Es schrieb: Arnošt Kraus
(E*forum, 10. 5. 2017)„Solange die Geschichte unseres Geisteslebens bei der Erforschung tschechisch geschriebener Werke endet, wird es unmöglich sein, sich ein befriedigendes Bild über das Erwachen der tschechischen Literatur am Beginn unseres Jahrhunderts zu machen. Zur tschechischen Literatur gehört mit Sicherheit auch die vorangehende deutsche, besonders insoweit sie die provinzielle Richtung beschreitet, die ein Vorläufer der nationalen Richtung bei uns wie anderswo ist. Diese Literatur ist unsere Literatur; die spätere deutsche Literatur in Böhmen ist bloß eine von zwei Strömungen, in welche sich die frühere patriotische Literatur aufgeteilt hat. Zu dieser Zeit der Vorbereitung, für uns mindestens so wichtig wie die in lateinischer Sprache verfasste Literatur, ist nur allzu wenig gearbeitet worden, und es ist Aufgabe dieser Arbeit, die Aufmerksamkeit unserer Literaturgeschichtsschreiber auf diese Quellen unserer neuen nationalen Literatur zu lenken.“
Diese Passage aus dem ausgedehnten wissenschaftlichen und kritischen Werk der Gründerfigur der tschechischen Germanobohemistik Arnošt Kraus (1859–1943) belegt sein Interesse an einem gründlichen Studium der deutsch-tschechischen Literatur- und Kulturbeziehungen der Ära „zwischen den Epochen“, d. h. am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Schon seit den Anfängen der tschechischen Germanistik ist diese komparatistische Dimension praktisch bei allen Forscherinnen und Forschern omnipräsent und hängt zweifellos mit dem unmittelbaren Erleben und der kritischen Bewertung der deutsch-tschechischen „Konfliktgemeinschaft“ (Jan Křen) und Nachbarschaft zusammen. Kraus zieht sozusagen Bilanz: nicht nur der lateinischen, tschechischen, deutschsprachigen und slowakischen Literatur und Kultur, sondern auch der Leistungen der zeitgenössischen Philologie und Geschichtswissenschaft. Programmatisch knüpfte er dabei an T. G. Masaryks Forderung an, ‚tschechische‘ Stoffe in der deutschsprachigen Literatur zu studieren und das Historismuskonzept in der tschechischen Kultur, wie es in den Zeitschriften Athenaeum und Čas [Zeit] oder später in Masaryks Abhandlung Česká otázka [Die Tschechische Frage] formuliert ist, als Ganzes kritisch neuzubewerten. Ebenso muss an Kraus’ philologische Schulung in Berlin und München bei führenden Vertretern des deutschen Positivismus (Wilhelm Scherer, Karl Viktor Müllenhoff) erinnert werden, dessen Methodologie (das Erstellen einer gesicherten Filiation des Stoffs bzw. Motivs sowie eine Analyse deren Stilbildung, begleitet von einem zuverlässigen bio-bibliografischen Apparat) er im kulturpolitisch brisanten deutsch-tschechischen Umfeld nicht selten früher als seine deutschen Zeitgenossen in den böhmischen Ländern zur Anwendung brachte.
In seiner bis heute zitierten Studie über den Übersetzer, Romancier und Prager Universitätsprofessor für Ästhetik August Gottlieb Meißner, aus welcher die oben zitierte Einleitung stammt, schreibt Kraus weiter: „Im Jahre 1785 geschah es, dass die moderne literarische Bildung in ihrer besten Form nach Böhmen gebracht wurde, als A. G. Meißner aus Dresden auf die Professur für Ästhetik und klassische Literatur nach Prag berufen wurde. Das ist die Bedeutung jener Berufung, das macht Meißner für uns interessant und weist auf seine große Bedeutung hin“ (Athenaeum 5, 1887–88, Nr. 5 u. 6). Kraus betont hier auch Meißners umfassende Wirkung auf seine zahlreichen Schüler, unter denen spätere Übersetzer und Autoren der modernen tschechischen wie auch der deutschsprachigen Literatur zu finden sind. Geradezu programmatisch hebt Kraus dabei die Notwendigkeit hervor, sich mit scheinbar schwer zu vergleichenden Randphänomenen des zeitgenössischen deutschsprachigen Kultur- und Literaturlebens in den böhmischen Ländern zu beschäftigen, in welchem er chronologisch, thematisch und in gewissem Maß auch hinsichtlich der Genres Unterschiede zu den zeitgenössischen deutschen wie auch österreichischen Literatur sah.
