Es schrieben Otokar Fischer und Pavel Eisner
(E*forum, 30. 8. 2017)Zu den historischen Momenten, in denen die Notwendigkeit, die Aufgaben der tschechischen Germanistik neu zu definieren, mit der Schwierigkeit einherging, diese Disziplin vor den Augen der tschechischen bzw. tschechoslowakischen Öffentlichkeit zu legitimieren, gehörten zweifellos die Perioden nach 1918 und nach 1945. Diese Daten markieren zwar in vielerlei Hinsicht unvergleichbare Umbrüche, dennoch lassen sich Parallelen beobachten: in der revolutionären Begeisterung, in der Idee eines geschichtlichen Neuanfangs, in dem Drang nach einer neuen (Selbst-)Bestimmung der Gesellschaft einschließlich der intellektuellen Kreise – und auch in der gesellschaftlich auf breiter Ebene geteilten Aversion gegen die Deutschen, das Deutschtum und die deutschsprachige Kultur. Ihre Vorstellungen von der Lage der tschechischen Germanistik und ihren Aufgaben formulierten in jenen Momenten auch zwei Schlüsselfiguren der tschechischen Literatur, Literaturwissenschaft und Übersetzung, Otokar Fischer (1883–1938) und Paul/Pavel Eisner (1889–1958). Beide plädierten dabei fern jeder Anbiederung und jeglichen Werbe-Tons für eine konstruktive Haltung gegenüber der deutschen Kultur. Beide praktizierten keine Kabinett-Disziplin, sondern eine mit dem öffentlichen Leben eng verbundene Wissenschaft, beide beschrieben die veränderten Umstände, in denen die Germanistik nunmehr agieren sollte – und beide waren imstande, für den Großteil der Öffentlichkeit provokative Ansichten zu äußern.
Fischer arbeitete bereits seit 1909 am Germanischen Seminar der tschechischen Universität in Prag, im Mai 1919 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt. Seine Vorlesungen im Wintersemester 1919–1920, die das Heft „(Německá literatura) Dramaturgické problémy“ [(Deutsche Literatur) Dramaturgische Probleme] dokumentiert (Nachlass O. Fischer, Literaturarchiv des Museums des nationalen Schrifttums in Prag), leitete er mit einigen Überlegungen zu der Zukunft der tschechischen Germanistik ein. Diese Äußerungen waren zwar an eine spezifische Zielgruppe (Studierende) adressiert, berücksichtigten jedoch die Rolle des Fachs im gesamtgesellschaftlichen Kontext und drückten u.a. die Hoffnung auf eine Reflexion der Kultur ohne nationalistischen Chauvinismus und auf eine neue europäische Sendung der deutschen Kultur ohne imperiale Ansprüche aus. Dass diese Hoffnung später auf tragische Weise enttäuscht wurde (auch für Fischer persönlich: am Tag des Anschlusses Österreichs erlag er einem Herzinfarkt), ist sicherlich nicht nur der Tatsache anzulasten, dass die humanistische Tradition der deutschen Kultur nicht die erforderliche Aufmerksamkeit der Auslandsgermanistik sowie der Deutschen selbst genoss.
