Es schreibt: Lenka Penkalová

(11. 7. 2016)

Beinahe zeitgleich erschienen im vergangenen Jahr in neuer, überarbeiteter Fassung zwei Biografien der Journalistin Milena Jesenská, gewissermaßen Standardwerke für Fachleute wie Laien, die sich für ihr Leben und Schaffen interessieren. Beide Bücher bearbeiten das gleiche Thema auf ganz unterschiedliche Weise, ohne miteinander zu konkurrieren, eher ergänzen sie sich. Die eine Autorin wählt einen persönlichen Ton, der auf eigenen Erinnerungen und Gesprächen mit Zeitzeugen basiert, die andere bemüht sich um einen objektiven Blick, wenn auch das Ergebnis eine sehr spezifische psychologisierende Interpretation der Persönlichkeit Milena Jesenskás ist, ein Roman, in dem der Journalistin die Rolle der Heldin zuteilwird. Die gleichzeitige Lektüre beider Bücher veranlasst zur Überlegung, worin Wert und Gefahr des jeweils gewählten Ansatzes bestehen.

 

Die Biografie der Publizistin Alena Wagnerová mit dem Titel Milena Jesenská ist erstmals 1994 im deutschen Original erschienen, zwei Jahre später wurde sie, von Alena Bláhová übersetzt, im Verlag Prostor herausgegeben. Nun ist sie im Verlag Argo neu erschienen, etwas überarbeitet und ergänzt, beispielsweise um neue Fotografien und die unlängst entdeckten Briefe aus der Haft. Der Grundstock des Buches besteht in der üblichen Arbeit mit historischen Quellen, auf die sich die Autorin beruft und die sie im Text und dem dazugehörigen Anmerkungsapparat zitiert. Die belegbaren Fakten und das Quellenmaterial dienen Wagnerová lediglich als Skelett, das sie nach und nach mit dem „Fleisch“ der Handlung ausfüllt, denn es handelt sich um keine Fachpublikation. Der Großteil dieses chronologisch vorgehenden Buches besteht in einer rein persönlichen Interpretation dessen, wie sich nirgendwo dokumentierte Handlungen und Ereignisse möglicherweise abgespielt haben. Das ist in diesem Genre eine berechtigte Arbeitsweise, weitaus diskutabler wären hingegen die allgegenwärtige Psychologisierung der „Heldin“ und die Fabulierversuche, wie sie jene Ereignisse erlebt haben könnte.

 

Um dies zu illustrieren, zitieren wir aus einem Kapitel über die Beziehung zu Franz Kafka: „Von Kafkas Zuneigung und Beachtung umgeben, erhält Milena allmählich ihr altes Selbstbewusstsein zurück. Sie ist zufriedener, ruhiger, manchmal sogar glücklich […] Die Briefe Kafkas erfüllen sie mit stiller Freude, über die sie mit niemandem aus dem Kreis ihrer Wiener Bekanntschaft spricht […] Dank Kafkas Zuneigung ist nun für Milena das Leben mit Ernst erträglicher, sie kommt mit seiner Gleichgültigkeit besser zurecht. […] Darüber, dass Kafkas Briefe auf ihre Ehe eine stabilisierende Wirkung haben, ist sich Milena Jesenská offenbar nicht im Klaren“ (S. 93). In solchen Passagen, die im Buch recht häufig vorkommen, begibt sich Wagnerová auf das Feld der Belletristik. An dieser Art zu schreiben ist an sich nichts Schlechtes, auch der schwedische Schriftsteller Steve Sem-Sandberg wendet sie in seiner belletrisierten Milena Jesenská-Biografie mit dem Titel Ravensbrück (2003, tschechisch 2012) an. In diesem Fall aber führt sie zu beträchtlichen Schwierigkeiten  und täuscht den Leser, weil sie nicht beim Namen genannt wird – als Literatur jedenfalls wird das Buch nicht herausgegeben. Es ist oft überhaupt nicht möglich zu unterscheiden, ob sich die Autorin bei der Beschreibung innerer Zustände und Beweggründe Jesenskás auf deren eigenen Wortlaut stützt (z. B. in ihrer Korrespondenz), ob sie hier vor dem Hintergrund anderer Indizien und Quellen schlussfolgert oder frei fabuliert.

 

Dem Laien mag dank der Fülle an Zitaten aus Primärquellen und Sekundärliteratur zwar der Eindruck entstehen, dass er eine wissenschaftliche Biografie liest. Auf der anderen Seite wird in vielen Passagen mit den Fakten frei umgegangen, die Quellen der Informationen werden nicht angegeben, noch wird deren Zuverlässigkeit näher überprüft (der Anhang mit den Anmerkungen verschafft hier keine Klarheit, nicht einmal dort, wo der Text förmlich danach schreit). Für Forscher und Historiker ist diese Biografie daher als Quelle unzuverlässig. Dazu gesellt sich die bei Biografie-Autoren weit verbreitete Untugend, auf das Objekt des Schreibens mit deutlicher Sympathie zu blicken. Wagnerová kann zuweilen einige Ereignisse im Leben Milena Jesenskás (Zerfall der Ehe, Beziehungen in der Familie, Scheitern im Beruf, Eintritt in die Kommunistische Partei) kaum nüchtern betrachten und legt diese zu ihren Gunsten aus, damit kein schlechtes Licht auf ihren Charakter oder ihre moralische Integrität fällt. Dabei führte eine Problematisierung der Auslegung zu einer plastischeren Darstellung der Persönlichkeit der Journalistin, die Biografie erhielte eine neue Dimension.

