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Nominierte Titel 2020

Für den Otokar-Fischer-Preis 2020 wurden folgende Titel nominiert:

 

Deutschsprachige bohemistische und germanobohemistische Arbeiten

 

Ina Hartmann: Die frühe Prosa Věra Linhartovás im surrealistischen Kontext. Versuch einer methodischen, literaturgeschichtlichen Einordnung der Werke Dům Daleko, Prostor k rozlišení und Rozprava o zdviži. Hamburg: Dr. Kovač 2018 (Studien zur Slavistik; 44).

Der tschechische Surrealismus ist eine bis heute anhaltendes Phänomen. Neben Mikuláš Medek und Milan Nápravník, zählt Mitte des 20. Jahrhunderts auch die vielversprechende Jungautorin Vera Linhartová für eine kurze Periode zur Prager Surrealistengruppe. In dieser Zeit verfasst sie den Großteil ihrer frühen tschechischsprachigen Prosa. Wenig später verlässt die Autorin die Gruppe und im Zuge der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 auch das Land. Wie Milan Kundera setzt sie seitdem ihr Werk auf Französisch in Paris fort.

Die Studie liefert erstmalig eine Analyse ausgewählten Erzählungen Linhartovás vor dem Hintergrund surrealistischer Themen und Techniken: Der Traum, das Unbewusste, das Spiel sowie der écriture automatique setzen die Analyse zentral. Methodischer Ausgangspunkt stellen die Manifeste und Schriften des französischen Surrealismus um André Breton dar. Das geschieht vor dem Hintergrund, dass die Pariser Surrealistengruppe als entscheidenden Impulsgeber und Bezugsgröße des tschechischen fungierte. Nicht zuletzt können erst im Licht dieser Referenz die Spezifika des tschechischen Surrealismus wie die Noetik in Linhartovás Werke fundiert konturiert werden. Die Studie liefert eine eigenständige und aufschlussreiche Interpretation einer der herausragendsten Avantgarde-Autorinnen und schließt ein Desiderat literaturwissenschaftlicher Forschung.

 

Urs Heftrich / Michael Špirit (Hrsg.): Vladimír Holan: Gesammelte Werke. Band 11: Lyrik VIII: 1968–1971. Das Vorletzte. Übertragen von Věra Koubová. Kommentar von Urs Heftrich und Michael Špirit. Nachwort von Urs Heftrich. Heidelberg: Winter, 2018.

Die Niederschlagung des Prager Frühlings bedeutete das Ende der dichterischen Freiheit in der ČSSR. Auch für Vladimír Holan, der sich nach Jahren stalinistischer Publikationsverbote endlich in der Rolle des öffentlich geehrten Dichterfürsten hatte üben dürfen, brach eine weitere dunkle Zeit an. Noch im Mai 1968 war er zum „Nationalkünstler“ ernannt worden, doch gerade diese staatliche Ehrung und seine Popularität unter den Anhängern des Reformkurses machten ihn in den Augen des neuen Regimes verdächtig.

Holans letzte beide Gedichtbände durften zu seinen Lebzeiten nicht mehr erscheinen. In deutscher Sprache ist dieses Vermächtnis des Dichters praktisch noch unbekannt. Holans vorletztes Buch – Das Vorletzte – wird nun erstmals vollständig übersetzt vorgelegt.

 

Zornitza Kazalarska: Landschaften der Wiederholung. Tschechische und slowakische Lyrik der „Latenzzeit“ 1955–1965. Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang, 2018.

Wer auf Wiederholungen aufmerksam wird, dem erschließt sich eine Landschaft: Vergangenes und Gegenwärtiges treten in Relation zueinander; zwischen ihnen entstehen Nachbarschaften, die zuvor nicht da waren. Wiederholungen treten dabei nicht nur als Sinn- und Strukturphänomene auf, sondern schaffen Passagen zwischen Sinn und Präsenz, bringen auch Latenzeffekte hervor. Im Zentrum der Untersuchung stehen die Erscheinungsformen der Wiederholung und ihre Effekte in der tschechischen und slowakischen Lyrik der Latenzzeit 1955–1965. Wiederholungen in und zwischen Texten – Permutationen und Variationen, Zitaten und Anspielungen, Selbstzitaten und Textvarianten, Nuancen und Ähnlichkeiten – bilden hier eine virtuelle Gesamtheit, im Rahmen derer nach einer Poetik der Wiederholung gesucht wird.

