Es schreibt: Eva Jelínková

(16. 5. 2016)

Der deutschböhmische Literaturhistoriker Kurt Krolop (25. 5. 1930 – 22. 3. 2016) behandelt in seinen separaten (wenngleich oftmals umfangreichen) Studien meist große Themen – ohne dabei das Detail aus den Augen zu verlieren: Kommentierte Auszüge aus zeitgenössischen literarischen und publizistischen Quellen sind das eigentliche Baumaterial seiner Arbeiten. Bei Krolop wird man kaum eine Behauptung finden, die nicht zumindest auf einer belegten relevanten zeitgenössischen Quelle basiert – er geht nie von einer im Nachhinein zu beweisenden These aus, sondern verfährt stets induktiv (bereits vorhandene Sekundärliteratur wird meist dann erwähnt, wenn es gilt, ihre Feststellungen zu revidieren). Im Falle der sog. Prager deutschen Literatur, die sich in Prag um die Wende der 1950er/1960er Jahre unter der organisatorischen und wissenschaftlichen Leitung Eduard Goldstückers als Forschungsgegenstand zu etablieren begann, waren die relevanten Quellen noch weitgehend unbekannt (so stand zum Beispiel eine synthetisierende Abhandlung Paul Eisners aus dem Kompendium Československá vlastivěda zur Verfügung, separate Studien und Analysen zu einzelnen Autoren, Periodika, Kulturvereinen, den sozialen und nationalen Verhältnissen in Prag etc. hingegen nicht). Das Material, das Krolop während seines ersten Prag-Aufenthalts 1957–1962 sammelte und schließlich in seinen Studien aufarbeitete, erweist sich heute als einzigartig: Die Gedichtsammlungen, Romane, Anthologien, aber auch verschiedene Gelegenheitspublikationen und insbesondere die in deutschsprachigen Periodika erschienenen Artikel aus den ersten vierzig Jahren des 20. Jahrhunderts (von älteren ganz zu schweigen) sind heute – auch in Prag – größtenteils nur sehr schwer oder gar nicht zugänglich. Ohne Krolop wüsste man heute von der Existenz etlicher dieser Texte wie auch von der Rolle der mit ihnen verbundenen Akteure im damaligen kulturellen Leben nichts (oder zumindest nicht so viel).

 

Bemerkenswert ist, mit welcher Schnelligkeit und Gründlichkeit Krolop das Material erfasste – und auch auswertete. Seine ersten Studien, erschienen in den 1960er Jahren in den Fachzeitschriften Philologica Pragensia und Germanistica Pragensia, entwarfen – gemeinsam mit der fundamentalen Abhandlung Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur des „expressionistischen Jahrzehnts“ (1965, veröffentlicht 1967 im Sammelband Weltfreunde) – bereits in vollem Umfang einen Grundriss, den es in den folgenden Jahren und Jahrzehnten „nur“ noch in Detailansicht auszuarbeiten galt. Diese Bewegung ist nicht nur für die germanistischen Forschungen von Krolops Nachfolgern charakteristisch, sondern bereits für seine eigenen Studien. Hierbei geht es jedoch nicht um ein bloßes Ergänzen weiterer Details in eine bereits vorgefertigte Form von Fragen und Hypothesen, sondern vielmehr darum, neuen, bislang ungestellten Fragen nachzugehen. Hat zum Beispiel die frühe Studie Ein Manifest der „Prager Schule“ (1964) die Formung des geistigen Weges junger Prager deutscher Autoren (Werfel, Brod etc.) zum Gegenstand, die sich bewusst gegen die Vätergeneration mit ihrem etwas alibistischen Festhalten an der Tradition, ihrem entleerten Humanismus und substanzlos gewordenen Liberalismus abgrenzten, so konzentriert sich der Text Hinweis auf eine verschollene Rundfrage: „Warum haben Sie Prag verlassen?“ (1966) – bei teilweise identischem Material – auf die nationalen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Prag vor und nach Gründung der Tschechoslowakei und auf den eng damit verbundenen Weggang Gustav Meyrinks, Franz Werfels, Paul Kornfelds und Ernst Weiß‘ aus der Stadt (aber auch auf die Sublimierung der bei diesen Autoren ermittelten Motive in den Prosatexten des in Prag verbliebenen Franz Kafka).

