Es schreibt: Michal Topor

(27. 6. 2016)

Der im ostböhmischen Senftenberg (Žamberk) geborene Eduard Albert, ein prominenter Innsbrucker, später Wiener Chirurg (u. a. ein Freund Eduard Graf Taaffes, ab 1887 Hofrat sowie ab Januar 1895 lebenslängliches Mitglied des Herrenhauses), weckt schon seit einigen Jahren das Forschungsinteresse von HistorikerInnen, die sich mit der politischen Geschichte Österreich-Ungarns im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts befassen, ebenso wie von LiteraturhistorikerInnen. Die Monographie Eduard Albert (1841–1900). Český intelektuál ve Vídni [E. A. Ein tschechischer Intellektueller in Wien] (Praha, Academia 2014) basiert auf einem sehr soliden Wissensfundus, den Helena Kokešová durch Spezialstudien und Editionen im Laufe der Jahre erweitert hat (zum Beispiel durch die 1999 erschienene Biographieskizze und Edition der Korrespondenz des Journalisten Gustav Eim). Der bisher letzte Band der oben erwähnten Reihe deckt sich größtenteils – in ganzen Passagen, auch, wenn diese etwas ausgebaut, umformuliert oder anders zusammengesetzt wurden – mit der älteren Publikation der Autorin Eduard Albert. Příspěvek k životopisu a edice korespondence [E. A. Ein Beitrag zur Biographie und Edition der Korrespondenz] (Praha, Scriptorium 2004; der Band umfasst auch die Edition von Alberts Korrespondenz mit Antonín Rezek, Karel Kramář und Josef Kaizl). In dem Teil, in welchem Alberts politische Tätigkeit umfassend dargestellt wird – vor allem im Hinblick auf seine Vermittlerrolle im Konflikt zwischen den sog. Altböhmen und den Realisten um T. G. Masaryk in den Jahren 1889–1890 –, konnte die Autorin auf neuere Ergebnisse aus ihrer eigenen Dissertation Eduard Albert a realisté. Osobnost Eduarda Alberta a jeho role v české politice v 80. a 90. letech 19. století [E. A. und die Realisten. Eduard Albert und seine Rolle in der tschechischen Politik in den 1880er und 1890er Jahren] (FF UK, 2012) zurückgreifen.

 

In der Studie wird Albert in mehreren Aspekten, und immer auf neue Art und Weise, vorgestellt. Fünf Kapitel zu besonderen Lebensbereichen (Homo privatus, …eruditus, …scriptor, …urbanissimus, …politicus) werden um zwei weitere ergänzt, die einerseits die Quellenlage (inklusive die Schwierigkeiten bei deren Ermittlung) und andererseits – damit zusammenhängend – in einer vielschichtigen posthumen Reflexion über seine Persönlichkeit das „zweite Leben“ Alberts beleuchten. Die Zäsuren in seinem Privatleben (Geburtsort, Kindheit, Ehe, Erscheinungsbild, Charakter, Hobbys u. ä.) werden allesamt anhand von Paraphrasen oder direkten Zitaten aus zur Verfügung stehenden Quellen nachgezeichnet. Nicht immer ist es der Autorin gelungen, auch die Fallen einer solchen Zitierweise zu umgehen, denn: kein Faktum aus einer bestimmten Lebensphase Alberts kann als ein definitives, absolutes Charakteristikum für sein Leben als Ganzes gelten. So wäre Vorsicht geboten gewesen bei Formulierungen wie: „Eine Reihe von Gedichten belegen Alberts Liebe zur Natur“, „Er war dem Essen und Trinken sehr zugeneigt“ oder „Doch im Ausland vermisste er immer das tschechische Bier“ (S. 49, 51, 53). An diese Darstellung des Privatlebens anschließend rekonstruiert die Autorin, wie Albert seine fachliche Karriere aufbaute. Das folgende Kapitel weist auf die Bedeutung der Literatur in seinem Leben hin: Erwähnt werden Alberts persönliche Verbindungen zu tschechischen Schriftstellern (vor allem zu Jaroslav Vrchlický), seine übersetzerische Tätigkeit – in erster Linie das vierbändige Projekt Poesie aus Böhmen – und nicht zuletzt sein eigenes dichterisches Werk. Im Kapitel Homo urbanissimus werden Alberts „gesellschaftliche Beziehungen und freundschaftliche Kontakte“ aufgezählt (d. h. wen er alles kannte und mit wem er befreundet war), bzw. die Erscheinungsformen seines Mäzenatentums. Seine Beziehungen und Kontakte, diesmal auf dem Gebiet der Politik, werden ausführlicher im Kapitel über Albert als politischer Mensch dargestellt.