 

Václav Smyčka: Das Gedächtnis der Vertreibung. Interkulturelle Perspektiven auf deutsche und tschechische Gegenwartsliteratur und Erinnerungskulturen. Bielefeld: Transcript, 2019 (Interkulturalität. Studien zur Sprache, Literatur und Gesellschaft; 15).

Die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei hat ihre Spuren im kulturellen Gedächtnis Deutschlands und Tschechiens hinterlassen. Wie werden die Erinnerungen an diese Ereignisse über mehrere Generationen weitergegeben? Sind die unterschiedlichen Erfahrungen aus der einen Erinnerungskultur in die andere übersetzbar?

Václav Smyčka untersucht die Aufarbeitung, Deutung und Inszenierung der gemeinsamen Geschichte und leistet damit zum ersten Mal eine komplexe Analyse des kulturellen Gedächtnisses sowohl der deutschen als auch der tschechischen Gegenwartskunst und -literatur.

 

Neil Stewart: Bohemiens im böhmischen Blätterwald. Die Zeitschrift „Moderní revue“ und die Prager Moderne. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2019.

Die Moderní revue pro literaturu, umění, a život (Moderne Revue für Literatur, Kunst und Leben), die zwischen 1895 und 1924 fast dreißig Jahre lang monatlich erschien, war eine zentrale Institution der Prager Moderne und ein Katalysator der Modernisierung und Internationalisierung der tschechischen Kultur um 1900. Ihr aufwendiges und experimentelles Layout markiert den Beginn einer bibliophilen Tradition in Böhmen. Nach dem Ersten Weltkrieg allerdings verteidigt die Zeitschrift anachronistische Standpunkte und endet politisch als Organ der extremen Rechten – ein Prozess, der exemplarisch für die Wandlungen der Moderne stehen kann, für ihre prekäre Situation am Vorabend des Faschismus.

Die vorliegende Studie rekonstruiert den Fall der Moderní revue unter angemessener Berücksichtigung historisch-soziologischer, ästhetischer, semiotischer und intermedialer Aspekte, dabei auch und gerade ihrem medialen Eigensinn Rechnung tragend, ihrem Charakter als einem komplexen „Text“.

 

Eva Sturm: Orte der Erinnerung. Eine Literaturstraße durch Sachsen, Böhmen und Schlesien. Dresden: Thelem, 2019.

Das Buch untersucht die Erinnerungskultur und die vielschichtigen, oft genug konflikthaften „Verhandlungen der Identität“ im Raum Sachsen, Böhmen und Schlesien. Es beschreibt in einem ersten Schritt eine grenzüberschreitende Gedächtnislandschaft, zu der sich diese Regionen in kulturgeschichtlicher Perspektive zusammenschließen, und es nimmt dabei ausgewählte Erinnerungsorte wie Denkmäler, Dichterhäuser oder literarische Museen in den Blick. Autoren, Medien, besonders literarische Texte, und Institutionen schaffen diese Orte der Erinnerung in einem wechselseitigen Kommunikationsprozess. Erfindung, Überschreibung, Zerstörung und Neucodierung dieser Erinnerungsorte und Streit um Deutungshoheiten oder geteilte und „schwierige“ Erinnerungen zeichnet das Buch detailliert nach. Sichtbar wird so, wie intensiv Literatur und ihre Akteure in der konkreten Formung eines Kulturraums und in der Gestaltung kollektiver Erinnerungen und regionaler Identitäten einwirken. In einem zweiten Schritt überführt die Studie das vielschichtige kulturelle Wissen der literarischen Orte und ihrer Geschichten systematisch in das Feld des Bildungstourismus und macht es damit für die Praxis kulturellen Handelns anschlussfähig. Mit einem Entwurf einer Literaturstraße durch Sachsen, Böhmen und Schlesien entwickelt das Buch eine begehbare Topografie des Gedenkens, die die literarischen Orte dieser Regionen sinnstiftend in einen Zusammenhang bringt.

 

Manfred Weinberg / Irina Wutsdorff / Štěpán Zbytovský (Hrsg.): Prager Moderne(n). Interkulturelle Perspektiven auf Raum, Identität und Literatur. Bielefeld: Transcript, 2018.

