Es schreibt: Václav Maidl

(2. 5. 2016)

Erinnerungen an Kurt Krolop († 22.03.2016)

 

Ich will keine Hagiographie schreiben. Aber Kurt Krolop war einzigartig und außergewöhnlich.

 

 

Erste Erinnerung: Am Lehrstuhl

 

1990 fing ich am damaligen Lehrstuhl für Germanistik der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität an, zwar bereits 37-jährig aber noch ein völliger Neuling der Hochschulpädagogik. Als mich Jiří Stromšík in das dortige Umfeld einführte, sagte er zu mir: „Wenn du etwas nicht weißt, dann frag nach. Das ist keine Schande. Und wenn wir es auch nicht wissen, dann frag Kurt Krolop, der weiß alles. Wir fragen ihn auch.“ So erfuhr ich von der Existenz dieses wunderbaren und bewundernswerten Mannes und konnte mich schon bald – und dann auch immer wieder – davon überzeugen, wie sehr er seinem Ruf gerecht wurde. Er konnte einen in seinen Bann schlagen wie ein Zauberer. Damals gab es ja noch keine Internet-Suchmaschinen. So komme ich einmal in sein Büro, weil ich ein Goethe-Zitat in den richtigen Kontext setzen will. KK denkt kurz nach, eine halbe, maximal eine Minute, lässt seinen Blick über die Bücherrücken der einzelnen Goethe-Ausgaben gleiten, steht auf, geht zum Bücherregal, holt einen Band heraus und sagt: „Hier könnte es sein.“ Er öffnet das Buch, blättert kurz darin, tippt mit dem Zeigefinger auf die Seite und lächelt: „Hier ist es.“

 

Als ich ihm meinen ersten Beitrag über Josef Rank für das tschechische Germanistik-Jahrbuch brücken vorlegte, sagte ich mir, dass er sicher nachforschen müsse, wer wohl dieser vergessene Schriftsteller aus dem Böhmerwald gewesen sei. Doch er kannte nicht nur ihn, sondern genauso auch seine Tischgesellen aus dem Café Neuner in Wien, das Hin und Her mit Božena Němcová, einfach den ganzen Kontext oder vielmehr die Kontexte, von denen ich damals – wenn überhaupt – nur eine vage Ahnung hatte. Dennoch, oder genau deshalb, freute es mich, als er meinen Artikel für druckreif befand.

 

 

Zweite Erinnerung: Im Klosterweinkeller

 

Zwei akademische Jahre verbrachte ich am Lehrstuhl: 1990–1992. In dieser Zeit des gegenseitigen Abklopfens und Kennenlernens geschah es, dass ich mit KK und Marek Nekula, der in jener Zeit auch am Lehrstuhl tätig war, im Klosterweinkeller an der Nationalstraße saß. Nicht, dass wir gemeinsam die Prager Weinstuben unsicher gemacht hätten, sondern wir erwarteten dort einen der Gäste aus dem Ausland, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zu Dutzenden nach Prag kamen. Während der Wartezeit redeten wir über alles Mögliche; zur Sprache kam auch die Aussiedlung der Deutschen (der Ausdruck „Vertreibung“ war damals noch nicht allgemein „salonfähig“), ihre Ursachen und Folgen, ihre Bewertung. Ich hatte mich zwar mit der deutschsprachigen Literatur der böhmischen Länder beschäftigt, und das Datum 4. März 1919 etwa war mir bekannt (was zu Beginn der 1990er Jahre eher Ausnahme als Regel war), aber ich vertrat dennoch die Meinung, die Deutschen seien an ihrer „Vertreibung“ selbst schuld gewesen und ihnen wäre recht geschehen. Nie habe ich KK so aufgeregt erlebt. Seine Stimme war lauter als gewöhnlich, als er uns erzählte, wie er als Sechzehnjähriger eine weiße Armbinde mit dem Buchstaben „N“ tragen musste, wie er zwangsweise als Helfer eines Milchfahrers arbeiten musste, und wie ihn sein tschechischer Fahrerkollege bei ihrer Lierferung von Kravaře nach Prag immer kurz vor Einfahrt in die Stadt anwies, er solle seine Armbinde verstecken, um keine Probleme mit den Revolutionsgarden zu bekommen. Und mit welcher Erleichterung er später die Binde aus dem Zug warf, als sie in Děčín-Podmokly (Tetschen Bodenbach) in die damalige SBZ (sowjetische Besatzungszone, die spätere DDR) einfuhren. Es war augenscheinlich, dass ich damit den Finger in die Wunde gelegt hatte, die auch nach 45 Jahren noch nicht verheilt war (und da wusste ich noch nicht, dass KK 1970 sein Heimatland ein zweites Mal gezwungenermaßen hatte verlassen müssen).

 

 

Dritte Erinnerung: In der Heimat Kurt Krolops

 

Wie die Jahre vergingen, freundete ich mich allmählich mit der ganzen Familie Krolop an. Seine runden und halbrunden Geburtstage waren immer ein Anlass für ein Treffen der alten Truppe junger Assistenten aus der Zeit, als KK den Germanistik-Lehrstuhl leitete (nach seiner definitiven Rückkehr in den 90er Jahren). Klaas-Hinrich Ehlers taufte unser Quartett – zu dem auch Steffen Höhne und Marek Nekula gehörte – nach chinesischem Vorbild auf den Namen „Viererbande“, und natürlich wurde immer etwas unternommen. Einmal fuhren wir mit KK in seine Heimat, er wollte uns zeigen, woher er stammte. Wir gingen durch Litoměřice (Leitmeritz), wo er das Gymnasium besucht hatte, fuhren in seinen Geburtsort Kravaře (Graber) und gelangten mit unseren Autos in das Dorf, wo noch das Schulzenhaus aus dem 17. Jahrhundert stand, mit Gewölben, die von einem einzigen Pfeiler getragen wurden – der einstige Sitz des Schulzen Krolop. Stolz zeigte er es uns (die neuen Eigentümer gewährten uns den Einlass), und man sah sofort: Er war stolz auf das Haus ebenso wie auf seinen Vorfahren, den Schulzen. Das hat er nie in Worten ausgedrückt, aber es war klar, dass er ein Lokal- und allen historischen Hindernissen zum Trotz auch ein Landespatriot war. Kurz ein Deutschböhme.     

 

Übersetzung: Daniela Pusch


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