 

Zieht sich durch das gesamte Buch die entscheidende Frage, wer Albert eigentlich (alles) war, erscheint die „Zerlegung“ seiner Person als eine mögliche, jedoch nicht unbedingt die sinnvollste Herangehensweise, um seinen Lebensweg, dieses unstete Gebilde von Beziehungen, Bindungen und Loyalitäten, zu erkunden. Dazu kommen weitere problematische Aspekte. Bei der Bewertung von Alberts Tätigkeit ist es der Autorin nicht immer gelungen, die Adressaten der jeweiligen Autoren von Berichten oder Kommentaren zu berücksichtigen. Anstelle einer Analyse von Alberts Einsatz auf dem Gebiet der Übersetzung und Literaturvermittlung, in welcher auch die parallelen Prager und Wiener Literaturkonstellationen hätten berücksichtigt werden können, werden hier nur eine Reihe von wenig überraschenden, sehr herzlichen Danksagungen derjenigen wiedergegeben, die Albert zwischen 1893–1900 mit den Exemplaren seiner Publikationen beschenkte (gemeint sind hier die Anthologien Poesie aus Böhmen, bzw. Neuere Poesie aus Böhmen und Neueste Poesie aus Böhmen /1893–1895/ sowie Lyrisches und Verwandtes aus der böhmischen Literatur /1900/ und die Übersetzung von Jaroslav Erbens Kytice unter dem Titel Der Blumenstrauß /1900/ – alles herausgegeben vom Wiener Universitätsverleger Alfred von Hölder), oder aber es werden Einschätzungen von Zdeněk Pešata übernommen, Autor des Eintrags Eduard Albert im Lexikon české literatury (Handbuch der tschechischen Literatur, Bd. I, 1985). Mit ihrem doch ein wenig zu bewundernden Blick („Alois Lorenz ist nur zuzustimmen, dass Albert zu den Universalgelehrten nach Art der großen Renaissance-Humanisten gehörte.“, S. 46) scheut die Autorin sich nicht, über die Vrchlický-Anthologie (Band Neuere Poesie aus Böhmen, 1893 – mit Übersetzungen von u. a. Friedrich Adler und Bronislav Wellk) zu behaupten: „Seine sehr guten Deutschkenntnisse wie auch seine dichterische Begabung und sein Fleiß waren eine Garantie für gute Ergebnisse.“ (S. 109). Oder aber: Im Schlusskapitel über Alberts „zweites Leben“ verweist sie auf Josef Svatopluk Machars angewiderte Beurteilung in Vídeňské profily (Gesichter Wiens, 1919), wo er Alberts zwar oberflächliches, jedoch berauschendes „Wienertum“ feststellte sowie auch sein tschechisches Wesen darunter zu erkennen vermochte. Des Weiteren zitiert sie auch den tendenziösen Artikel F. X. Šaldas Ještě Vrchlický [Noch immer Vrchlický], der 1922 in der Zeitschrift „Tribuna“ abgedruckt worden war, ohne dabei die Einschätzungen Machars und Šaldas sowie deren Motivationen weiter zu erforschen. So reduziert sie ihre Aussagen auf kontroverse Beispiele, die mit einer ordentlichen Forschungstradition nicht zu vereinbaren sind.

 

