Es schreibt: Zuzana Jürgens

(Echos, 13. 6. 2016)

Im letzten Jahr ist im Münchner Rogeon Verlag die Dissertation Figuren der Anderen in der deutschböhmischen Exilliteratur der Germanistin Kateřina Kovačková erschienen. Die Autorin verteidigte ihre Arbeit 2013 an der Universität München und versucht ihre Thesen, wie sie schreibt, „an drei sowohl mit Blick auf ihre Themenwahl und Schreibweise, als auf ihren Lebenswandel ungleichen deutschböhmischen Schriftstellern exemplarisch herauszuarbeiten“ (S. 18), nämlich am Beispiel von Josef Holub, Gerold Tietz und Johannes Urzidil.

 

Die gewählten Autoren könnten in der Tat nicht unterschiedlicher sein. Johannes Urzidil, Jahrgang 1896, gehörte zum Kreis der Prager deutschen Literatur, aus Angst vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten verließ er Böhmen im Sommer 1939 und kehrte nie wieder zurück. Belletristische Arbeiten begann er größtenteils erst nach 1945 zu publizieren, seine überwiegend kunsthistorischen Arbeiten erschienen aber schon in der Zwischenkriegszeit. Kovačková konzentriert sich auf seine Prosatexte Stief und Halb (1954), Ein letzter Dienst (1956) und Letztes Läuten (1968). Josef Holub, geboren 1926, kam aus Nýrsko (Neuern) und wurde nach 1945 nach Westdeutschland vertrieben. Zu einem erfolgreichen Kinder- und Jugendbuchautor wurde er erst in den neunziger Jahren nach der Veröffentlichung seines ersten Buches, des Jugendromans Der rote Nepomuk (1992). Gerold Tietz wurde 1941 in Horky u Dubé (Horka b. Dauba) geboren und erlebte die Vertreibung als Kind. Auch er veröffentlicht seine Romane – vor allem die Trilogie Böhmische Fuge (1997), Böhmisches Richtfest (2007) und Böhmische Grätschen (2009) – erst seit den Neunzigern.

 

Diese Auswahl verteidigt Kovačková wiederholt, zum Beispiel dadurch, dass „alle drei die Erfahrung des immer schwierigeren Zusammenlebens zwischen Deutschböhmen und Tschechen gemacht, die Grausamkeit des deutschen Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und die Flucht oder Vertreibung aus den böhmischen Ländern erlebt [haben]. Alle drei mussten sich schließlich der Herausforderung des Exils stellen, wenn auch im unterschiedlichen Alter und zum Teil auch zu unterschiedlicher Zeit.“ (S. 48–49). Gerade diese biographischen Momente sind als ein mögliches Bindeglied in Hinsicht auf den Altersunterschied der Autoren, und folglich ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Erlebnisse, problematisch – die Vertreibung erlebte wirklich nur Holub, die Erfahrung des immer schwierigeren Zusammenlebens bekam vor allem Urzidil mit und die Herausforderungen des Exils (fall man im Fall von Kindern überhaupt von Exil sprechen kann) waren für sie grundsätzlich verschieden. Deswegen ist u. a. ihre gemeinsame Bezeichnung als „Exilautoren“, die Kovačková in ihrem Buch zu etablieren versucht, problematisch. In Anbetracht ihrer Werke besteht wiederum als verbindendes Element das Argument der Autorin, dass alle in den Werken, in denen sie nach Böhmen zurückkehren, oft die Perspektive eines Kindes wählen und dass die Berührungen und Auseinandersetzungen der Deutschen und Tschechen in den böhmischen Ländern darin eine wesentliche Rolle spielen.

 

Als weitere anhand des Werks der ausgewählten Autoren ermittelte gemeinsame Merkmale der deutschböhmischen Exilliteratur nennt Kovačková die übersichtliche Anzahl der Figuren Prosatexten, sowie die Tatsache, dass die Helden sich ununterbrochen „an der Grenze zweier kultureller, gesellschaftlicher und politischer Systeme“ (S. 288) bewegten. Das persönliche Erlebnis des Heimatverlustes in den Texten geht einher „mit einem teilweisen Zusammenbruch des Wertesystems und menschlicher Beziehungen“ (S. 289). Für entscheidend hält die Autorin jedoch den Sinn für Humor und die versöhnliche Einstellung gegenüber „der Torheit der Welt und den paradoxen Verschränkungen der neueren Geschichte im mittelosteuropäischen Raum“ (S. 290) – wider die eigene Erfahrung –, die laut Kovačková für alle untersuchten Prosatexte bezeichnend ist.

 

Kovačková hat ihre Arbeit in vier Kapitel gegliedert: In der Einleitung widmet sie sich den Kriterien der Autorenwahl, der Eingrenzung des Begriffs Exilliteratur und den Fragen, die sie in ihrer Arbeit verfolgen will. Das zweite Kapitel trägt den Titel „Traumatisierung durch Flucht, Vertreibung und Leben im Exil als autobiographische Quelle der Literatur“ – in dessen Rahmen beschäftigt sie sich u. a. mit der Parataxe als einem „Paradigma des literarischen Schreibens“. Der Analyse der Texte widmen sich das dritte und vierte Kapitel mit den Titeln „Figuren der 'Anderen' als Vermittler und Überwinder von Vorurteilen und nationalen Stereotypen“ sowie „Figuren der 'Anderen' in der deutschböhmischen Exilliteratur im Spiegel historischer und politischer Ereignisse“.

