Gabe für ihre Völker, und an den Völkern liegt es, sie sich zu verdienen. Sich wenigstens darum zu bemühen.

 

Auch Völker haben Pflichten gegenüber ihren großen Persönlichkeiten.

 

Dankbarkeit allein ist noch nicht die ganze Pflicht. Eher eine Selbstverständlichkeit, über die wir uns schämen laut und in der Öffentlichkeit zu sprechen. Und wenn wir es tun, dann einfach, so einfach wie möglich.

 

Denn Dankbarkeit allein ist – noch einmal – nicht die ganze Pflicht. Auch nicht gegenüber Masaryk.

 

Das ist erst die Arbeit, würdig dessen, der verpflichtet hat, der verpflichtet zu ihr.

 

Diese unsere Pflicht, die Pflicht gegenüber Masaryk, haben wir bislang zu erfüllen versäumt.

 

Wir begnügten uns damit, ihn als großen und unnachgiebigen Findling in unserem nationalen Leben zu belassen, einen einsamen und traurigen Findling, der seine Umgebung überragt und auf die er seinen Schatten zu legen scheint.

 

 

Übersetzung: Daniela Pusch


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