Es schreibt: Manfred Weinberg

(Echos, 18. 4. 2016)

Im Herbst des vorletzten Jahres war es also soweit: Reiner Stach komplettierte mit dem ‚nachgereichten‘ ersten Band Kafka. Die frühen Jahre (Frankfurt a.M.: Fischer, 2014) seine monumentale Biographie Franz Kafkas, dem 2002 der chronologisch zweite Band Die Jahre der Entscheidungen und 2008 der dritte Band Die Jahre der Erkenntnis vorangegangen waren.

 

Stach hat die ungewöhnliche Reihenfolge, mit dem Schreiben „am Ende von Kafkas Adoleszenz“ zu beginnen, im Vorwort zum Band von 2002 mit der „spärlichen autobiographischen Überlieferung“ aus den frühen Jahren gerechtfertigt: „Diese unbefriedigende Situation würde sich zweifellos entscheidend bessern, wenn mit dem Nachlass des langjährigen Freundes Max Brod eine literaturhistorisch erstrangige [...] Quelle endlich der Forschung zugänglich würde“ (Stach 2002, S. XXVI). Dass es Stach zwischenzeitlich gelungen ist, zumindest einen selektiven Einblick in diesen Nachlass zu bekommen, belegen zahlreiche Stellen im Anmerkungsapparat des neuen Bandes.

 

Die Reaktion des deutschen Feuilletons war euphorisch. Steffen Martus schrieb etwa in der Süddeutschen Zeitung: „Reiner Stach hat mit diesem Band eine große Biografie zu Ende geschrieben, mit glänzenden Passagen, außerordentlich lesenswert, geschichtsmächtig, klug konzipiert und sorgfältig ausgeführt“ (7. 10. 2014). Und auch Andreas Platthaus konnte sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 25. 9. vor Lob kaum halten: mit einer „Jahrhundertbiographie“ habe man es zu tun, einem „Meilenstein der deutschen Literaturgeschichte“, „nicht nur intellektuell hervorragend geraten, sondern auch kompositorisch.“

 

Alles in allem kann man sich dem Feuilleton-Lob anschließen. Eine besondere Qualität ist, dass Stach ganz anders als die zwischenzeitlich erfolgreichere Biographie von Peter-André Alt Franz Kafka. Der ewige Sohn (München: C. H. Beck 2005) nicht einem monokausalen Erklärungsmuster folgt: Für Alt leitet sich alles im Leben (und Werk) Kafkas aus dem Verhältnis zu seinem Vater ab, was zuletzt nicht überzeugt.

 

Eine weitere Qualität resultiert gerade aus der mangelnden Quellenlage, die Stach durch eine gründliche Auseinandersetzung mit den soziokulturellen Verhältnissen des damaligen Prag kompensiert, welche in anderen Kafka-Biographien regelmäßig zu kurz kam. Stach schreibt zurecht: „Keine intellektuelle Biographie, die sich vor den Kulissen der böhmischen Metropole entfaltet, ist verständlich ohne die Geschichte dieser Stadt und ihrer Region“ (S. 32). Und weiter: „Kafka war seiner Geburtsstadt nicht bloß ‚verhaftet‘ wie tausende andere, sondern er bezog daraus auch den Impuls, ja gleichsam den Auftrag, dem Rätsel dieser Bindung auf den Grund zu gehen“ (S. 33). Leider verliert Stach diesen Punkt in seinen Annäherungen an Kafkas Texte wieder aus den Augen. Sein Prag-Bild ist zudem stellenweise zu einfach geraten, weil er ganz dem Erklärungsmodell eines bloßen Gegeneinanders von Tschechen und Deutschen folgt. Prag sei von „zwei Kollektiven“ bewohnt gewesen, „die nicht nur in verschiedenen Sprachen, sondern auch in unterschiedlichen symbolischen Ordnungen lebten“ (S. 24). Diese zu simple Konfrontierung haben Kateřina Čapková mit ihrem Buch Češi, Němci, Židé? Národní identita Židů v Čechách 1918–1938 („Tschechen, Deutsche, Juden? Die nationale Identität der Juden in Böhmen 1918–1938“, Prag: Paseka, 2005, Englisch 2012) und Ines Koeltzsch mit ihrer Studie Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag (1918–1938) (München: Oldenbourg, 2012; tschechisch 2015) überwunden. Beide Bücher fehlen jedoch im Literaturverzeichnis von Stachs Band.

 