 

Mit seiner Dissertation über Ludwig Winder (1967, gedruckt 2015, siehe dazu das nächste deutsch-tschechische Echo) legt Krolop eine tiefgehende Analyse zu Werk und Wirken eines einzelnen Autors vor – ohne dabei jedoch den kulturell-gesellschaftlichen Kontext Böhmens, Mährens und Wiens auszuklammern. Was seine Studien zur Prager deutschen Literatur betrifft, sollten ihm allerdings, wie er in einem Gespräch mit Peter Becher für das Stifter-Jahrbuch 2006 bemerkt, bald „wertvolle Forschungsjahre gestohlen“ werden. Nach Auflösung der eigenständigen Abteilung für Prager deutsche Literatur am Institut für Sprache und Literatur der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, die er seit Beginn des Jahres 1968 geleitet hatte, und der erzwungenen Rückkehr in die DDR nach Einsetzen der tschechoslowakischen „Normalisierung“ wandte sich Krolop der Literatur der deutschen Klassik und Romantik zu. (In den anschließenden Jahrzehnten erschienen in der Tschechoslowakei einige von ihm verfasste Vorworte, so z. B. zum Briefwechsel Goethes und Schillers oder zu den Novalis-, Tieck-, Hoffmann- und Bonaventura-Ausgaben des Odeon-Verlags.) Außerdem intensivierte er sein Interesse am Werk Karl Kraus‘. Eine erneute Hinwendung zur deutschsprachigen Literatur der böhmischen Länder erfolgte 1983 mit der Studie Das „Prager Erbe“ und „das Österreichische“. Diese vielleicht etwas zu ambitiös angelegte Arbeit über die Beziehung mehrerer Generationen deutschsprachiger Autoren aus Prag und den böhmischen Ländern zur österreichischen Monarchie (bzw. über das bereits seit Rilke durchgängig konstatierte Fehlen der österreichischen Literatur als eines Bezugsrahmens zur Selbstidentifikation) ist motiviert durch die Schwierigkeit einer literaturhistorischen Einordnung dieser Texte in die verschiedenen national bestimmten Konzepte von Literaturgeschichte. In Verbindung mit der Generation des Prager Kreises befasst sich Krolop hier mit Themen wie der jüdischen Emanzipation, der Assimilation und dem Antisemitismus (wobei er die Verhältnisse in der Prager deutschen Enklave vor dem Hintergrund von Eisners Thesen über das dreifache Ghetto verdeutlicht und mit antijüdischen und antideutschen Äußerungen des tschechischen Umfeldes konfrontiert).

 

In Krolops Artikeln und Studien der späteren Jahre – seien sie dem kontinuierlichen Gegenstand seines Interesses Karl Kraus oder abermals deutschsprachigen Autoren aus den böhmischen Ländern gewidmet – fällt auf, dass immer öfter auch der tschechische literarische Kontext und, damit verbunden, die Interaktionen mit diesem untersucht werden. Überwiegt in dem Text Manifest der „Prager Schule“ (dessen Thema, das geistige Heranreifen der jungen Generation, vor dem Hintergrund eines Artikels von Franz Werfel, publiziert 1914 anlässlich einer tschechischen Inszenierung von Wedekinds Lulu, entwickelt wird) noch eine ausschließlich germanistische Perspektive – die Studie berücksichtigt nur ein einziges zeitgenössisches tschechisches Echo – , so bildet in der anknüpfenden, dreißig Jahre später entstandenen Arbeit „Wir aber wollen wieder teilnehmen an Prag“ (1995) eine Sammlung von Reaktionen tschechischer Publizisten auf Werfels Glosse den eigentlichen Schwerpunkt des Textes. Tschechische Themen sind jedoch bei Krolop nicht erst seit den 1980er Jahren präsent, sondern bereits integraler Bestandteil seiner wissenschaftlichen Anfänge: Karel Čapek widmete er schon 1966 einen ersten Artikel. In dem kurz gefassten Text, dessen Titel „Solche Erfolche erreichen nur deutsche Molche“ Čapeks Molch-Hymne zitiert (den Artikel veröffentlichen wir heute im Original wie auch in tschechischer Übersetzung unter der Rubrik „Es schrieben“), deutet er an, dass Čapeks Rezeption  satirischer Kraus-Zitate nicht nur in bewundernder Reflexion, sondern auch in der Fähigkeit besteht, diese schöpferisch zu nutzen und im eigenen Werk weiterzuentwickeln, bzw. – wie Kraus es formulierte – sie in dieses „einzuschöpfen“.