Für die Autorin bleibt Albert „ein tschechischer Intellektueller in Wien“. Diese gewisse positive Voreingenommenheit dem nationalen, also „unserem“, dem „tschechischen“ Narrativ gegenüber beeinflusst zum Teil auch die Beurteilung der Rolle von Alberts Frau Maria (geb. Pietsch, aus dem ostböhmischen Králíky/Grulich) und von seinem Sohn Georg: Unreflektiert werden hier die zeitgenössischen Einschätzungen (etwa von Alberts Schwester Tereza Svatová oder der tschechischen Schriftstellerin Marie Červinková-Riegrová) übernommen. Dementsprechend werden Mutter und Sohn – in Übereinstimmung auch mit Alberts Biograf Arnold Jirásek (S. 270–271) – als „Fremdkörper“ angesehen, die kein Interesse an der sog. „tschechische Sache“ hätten: „Nachdem Svatová auf Červinková eingeredet hatte, sie solle doch mit ihrer Schwägerin Tschechisch sprechen, das verstünde sie schon, während M. Albertová jedoch immer nur auf Deutsch mit ihr gesprochen hatte, mit der Ausrede, sie könne ja nur das Küchentschechisch, verstand Červinková, wie es um die Beziehung zwischen den Schwägerinnen stand und wer in der Familie für das tschechische Prinzip war und dafür kämpfte.“ oder „Es ist davon auszugehen, dass Červinková zu Recht behauptete, dass die Wurzel aller fremden Elemente in Alberts Familie seine Frau Maria war, die unbemerkt immer das erreichte, was sie wollte.“ (S. 31–32). Oder aber: „Durch die mütterliche Erziehung und den Einfluss seiner Umgebung mangelte es Georg an tschechisch-nationalem Denken. Deswegen wurde und wird er in der Forschung unterschiedlich bewertet“. Oder: „Es heißt, dass es eben Georg war, der wollte, dass sein Vater in Wien beerdigt wird.“ (S. 33, 41, kursiv hervorgehoben von Mt). Nichtsdestotrotz kann der Teil, der Georgs Lebensweg skizziert (S. 34–41), als eine sehr gute Darstellung des österreichischen Philosophen und Dichters betrachtet werden (u. a. war er der Autor von Kant's transcendentale Logik mit besonderer Berücksichtigung der Schopenhauerschen Kritik der Kantischen Philosophie /Wien, Hölder 1895/, Die platonische Zahl als Präzessionszahl (3600.259) und ihre Konstruktion /Wien, F. Deuticke 1907/ oder der Gedichtsammlungen Hundert Sonette /Wien, F. Deuticke 1911/ oder Eros. Akkorde und Dissonanzen /Zürich – Leipzig, Almathea-Verlag 1926/).

 

Mit einigen weiteren Zeugnissen (inklusive einiger Selbstcharakterisierungen des Hauptakteurs) untermauert die Autorin zwar weiterhin das Bild eines listigen Wiener Taktikers, der nach außen hin wie ein „Österreicher“ auftrat, sprich: neutral und solide („einen Anstandsabstand bewahren“S. 213, heißt es in einem Brief an T. G. Masaryk, vermutlich vom Mai 1890), der sich (auch sprachlich) etablierte und dann, ausgehend von dieser Grundlage, wo nur möglich und dennoch unauffällig, die „tschechische Sache“ unterstützte. Doch in weiteren Teilen der Darstellung bricht sie zum Glück selbst mit diesem Bild, das dann komplexer wird und Albert eher als einen Vertreter politischer Kompromisse erscheinen lässt, der die bestehende Machthierarchie respektierte und sich gegen eine radikale Lösung der national polarisierten Auseinandersetzungen um eine administrativ-sprachliche Regelung stellte. Umso interessanter könnte ein Versuch der Deutung eben dieses österreichischen Kontextes von Alberts Leben sein, der mit der „rein tschechischen“ Angelegenheit letztlich nur wenig zu tun hat. Die Autorin nähert sich diesem Thema an manchen Stellen zwar vorsichtig an, dennoch bleibt dies eine Herausforderung für weitere Forschungen und Interpretationen. Möglichkeit dazu böte beispielsweise der Absatz, der sich Albert als Teilnehmer an Treffen der Wiener Gesellschaft Die Nische widmet (vermutlich in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre), die von den Schriftstellern Ludwig Anzengruber und Friedrich Schlögel gegründet wurde (S. 51–52).

 

Trotz der hier skizzierten Einwände bietet die neue Albert-Monografie von Helena Kokešová eine nicht zu vernachlässigende, übersichtliche, breit und zuverlässig dokumentierte Grundlage zur Erforschung der Persönlichkeit Eduard Alberts.

 

Übersetzung: Martina Lisa

 

 

Helena Kokešová: Eduard Albert (1841–1900). Český intelektuál ve Vídni [E. A. Ein tschechischer Intellektueller in Wien]. Praha, Academia 2014, 319 S.


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