Paul/Pavel Eisner wurde 1939 aus rassischen Gründen pensioniert und suchte den Repressionen während der Nazi-Okkupation zu entkommen. Unter den Namen seiner Kollegen und unter Pseudonymen konnten zwar einige seiner Arbeiten erscheinen, nichtsdestoweniger bedeutete für ihn das Kriegsende einen Aufbruch in die Freiheit (in den letzten Kriegsmonaten war er in der Infektionsabteilung des Krankenhauses Bulovka versteckt) und hin zu neuen Arbeitsplänen. Sein Aufsatz K nové české germanistice [Zur neuen tschechischen Germanistik] wurde im Spätsommer 1946 im Heft 17/18 der von Václav Černý herausgegebenen Revue Kritický měsíčník [Kritische Monatsschrift] abgedruckt. Der tschechischen Germanistik schrieb er die weltweit einzigartige Verantwortung zu, eine verstehende sowie kritische Beobachterin und Interpretin der deutschen Kultur zu sein. Bemerkenswert ist dabei der beinahe moralistische Ton Eisners, die Unterordnung der Germanistik unter nationale politische Interessen – ebenso wie sein Aufruf zur Aufarbeitung der Geschichte der deutschen Literatur in den Böhmischen Ländern, einschließlich ideologisch problematischer Literaten. Es scheint, dass der retrospektive Blick auf die bereits „abgeschlossene“ Geschichte dieser Literatur für Eisner u.a. die Wahrnehmung von Zusammenhängen und Problemen in der zeitgenössischen deutschen Kultur schärfen konnte, zu der er die Germanistik verpflichtete. Dagegen hätte für Otokar Fischer (obwohl er bereits 1914 in dem Artikel Neznámá Praha [Das unbekannte Prag] das Desinteresse mancher Tschechen an der deutschen Literatur in den Böhmischen Ländern kritisierte) eine zu starke Verpflichtung der Germanistik auf dieses Forschungsgebiet vielleicht eine unerwünschte Regionalisierung bedeutet, sei es im Sinne einer narzisstischen Beschränkung auf „unsere“ unmittelbaren Kontexte oder im Sinne einer ungewollten Einbeziehung in nationale Auseinandersetzungen.
Die Antworten beider Akteure auf die Frage „Was soll mit der tschechischen Germanistik geschehen?“ gehen schließlich über den üblichen Rahmen der deutsch-tschechischen Beziehungen hinaus und zeigen, dass Fischer und Eisner die Germanistik gerade in diesen Momenten u.a. auch als Mittlerin der Reflexion über die tschechische Kulturgeschichte und über die Rolle der tschechischen Wissenschaft weltweit verstanden haben. Dies scheint besonders bedeutsam angesichts der „Pflege“ eines negativen Bildes von Deutschland und der Geschichte der deutschen Kultur in den Böhmischen Ländern durch manche tschechische Politiker – sowie angesichts der tschechischen Germanistik, die in ihrer Tätigkeit Eisners Wunsch immer noch nur aspektweise erfüllen konnte.
Štěpán Zbytovský
Otokar Fischer: „(Německá literatura) Dramaturgické problémy“ [(Deutsche Literatur) Dramaturgische Probleme] (1919)
[…] Sicher ist, dass die Bedeutung des Deutschen als Kommunikations-, Handels- und Amtssprache zurückgehen wird – sie ist übrigens schon zurückgegangen; die „allein selig Machende“ ist weg, und auch die gleichsam exklusive Stellung der deutschen Wissenschaftswelt, die bei uns einseitig überschätzt wurde, gehört der Vergangenheit an. Aber trotzdem wage ich zu behaupten: Auch unsere Germanistik hat gerade jetzt große Aufgaben, ja größere als vor dem Krieg. Im Vordergrund werden nicht mehr die Polemiken um tschechisch oder böhmisch stehen, das Hauptproblem der deutschsprachigen Literaturhistorie wird für uns nicht mehr die sog. österreichische oder gar deutschböhmische Literatur sein, wir werden nicht mehr begeistert registrieren, dass irgendein deutscher Dichter liebenswürdigerweise einer unserer historischen Persönlichkeiten Aufmerksamkeit schenkte: Die Bedeutung unserer Germanistik wird eine doppelte sein. Zum einen hängt sie damit zusammen, was man Kulturpolitik nennen mag, denn es kann nicht gleichgültig sein, was für Kulturgüter entstehen und in Jahrhunderten knapp hinter den Grenzen des Staates vorbereitet wurden. Es wird uns nicht möglich sein, uns ganz von den geografisch nächsten Einflüssen zu befreien, und gerade derjenige, der mit der deutschen Kultur gut vertraut ist, wird geistig am meisten auf der Hut sein, so dass unser geistiges und sprachliches Leben nicht gestört wird, sei