 

Mit Themen, die für die literaturwissenschaftliche Bohemistik oder das bis dato nicht etablierte Fach der Germanobohemistik relevant sind, trat Krolop ab den späten 1980er Jahren häufiger in Erscheinung. So schlägt er am Ende seines Textes Die Tschechen bei Karl Kraus – Karl Kraus bei den Tschechen (1988) mögliche Teilthemen für eine weitere Erforschung der tschechischen Kraus-Rezeption vor – um diesen Faden dann selbst wieder aufzunehmen: In der Studie Der Jawohlsager und der Neinsager (1989) vergleicht er Karl Kraus und Jaroslav Hašek als Schöpfer „komplementärer Weltkriegssatiren“, ein Artikel zu Ehren Pavel Trosts gilt – abermals in Konfrontation mit Kraus – dem Wesen von Karel Poláčeks Kampf gegen die Phrase (1996), und in seinem Vortrag Karel Čapek: „Karl Kraus als Lehrmeister“ (1989) entdeckt er einen weiteren Čapek-Text, in dem ein für Čapek und Kraus gemeinsamer „,moralphilologisch‘ geschärfter und geschulter Blick“ zutage tritt, welcher „in einem unübersehbaren Ozean von bedrucktem Papier mit nachtwandlerischer Sicherheit den Tropfen ins Auge faßt, der in seiner Symptomatik Rückschlüsse auf eine Sintflut erlaubt“ (– besagter Tropfen ist in diesem konkreten Falle die von Čapek zitierte Zeitungs-Schlagzeile „In Budweis fünftausend Katzen vertilgt“).

 

Diese wie auch weitere Artikel Krolops bereichern die bohemistische Forschung um eine komparatistische Perspektive – und fördern bislang oft unbeachtete Texte ans Licht. So berichtet der Text Sammlungsruf in zwölfter Stunde (1992) u. a. von der Zusammenarbeit F. X. Šaldas mit der deutschsprachigen Zeitschrift Der Philosemit, und Krolops letzte größere Studie (2011) ist Šaldas und Fischers Reflexionen zu den literaturgeschichtlichen Konzepten August Sauers und Josef Nadlers gewidmet. Von der Bohemistik wurden Krolops Entdeckungen häufig übergangen. In seinem bereits genannten Čapek-Vortrag, den Krolop 1988 auf einer internationalen Konferenz in Dobříš in tschechischer Sprache hielt, befasste er sich (nach mehr als zwanzig Jahren) abermals detailliert mit Čapeks Beitrag für den Sammelband Stimmen über Karl Kraus zum 60. Geburtstag (1934) – und musste konstatieren, dass die dort enthaltene Glosse Čapeks – trotz seines Artikels „Solche Erfolche erreichen nur deutsche Molche“ (1966), trotz beharrlich wiederholter Verweise in späteren Studien und trotz eines Nachdrucks des tschechischen Originaltextes in der Kraus-Anthologie Soudím živé i mrtvé (1974, 1984, Neuausgabe 1990) – nicht in den 19. Band von Čapeks Schriften (O umění a kultuře III, 1986) aufgenommen wurde. Krolop deutet diese Tatsache zu Recht als Zeichen für „ein – leider nicht vereinzeltes – interdisziplinäres Kommunikationsdefizit im Bereich der ‚Germanoslavica‘“. Offenbar erst aufgrund von Krolops Auftreten in einem rein bohemistischen Milieu wurde der Text – allerdings mit Fehlern – schließlich in den sechzehnten Band von Čapeks Schriften (Od člověka k člověku III, 1991) und vor allem in die Čapek-Bibliografie (Bibliografie Karla Čapka, 1990) aufgenommen. (Dass die Aufnahme erst in letzter Minute erfolgte, bezeugt der „Anhängsel“-Charakter des Eintrags: Anstelle einer eigenen Nummer wurde ihm ein kleines „a“ hinter der Nummer des vorhergehenden Postens zugeordnet).