 

Die „Anderen“ aus dem Titel des Buches sind bei ihr fast ausnahmslos die Tschechen, d. h. es handelt sich um eine nationale, nicht etwa eine soziale oder eine Gender-Kategorie. In diesem Sinne könnte Kovačkovás Arbeit ein Pendant zu Jan Budňáks Monografie Das Bild des Tschechen in der deutschböhmischen und deutschmährischen Literatur (2010) sein, die ebenfalls den nationalen Stereotypen bei der Darstellung der Tschechen in der deutschsprachigen Literatur in den böhmischen Ländern gewidmet ist, jedoch einen früheren Zeitraum von ca. 1830 bis 1840 erforscht. Es ist bemerkenswert, dass Budňáks Buch in Kovačkovás Verzeichnis der Sekundärliteratur fehlt (genauso bemerkenswert ist die Tatsache, dass sich beide Autoren, obwohl sie vor einer ähnlichen Aufgabe standen, wie das Thema theoretisch und methodologisch zu greifen sei, auf andere theoretische Ausgangstexte stützen) und dass die Autorin mit keinem Wort erwähnt, dass die Figuren der Tschechen und ihre Koexistenz mit den Deutschen in der deutschsprachigen Literatur längst vor 1945 erscheinen und dass also die Autoren, die sie in ihrem Buch analysiert, an eine bestimmte, Jahrzehnte bestehende Tradition anknüpfen.

 

Beim Vergleich der Bücher – beide teilen den Umstand, als Dissertationen entstanden zu sein, außerdem haben sie etwa den gleichen Umfang – wird noch ein weiterer Unterschied deutlich: Budňák baut auf eine gründliche Abgrenzung des Stereotyps, des in Anbetracht des gegebenen Themas grundlegenden Begriffs (er widmet ihm die ersten achtzig Seiten), Kovačková reichen zur Definition dieses Stereotyps zehn Seiten. Dafür widmet sie sich außer den „Figuren der Anderen“ einer ganzen Reihe weiterer Themen: dem Begriff der Exilliteratur, die sie von der Vertriebenen-Literatur abgrenzt (leider bezieht sie sich in keinster Weise auf die reiche Sekundärliteratur zum Thema Exil, das einzige Buch, das sie zitiert, ist Deutsche Exilliteratur 1933–1945 von Konrad Feilchenfeldt aus dem Jahre 1986 /!/), dem Trauma und der Autobiografie in der Literatur, der Parataxe...

 

Keines dieser Themen untersucht sie jedoch tiefer, in verschiedenen Kontexten wiederholt sie bereits einmal formulierte Feststellungen (der Text ist auch stilistisch unreif), ihre Feststellungen grenzen nicht selten an Banalitäten. Siehe zum Beispiel: „Verlust kann vielmehr als Merkmal der Literatur schlechthin betrachtet werden“, S. 75, oder „Die Sprache und die poetische Aussage eines literarischen Werkes sind selbständig und können auch bei starker autobiographischer Inspiration eine hohe ästhetische Qualität erreichen“, S. 83, oder drittens: „Das Leben eines Menschen ist viel zu widersprüchlich, als dass es als ein Ganzes überblickt werden könnte, aber es liegt in menschlicher Natur, in widersprüchliche und dadurch als chaotisch empfundene Sachverhalte Ordnung zu bringen“, S. 129 – dem ersten Teil dieser Aussage fügt die Autorin zusätzlich einen Hinweis auf Jan Mukařovskýs Trojice studií o Karlu Čapkovi (Drei Studien über Karel Čapek) bei. Es bleibt jedoch ein Rätsel, warum sie auf ihn nicht im Zusammenhang mit der Problematik der Parataxe hinweist, mit der sich Mukařovský als Literaturwissenschaftler in einer der drei Čapek-Studien detaillierter und umfangreicher beschäftigt als mit der Natur des Menschen, die auch ihr Thema ist. Kovačková unterscheidet in ihrer Arbeit ebenfalls konsequent nicht zwischen der Biografie des jeweiligen Autors und seinem Werk (obgleich die Texte, denen sie sich widmet, eine mehr oder weniger deutliche autobiografische Grundlage haben), den fiktiven Charakter der Texte nennt sie sogar „literarische[n] Mehrwert“ (S. 285).

 

Hinsichtlich des Raums, den die Autorin Gerold Tietz widmet, können wir annehmen, dass der Ausgangspunkt der ganzen Dissertation die Begegnung mit seinem literarischen Werk war, welches sie bezaubert hat und das sie sehr hoch schätzt. Seine Böhmische Fuge bedeutet für sie „das kunstvoll geordnete Miteinander verschiedener Stimmen“ (S. 58), Tietz „begegnet dem schweren, persönlichen Thema mit Humor, beleuchtet mit ironischer Distanz Gründe und Konsequenzen, ohne zu bagatellisieren“ (S. 285). Man kann nur vermuten, warum sie – anstatt sich nur ihm zu widmen – sich entschied, ihr Forschungsgebiet zu erweitern. Das Ergebnis ist leider ein Schweifen von einem Thema zum anderen, dem auch durchaus anregende Beobachtungen zum Opfer fallen (wie z. B. die bereits erwähnten Überlegungen zur deutschböhmischen Exilliteratur).

 

Übersetzung: Katka Ringesová

 

 

Kateřina Kovačková: Figuren der „Anderen“ in der deutschböhmischen Exilliteratur. Am Beispiel von Gerold Tietz, Josef Holub und Johannes Urzidil. [München], Rogeon Verlag 2015, 309 S.


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