es durch Germanismen, sei es durch Operetten oder die üblichen Possen, die wohl allzu sehr den durchschnittlichen Geschmack unseres Publikums prägen. Aber jeglicher Chauvinismus wird in Dingen der Kultur, so hoffe ich, als etwas Überwundenes gesehen, und wir können uns heute stolzer und selbstverständlicher denn je mit denjenigen Werten unserer Nachbarn befassen, die über die Interessen des Tages hinausreichen. Und damit komme ich zu der zweiten Aufgabe der tschechischen Germanistik, die aufmerksam beobachten wird, was Großes bei den Deutschen ist und war oder sein wird, gleich ob es sich an die klassisch-humanistische Tradition anlehnt oder an die romantisch-nationale oder ob es die neu entstehenden Werte und Gedanken und Stile betrifft, die erst dunkel in der Zukunft schlummern. Denn das muss sich der Germanist eingestehen: Mit dem Ende des deutschen Imperialismus hat das geistige Reich Kants, Goethes, Beethovens seine Rolle noch lange nicht ausgespielt. Im Gegenteil. Die Niederlage war wohl notwendig, damit der deutsche Geist über seine neue Sendung nachdenkt. Kein Sieg war für die deutsche Kultur – und damit auch für die Entwicklung Europas – schicksalhafter als der Sieg Preußens 1871. Schon damals haben es die besten unter den deutschen Intellektuellen gespürt. Das Fieber der sog. Gründerjahre, der durch Bismarck und dann Wilhelm II. angefachte Nationalismus, welcher selbst die Grenzen des Größenwahns sprengte, der grandiose Stil Berlins und die kokette Genusssucht Wiens, die Begeisterung für Marine, für Kolonien, für Krupp, das alles förderte die geistige Katastrophe, die der unzeitgemäße Denker gleich nach der Entstehung des deutschen Kaiserreichs als Bildungsphilistertum eingeschätzt hatte. Das alles hat die Nation, die sich das Volk der Dichter und Denker nannte, von seiner eigenen europäischen und globalen Mission abgebracht. Nun, es ist heute kein Geheimnis mehr: Viele, ja, die besten und selbstständigsten Geister in Deutschland und Deutschösterreich haben ihre Überzeugung seit Anfang des Weltkriegs, seit dem Überfall Belgiens ausgesprochen: Deutschland musste besiegt werden – zur Rettung der deutschen Kultur. Das ist auch geschehen. Und heute, da das gedemütigte Deutschland eine wirtschaftliche sowie gesellschaftliche Tragödie erlebt, gibt es keine Zweifel darüber, dass es nicht von einem neuen Bildungsphilistertum gefährdet wird, sondern dass dort eine Art neue geistige Welt entsteht, die sich wohl mit ganz unabsehbaren Folgen auf die Kunst auswirken wird. Und es ist ein moderner deutscher Denker [gemeint ist wahrscheinlich Rudolf Pannwitz], der geradezu das Heil der deutschen Kultur darin sieht, wenn seiner Nation für immer das Schwert des Imperiums aus der Hand geschlagen wird und wenn ihm die Aufgabe zukommt, ein kultureller Geist und ein kulturelles Ferment zu sein unter anderen Nationen Europas.
[…]
Eine Aufgabe der Germanistik habe ich nur flüchtig erwähnt: ihre Bedeutung für unsere heimische Literaturgeschichte. Und besonders die Geschichte des tschechischen Dramas ist schlicht undenkbar ohne die Geschichte des deutschen Dramas, insbesondere was die Anfänge unseres Theaters betrifft. Wir müssen völlig ohne Sentiment registrieren, dass das tschechische Theater in Prag als eine Filiale des deutschen entstanden ist, dass es restlos beherrscht wurde durch dessen Technik und Charakteristik, durch die Intrigen und die Psychologie der damals geläufigen und nicht gerade erhabenen deutschen Muster, und dass unser Drama, noch als es schon wirklich eine heimische Stammeseigenart zum Ausdruck brachte, immer noch im Fahrwasser der deutschen Stile und Moden schwamm.
Pavel Eisner: K nové české germanistice [Zur neuen tschechischen Germanistik] (1946)
Die Germanistik wurde an den beiden tschechischen Universitäten nach ihrer Auferstehung nicht im Umfang der Vorkriegszeit wiederhergestellt. Dies geschah absichtlich, als Zeichen des Protests, und es war gut so. Das Schweigen der tschechischen Wissenschaft geziemte sich auch als Totenfeier für vier repräsentative tschechische Germanisten, die auf je andere Weise vom Dritten Reich ums Leben gebracht wurden. Welch ein Symbol, der Tod von Fischer, Sahánek, Kraus, Jirát!