 

Derartige Hinweise auf kleine, aber wesentliche Lücken in gesammelten Werken oder bibliografischen Verzeichnissen begleiten Krolops Forschungen nahezu regelmäßig. Erst dank seiner Übersicht über Robert Musils Beiträge für Prager Blätter (1964, es handelt sich um eine der allerersten publizierten Studien Krolops) konnten die Herausgeber von Musils Werk ein nicht unbedeutendes Kapitel seines publizistischen Wirkens in grundlegender Weise ergänzen. Ähnlich verhielt es sich mit der 1914 im Prager Tagblatt gedruckten Glosse zu einer Wedekind-Feier aus der Feder Franz Werfels, die Krolop (ebenfalls 1964) dem Herausgeber zur Aufnahme in Werfels Schriften empfahl. Krolop entdeckte jedoch nicht nur vergessene Beiträge großer Autoren, sondern auch Autoren als solche. So machte er neben dem – später wissenschaftlich aufgearbeiteten und daher heute schon bekannteren – Prager und Berliner Philosophen Max Steiner zum Beispiel auch auf den Redakteur des Prager Tagblattes Ludwig Steiner oder auf den Chefredakteur der Zeitschrift Der Philosemit Arthur Heller aufmerksam. Wenn er später in Verbindung mit einem in den siebziger Jahren entstandenen Namensregister zur Zeitschrift Die Fackel bei dem Namen „Poláček, Karel“ kommentarlos zitiert: „Zum Zeitpunkt der Reinschrift des Manuskripts waren keine genaueren Daten eruiert“ (das Register wurde 1977 in Buchform herausgegeben!), so ist der Leser hier mit einem besonderen Typus ironischen Zitierens konfrontiert, welches die Unhaltbarkeit eines Forschungshorizontes enthüllt, der nur bis zum Rand des eigenen Schreibtisches reicht.

 

Krolops Kenntnis der zeitgenössischen Prager, Wiener und Berliner Literaturlandschaft, verbunden mit seiner Bereitschaft, unermüdlich eine Reihe scheinbar marginaler Daten und Phänomene zu notieren, zeigt nicht selten die Lücken in den Resultaten langjähriger literaturgeschichtlicher Forschungen und kollektiver Editionsprojekte auf, die unter ganz anderen institutionellen Bedingungen entstanden als jenen, unter denen er selbst arbeitete. Krolop war notgedrungen ein Einzelgänger, rückblickend wohl aber auch aus Veranlagung. Seine ruhige Konzentration auf das Detail offenbart nicht nur die prinzipielle Unabgeschlossenheit – und damit auch Hinterfragbarkeit – der Quellenbasis als großes Forschungsrisiko, sondern zeugt auch von den unendlichen Möglichkeiten des Fragens und des Suchens nach Antworten. Die ihm eigene ironische Distanz und die Abneigung gegen alles Simplifizierende und schnell Fertige lassen die auf tschechischem Gebiet entstandene Literatur und Kultur vor dem Zweiten Weltkrieg als eine offene, von vielfältigen Beziehungen, Interaktionen und Bestrebungen geprägte Situation erscheinen, in der man bis heute – in tschechischer wie in deutscher Sprache – intellektuelle Früchte von unschätzbarem Wert finden und erkennen kann.

 

Übersetzung: Ilka Giertz


zurück | PDF