Wir drucken hier einen längeren Abschnitt aus Kraus’ Rezension der bahnbrechenden Studie über den ‚Einfluss der deutschen Literatur auf die tschechische Romantik aus der Feder des slowenischen Slavisten und Germanisten Matija Murko. In diesem Text entwickelt Kraus seine zuvor nur angedeutete Auffassung von den Anfängen der neueren tschechischen Literatur über die provokative Frage nach ihren fremden Quellen und Inspirationen besonders deutscher Herkunft. Die vorherrschenden spätromantischen, durchweg isolationistischen Vorstellungen einer ‚tschechischen Auferstehung‘, zu deren langsamer Korrosion seit der Mitte der 1880er Jahre auch Kraus wesentlich beigetragen hatte, wurden durch Murkos Buch endgültig infragegestellt. Der beträchtliche, bis heute nicht untersuchte Einfluss von Murkos Buch auf das deutschsprachige Umfeld, wozu auch eine ergänzende und präzisierende Rezension von Kraus in der bedeutenden slawistischen Zeitschrift Archiv für slavische Philologie (1897) beitrug, kann wohl nicht unterschätzt werden – von dieser Zeit an wurde die Bohemistik Teil einer breiter orientierten philologischen „Gelehrtenrepublik“. – Beide Texte von Kraus samt ausführlichem Kommentar und Erklärungen finden sich in der Anthologie Arnošt Vilém Kraus (1859–1943) a počátky české germanobohemistiky (Praha: Academia, 2016, S. 62 und 304–317). Letztere wird im E*forum demnächst besprochen.
Václav Petrbok
Dr. Matthias Murko, Deutsche Einflüsse auf die Anfänge der böhmischen Romantik
„[…] Die Wiedergeburt des böhmischen Volkes ist keine bloß literarische, sondern eine soziale Tatsache und hängt mit der allgemeinen europäischen Bewegung seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zusammen. Sie kann also keiner bloßen literarischen Richtung, keiner bloß literarischen Tätigkeit zu verdanken sein. Sobald die von fremder Kultur noch nicht entfremdeten breiten Volkskreise, zur Geltung, zum Wohlstände, zur Bedeutung gelangten, musste sich auch das Bedürfnis nach geistiger Nahrung für dieselben herausstellen. Dis Legende von einem fast germanisierten Volke, das die Tätigkeit einiger weniger Erwecker dem nationalen Tode entrissen hätte, eine Legende, die ein im wechselseitigen Lobe starker Freundeskreis aufgebracht hat ist doch längst abgetan und Murko wird sie am allerwenigsten wiedererwecken wollen. Prag mochte einen deutschen Firnis haben, ein Reisender, der mit niemandem sprach als mit den Postmeistern, mochte durch Böhmen kommen ohne ein Wort böhmisch zu hören: der Kern des Volkes war und blieb doch ganz böhmisch, mehr sogar als gegenwärtig. Die Literatur beschränkte sich zwar auf Gebet- und Erbauungsbücher, aber die deutsche Literatur in Böhmen war nicht viel besser und entsprach eben auch nur dem unmittelbaren Bedürfnis. Eine ganze Reihe von Völkern ohne alle literarische Vergangenheit hat im 19. Jahrhundert eine Literatur bekommen; bei dem böhmischen handelt es sich lediglich um eine Hebung des Schrifttums ─ eine Erweiterung des Stoffgebietes, die hätte durch die Macht der Ereignisse allein sich einstellen müssen. Dass aber der Anfang mit dieser Wiedereroberung verlorener Stoffgebietes und verlorener Leserkreise so frühzeitig geschah, das ist und bleibt ungeschmälert das Verdienst der josephinischen Epoche. Das Toleranzedikt, die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Pressfreiheit, ein so wenig vorbereitetes Geschlecht die letztere auch antraf, waren Ereignisse, welche den naturgemäßen Entwickelungsgang gewaltig beschleunigten. Taten, welche eine mehr als halbhundertjährige Reaktionsperiode nicht mehr ungeschehen machen konnte. Dass die neugegründeten Volksschulen gleichzeitig