Das Schweigen der tschechischen Germanistik kann aber nur vorübergehend sein. Wo sie aufgehört hat, dort wird sie nicht mehr anschließen können, nie mehr auf die vorherige Art und Weise. Aber sie wird von neuem anfangen, daran gibt es keine Zweifel. Es seien hier einige Mutmaßungen darüber erlaubt, welche Richtung sie einschlagen wird.
Nach der klassischen Definition ist Germanistik die Wissenschaft vom deutschen Geist. Allein das bedeutet aber schon, dass sie eine „politische“ Wissenschaft ist. Für uns wird sie im potenzierten Sinne politisch. Jegliches literarische Erzeugnis wird der tschechische Germanist nicht nur als Historiker, nicht nur als Ästhetiker betrachten, sondern auch als Politiker. Ein lyrisches Gedicht wird Gegenstand einer „politischen“ Betrachtung, auch wenn es über Röslein und Sternchen spricht. […] Die tschechische Germanistik wird eine nationale wachhabende Wissenschaft par excellence. […] Es wird notwendig sein, die Buchproduktion im Nachkriegsdeutschland zu beobachten und zu studieren, ihre Werte und Quasiwerte, ihren Einfluss auf das Ausland, ihre bewussten sowie unwillkürlichen ideologischen Camouflagen (wir wissen im Voraus, das beide Arten reichlich vorkommen werden). […]
Es ist der tschechischen Germanistik wegen der Fülle anderweitiger Aufgaben nie gelungen, die Literatur der Deutschen in den Böhmischen Ländern zu erfassen und wissenschaftlich zu bewältigen. Das muss jetzt geschehen, da die Geschicke dieser Literatur abgeschlossen sind. Vor allem ist die tschechische Germanistik zu zwei Aufgaben moralisch verpflichtet: die Spezifik der „sudetischen“ Belletristik monografisch aufzuarbeiten, d.h. die Kategorie der sog. Grenzlandromane mit ihrem krankhaften, bereits vor Hitler hitlerischen Gehalt des Ach und Weh, der Hetze, der stammheitlichen Überheblichkeit, des Größenwahndeutschtums, des nationalistischen Ticks; und analog monografisch die Geschichte der deutschsprachigen periodischen Presse in den Böhmischen Ländern. […]
Es ist eine gleichsam phantastische Vielfalt von Aufgaben. Die tschechischen Germanisten werden sich ihnen nicht widersetzen, denn es handelt sich um das Erfüllen einer nationalen Pflicht. Die reine Erkenntnis kommt dabei gewiss nicht zu kurz. Gleichzeitig handelt es sich um einen Dienst an der Menschheit. Das zu besichtigende Material ist jedem zugänglich, auch einem Chinesen. Mit Büchern kommt man aber nicht hin, zur Lektüre braucht man gute Augen und manchmal auch eine Brille. Wir haben sie, unser Schicksal hat uns mit ihnen ausgerüstet. Der Angelsachse wird die Deutschen niemals verstehen, wird sie nicht erfassen, nicht begreifen. Er hat sie nicht in der ihnen eigenen Tragweite kennengelernt, in ihrem Maskentreiben, ihrem Tiefgang und ihrer proteischen Wandelbarkeit und in der ewigen Virulenz ihres Geistes. Die Befürchtung gilt als begründet, dass auch der Franzose den Boden des deutschen Abgrunds nicht erblicken kann, wie sehr er sich auch immer anstrengt. […] Die tschechische Germanistik hat daher eine unmittelbare Sendung für die gesamte Welt. […]
Dieser Frage wird künftig kein tschechischer Germanist, kein tschechischer Übersetzer aus dem Deutschen ausweichen können, wann immer sie sich in ein durch Schönheit und Geist entzückendes Phänomen oder Werk versenken. In ihr Arbeitszimmer schleicht sich ein Schatten ein und wird hinter ihrem Rücken fragen: Entstellst du nicht durch deine positive Auswahl? Trügst du nicht? Darfst du?
Übersetzung: Štěpán Zbytovský