 

Es ist möglich, dass Wagnerová diesen Ansatz mit Blick auf einen für den Leser einfachen Zugang zum Text gewählt hat. Ihr Buch ist in der Tat lebendig und gut lesbar geschrieben, und wenn Jesenská deshalb als eine der vordersten Vertreterinnen der Zwischenkriegs-Journalistik in einen weiteren Bewusstseinskreis gelangt, dann ist dies sicher eine sehr verdienstvolle Tat. Das ändert jedoch nichts daran, dass es der erst dritten vollständigen Jesenská-Biografie in Buchform (nach dem faktografisch noch weitaus weniger zuverlässigen Buch Margarete Buber-Neumann und der unten vorgestellten Publikation Jaroslava Vondráčkovás) auch in ihrer neuen, ergänzten Ausgabe nicht gelungen ist, die grundlegende, kanonische Biografie Milena Jesenskás zu sein, die im Rahmen der Geschichte des tschechischen Journalismus doch so nötig wäre.       

 

Eine faktografisch zuverlässige Biografie ist auch das Buch von Jaroslava Vondráčková Kolem Mileny Jesenské [Um Milena Jesenská] nicht, das über zwei Jahrzehnte nach seiner Erstausgabe im vergangenen Jahr bei Torst erschien. Allerdings hatte die Autorin auch nie derartige Ambitionen. Vondráčková (1894–1986), eigentlich Textilkünstlerin, hat nämlich eine völlig andere Art von Buch geschrieben als Wagnerová. Sie kannte Milena Jesenská persönlich und hat in den 1920er und 1930er Jahren mit ihr zusammengearbeitet, indem sie zu ihren Rubriken beitrug. In den sechziger und siebziger Jahren sammelte sie zugängliches Material sowie Informationen von Zeitzeugen und verfasste einen Text, der ein sehr persönliches Gemisch aus eigenen und fremden Erinnerungen, Zitaten und paraphrasierten Briefen, zeitgenössischen Artikeln sowie überlieferten Geschichten ist.

 

Der größte Vorzug  dieses dynamisch und mosaikartig geschriebenen Buches ist der unverwechselbare Stil, die Unmittelbarkeit und Authentizität, die daraus hervorgehen, dass Vondráčková „dabei war“. Sie gehörte zum Kreis um Milena Jesenská und kannte sie als Freundin und Kollegin. Über die Maßen gelingt es ihr daher, die Atmosphäre hervorzurufen, als in der Ersten Tschechoslowakischen Republik die ersten Frauen auf das Feld des professionellen Journalismus vordrangen und den LeserInnen von Zeitungen und Zeitschriften von den weitreichenden Veränderungen im Bereich der Mode, Architektur oder Körperkultur berichteten. Wir erfahren viel über die Beziehungsgeflechte zwischen den damaligen Künstlern, Intellektuellen und Kulturschaffenden, über ihre Ansichten und Gewohnheiten, ihre politischen Gesinnungen und ihren Lebensstil, und dank eben dieser Schilderung des Umfelds, in dem Jesenská lebte, erfahren wir indirekt vieles über sie selbst.

 

Der Schwachpunkt bei Vondráčková, der sich direkt aus der ungestümen und zuweilen chaotischen Erzählweise ergibt, ist das Durcheinander in der Chronologie und die Unzuverlässigkeit, was Datierung und Zitattreue angeht. Diesen Mangel versucht die Herausgeberin des Bandes Marie Jirásková durch die Anmerkungen im Anhang zu beheben. Selbst konstatiert sie im Nachwort, dass Vondráčková in ihrem Erzähleifer manchmal gar nicht zwischen Paraphrase und Zitat unterschied, und dass sie Auszüge aus Artikeln und Briefwechseln oft nur aus dem Gedächtnis anführte, vom Original häufig weit entfernt. Das zeigt sich an den Stellen, wo Jirásková durch ihre langjährige Arbeit an einer Bibliografie Milena Jesenskás den ursprünglichen Wortlaut aufspüren konnte. An anderen Stellen ist dies jedoch nicht gelungen.

 

Die neu herausgegebene Version des Buches Kolem Mileny Jesenské unterscheidet sich von der Ausgabe von 1991 nur in Kleinigkeiten. Einen großen Fortschritt bedeutet das Personenregister und der ergänzte Anmerkungsapparat, unverändert hingegen ist die ursprüngliche Konzeption einer leserfreundlichen, keinesfalls kritischen Edition geblieben. Diese Entscheidung ist zu respektieren, es ist aber auch eindeutig, dass der mit den Namen mehr oder weniger bekannter Persönlichkeiten, Bücher, Periodika und Realien jener Zeit gespickte Text wegen fehlender näherer Erklärungen bisweilen sehr unübersichtlich ist, sodass selbst ein dem Kontext vertrauter Leser Probleme hat sich zu orientieren.

 

In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass es selbst auch bei solch berühmten Persönlichkeiten wie Milena Jesenská immer noch etwas zu entdecken gibt und dass selbst siebzig Jahre nach ihrem Tod einige weiße Flecken in ihrer Vita erschlossen werden können. Schon bald wird es möglich sein, auf eine umfassende Ausgabe ihrer Artikel zurückzugreifen, die bislang merklich gefehlt hat. Vielleicht findet sich dann auch ein Biograf, der Jesenská kritisch zu bewerten vermag, der einen etwas nüchterneren, nuancierteren und weniger befangenen Blick bietet, und das auch mit Hilfe der bisherigen biografischen Publikationen, an denen man trotz ihrer Mängel nicht vorbei kommt.

 

Übersetzung: Daniela Pusch

 

 

Alena Wagnerová: Milena Jesenská. Argo, Prag 2015, 225 S.

 

Jaroslava Vondráčková: Kolem Mileny Jesenské. Torst, Prag 2015, 332 S.       


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