zu Germanisationsanstalten gemacht wurden, verschlug dagegen nichts, das bald vergessene bisschen Deutsch, das man in den höheren Klassen lernte, schadete weniger, als die in den niederen Klassen erworbene Lesefertigkeit nützte. Ebenso war die Ersetzung des Lateinischen durch das Deutsche im höheren Unterrichte nur förderlich. Das Lateinische ließ keine Entwickelung zu, das Deutsche wäre bei ungestörter Entwickelung von selbst dem Böhmischen gewichen. Wir finden denn auch wirklich schon in dieser Periode eine literarische Tätigkeit auf dem Gebiete des Dramas, der Dichtung, der populären Belehrung, welche den Bedürfnissen des Augenblicks entsprach und ganz auf fremden Mustern beruhend, doch einen guten Grund zur selbständigen Entwickelung zu legen geeignet war. Die Literatur ist überhaupt weit mehr das Produkt der politischen, sozialen, wirtschaftlichen Verhältnisse als der Nachahmung. Gerade die elendesten Literaturperioden pflegten die glänzendsten Muster nachzuahmen. Nicht weil die Deutschen gegen die Franzosen schrieben, schrieben die Böhmen gegen die Deutschen, sondern weil der Druck der deutschen oder deutschtuenden Bürokratie unerträglich war, wenngleich man mit Vorliebe seine Waffen dem Rüsthause des Gegners zu entnehmen liebte; die Böhmen wurden sich ihres Volkstums nicht durch Jahns Schriften bewusst, sondern sie benutzten seine Schriften als Argumentum ad hominem. Eine historische Analogie und fremder Einfluss sind zwei verschiedene Dinge. […]
Von einer Wiedergeburt, einer Wiederbelebung der Literatur und gar des Volkes kann somit in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts nicht die Rede mehr sein. Es kann sich nur um eine Reform der Literatur handeln, es kann nur die Frage sein, wer die böhmische Literatur auf die Höhe der gleichzeitigen fremden gehoben, ihr die zeitgemäße Richtung gegeben hat. Dass dieses Verdienst vor allem Herder und der deutschen, speziell der jüngern Romantik zukommt, das hat Murko allerdings erwiesen. Wenn freilich hierbei die natürliche Ordnung umgekehrt und Herder nur als Vorläufer der Romantik eine Nebenrolle spielt, so ist das historisch unrichtig, Herder ist entschieden mehr als ein Vorläufer der Romantik, etwa in dem Sinne, wie Haym Elias Schlegel einen Vorläufer Lessings nennt und wie man das Wort allgemein gebraucht. Herders Ideen haben in Böhmen direkt gewirkt und nicht bloß denen der Romantiker den Weg gebahnt, sein Wirken schloss sich naturgemäß an das des Aufklärungszeitalters. Man kann nur sagen, dass die Romantiker die Bestrebungen Herders wieder aufgenommen haben, dass ihre Wirkungen jene Herders verstärkten oder ihm den Boden in Böhmen ebneten. Hier fühlt man eben am wesentlichsten den Mangel eines Kapitels, das der Verfasser in einem der folgenden Teile seiner deutschen Einflüsse unbedingt wird nachtragen müssen, eines bündigen Kapitels über die deutsche Romantik, das den slavistischen Lesern überaus willkommen, den germanistischen gewiss nicht störend sein wird. Murko sagt selbst „wenn schon die deutsche Romantik keine einheitliche Erscheinung ist, so ist es die böhmische bis zu einem gewissen Grade noch weniger“. Es könnte nun manchem fraglich scheinen, ob es notwendig war, in die Wissenschaft einen neuen Begriff, den der böhmischen Romantik, einzuführen, wenn dieser Begriff wieder so unbestimmt bleiben soll. Jenes einleitende Kapitel wird ihn über die Nuancen und über das Gemeinsame der deutschen Romantik und damit auch über die Berechtigung der neuen Benennung belehren, es wird den Betrachtungen über die andern slawischen Literaturen doppelt zustatten kommen.“
Übersetzung der Einleitung: Georg Escher