„Tschechen, Deutsche, Juden“ (Max Brod) – in der Darstellung des Zusammenlebens im Prag des frühen 20. Jahrhunderts überwog bisher im Gefolge von Pavel Eisners Diagnose eines „dreifachen Ghettos“ die Tendenz zu starken Grenzziehungen.

Demgegenüber orientierten sich die Arbeitstreffen des Forschungsverbunds „Prag als Knotenpunkt europäischer Moderne(n)“ an neueren Theorien von Interkulturalität sowie zur sozialen und kulturellen Konstruktion von Räumen. Dieser Band dokumentiert, wie dadurch die diskursive Dynamik in den Vordergrund rückt, von der damals kollektive wie individuelle Identitätsbildungsprozesse sowie die Herausbildung literarischer Kommunikationsgemeinschaften geprägt waren.

 

Tschechischsprachige bohemistische und germanobohemistische Arbeiten

 

Ivo Habán / Anna Habánová (Hrsg.): Paul Gebauer. Liberec: Národní památkový ústav, 2018.

Das tschechische Nationale Denkmalamt, regionale Fachstelle in Liberec als Hauptverantwortlicher im Grant „Nové realismy na československé výtvarné scéně 1918–1945“ [Neue Realismusströmungen in der tschechoslowakischen Bildkunstszene 1918–1945] veröffentlichte Ende 2018 eine Monographie über den deutschschlesischen Maler der Neuen Sachlichkeit Paul Gebauer. Die Publikation liefert eine komplexe Darstellung diverser Aspekte von Gebauers Schaffens, das noch heute emotive Reaktionen hervorruft und zweifellos auch weiterhin ein Forschungsgegenstand bleiben wird.

 

Vladimír Spáčil / Libuše Spáčilová: České překlady Míšeňské právní knihy. [Tschechische Übersetzungen des Meißner Rechtsbuchs.] Olomouc: Memoria, 2018.

Das einzigartige Buch bringt die tschechische Edition der am besten erhalten gebliebenen Handschrift aus dem Meißner Rechtsbuch. Es handelt sich hierbei um die vollständige Version des Magdeburger Stadtrechts, das seit dem 14. Jahrhundert die meisten Stadtrechte in Böhmen und Mähren beeinflusste.

 

Jiří Stromšík (Hrsg.): Kurt Krolop: Studie o německé literatuře. [Studien zur deutschen Literatur.] Praha: Triáda, 2018.

Im Zentrum von Kurt Krolops Interesse stand immer die deutschsprachige Literatur aus den böhmischen Ländern – es ging v. a. um das Werk des aus Gitschin/Jičín gebürtigen Karl Kraus sowie um den Prager Autor Franz Kafka – und somit das Thema des historischen Wandels im alltäglichen Zusammenleben von Tschechen, Deutschen und Juden. Krolops Forschungsbereich war allerdings viel breiter. Nur schwerlich würde man unter seinen Zeitgenossen eine Persönlichkeit mit ähnlich profundem und detailliertem Wissen über die gesamte deutschsprachige Literatur wenigstens seit dem 18. Jahrhundert finden. Krolops eingehende Kenntnisse der Goethe-Zeit bilden die Grundlage seiner Studien zur Literatur des 20. Jahrhunderts, er konnte sie jedoch auch in selbstständigen Arbeiten nutzen. Seine Einleitungsstudien zum Werk von Novalis, Tieck, E. T. A. Hoffmann, zu Bonaventuras Nachtwachen, zu Goethes Faust sowie Dichtung und Wahrheit setzten im Kontext der tschechischen Rezeption deutscher Klassik und Romantik Maßstäbe. Seine Aufsätze oder Gelegenheitsnotizen (die allerdings oft von grundlegender Bedeutung sind) zu K. Čapek, J. Hašek, F. Peroutka, K. Poláček oder F. X. Šalda legitimieren ihn zugleich als Kenner der tschechischen und slawischen Kultur. Es handelt sich hierbei um Texte von seltener Objektivität und Ausgeglichenheit, die die nationalen Klischees und Vorurteile auf beiden Seiten des v. a. in den zwei letzten Jahrhunderten konfliktreichen, jedoch zugleich fruchtbaren Zusammenseins von Tschechen und Deutschen unterlaufen und ferner eine Masse an neuen, in älterer Forschung ignorierten Kenntnissen zutage fördern.