Eine zu einfache Sicht zeigt sich auch beim Bericht von Kafkas Versuch eines Germanistik-Studiums, anlässlich dessen Stach August Sauer als „ein[en] mächtige[n] Ordinarius, der die Germanistik in Prag völlig dominierte“, vorstellt und ihn im „‚Kampf‘ um die Behauptung des ‚Deutschtums‘ gegen slawische Übergriffe“ sieht. „Literaturgeschichte betrieb Sauer, als handele es sich um einen Sonderbereich der Volkskunde und als spiegele sich in literarischen Texten die Mentalität deutscher ‚Stämme‘ und der von ihnen bewohnten Landschaften“ (S. 229). Ein vorurteilsloser Blick in die bekannte ‚Rektoratsrede‘ Sauers (Literaturgeschichte und Volkskunde, Prag: J. C. Calve'sche K. u. K. Hof- und Universitäts-Buchhandlung, 1907) hätte erkennen lassen, dass Sauers regionale Literaturgeschichte immerhin auch manches von dem beinhaltet, was heutzutage als kulturwissenschaftliche Öffnung der Germanistik gefeiert wird. Statt sich somit auf die Komplexität der damaligen Diskussionen einzulassen, desavouiert Stach Sauer gleich noch einmal mit dem Verweis auf einen seiner Schüler: „Josef Nadler, der mit seiner mehrbändigen Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften  (1912ff.) Sauers Programm popularisierte (und in der 4. Auflage ab 1938 um antisemitische Züge bereicherte)“ (S. 531). Kein Wort davon, dass auch Sauer selbst Nadlers Fortschreibung missfiel; stattdessen die allzu geradlinige Verbindung von Deutschnationalismus und Antisemitismus, sprich Nationalsozialismus. Immerhin betont Stach, dass Kafka ein begeisterter Leser des Kunstwarts, des damaligen Sprachrohrs der deutschen Heimatkunstbewegung, gewesen sei (vgl. S. 214ff.), kann sich aber offensichtlich keinen rechten Reim darauf machen. Entsprechendes gilt für Kafkas Faible fürs Kabarett. Merkbar irritiert formuliert Stach: „Gerade in solchen – häufig genug dubiosen – Grenzbereichen von Kunst und Show scheint sich Kafka jedoch außerordentlich wohl gefühlt zu haben“ (S. 368), um diese ‚Materie‘ so rasch wie möglich wieder zu verlassen. So bleibt Stach eben doch zu sehr dem ‚klassischen‘ (um nicht zu sagen: kafkaesken) Kafka-Bild verbunden.

 

Der Mangel an Zeugnissen führt Stach auch zu teilweise missratenen Psychologisierungen. Im zuerst veröffentlichten Band hatte er noch geschrieben: „Empathie lautet das Zauberwort des Biographen. Empathie hilft weiter, wo Psychologie und Erfahrung versagen“ (Stach 2002: S. XXIII). Nun aber liest man etwa zur Rechtfertigung der Schwimmleidenschaft Kafkas eine Beschreibung des Schwimmens als „archaische Erfahrung, die außerordentlich tiefe und überwiegend unbewusste Erlebnisstrukturen anspricht“, „darin allein der Sexualität vergleichbar“ (S. 121). Immerhin weiß Stach, was er tut: „Selbst wenn es die Grenze zur tiefenpsychologischen Spekulation überschreitet: Der Gedanke liegt nahe, dass auch die Sinnlichkeit des flüssigen Mediums selbst für Kafkas psychische Organisation von lebenslanger Bedeutung gewesen sein muss“ (S. 122). Das Bedenken hindert ihn aber nicht daran, diese Grenze immer wieder zu überschreiten.

 

Grundsätzlich ist Stach ein neutraler Beobachter; nur bei einer Person will ihm das nicht gelingen: Max Brod betreffend, reiht er eine Invektive an die andere und zeichnet das zuletzt übertriebene „Bild eines umtriebigen journalistischen Autors [...], eines Alleskönners ohne scharfes Profil“ (S. 410). Mit der Vorrangstellung von Kafka sei Brod, auch wenn er selbst ihn erst zum Autor von Weltruhm gemacht habe, nie zurechtgekommen: „jener sekundäre Ruhm, den er über einige Jahrzehnte genoss, ist ohne das grundlegende Gefühl einer tiefen Frustration kaum vorstellbar“ (S. 249).

 

Stilistisch auffallend sind Anglizismen, deren Intention nicht recht klar wird: von „Brods multi-tasking“ und „networking“ ist die Rede, von „horsepower“ und einem „symbolische[n] hot spot der Moderne“, von „shopping“, „locations“, „input“, „fans“, „level“ und etwa einer „Sightseeing-Liste“ (auf Seitennachweise sei hier verzichtet). Zu Victor Hadwiger schreibt Stach, dieser sei „seit seinen Gedichten (1900) der frontman der literarischen Opposition“ (S. 321f.) gewesen, womit man ihn bei einer weiteren Fehleinschätzung ‚erwischt‘ hat, denn eine solche Charakterisierung trifft auf diesen Schriftsteller, der Prag wegen ausbleibender Akzeptanz im Literaturbetrieb bereits 1903 verlassen hat, nun wirklich nicht zu.

 

Trotz dieser Monita: Die nun vorliegende dreibändige Kafka-Biographie Reiner Stachs ist ein großer Wurf! Sie wird Bestand haben, was allerdings insofern ein Problem darstellt, als die nicht wirklich vorgenommene Klärung des Verhältnisses von Kafkas Werk zu Prag und ein letztlich zu einfaches Bild der (inter-)kulturellen Verhältnisse in Prag damit auch künftig das Kafka-Bild bestimmen werden. Wenn das Prager Goethe-Institut gerade höchst dankenswerter Weise eine Übersetzung von Stachs Biographie ins Tschechische fördert, wird das somit leider auch dazu führen, dass ‚die‘ Tschechen, die oft so wenig von dem Prager Leben des weltberühmten Literaten wissen, ihn wiederum nur mit der Einschränkung einer nicht ganz geglückten soziokulturellen Verortung neu kennenlernen werden.

 

Wie man lesen konnte, sind inzwischen die Filmrechte an Stachs Biographie verkauft worden und ein achtteiliger deutscher Fernsehfilm in Vorbereitung. Auch in Hollywood soll ein auf Stachs Biographie gründendes Drehbuch und eine zugehörige Besetzungsliste kursieren. Nach der Betrachtung dieser Filme wird man, so viel ist jetzt schon sicher, höchst dankbar wieder zu Stachs profunden drei Bänden greifen.

 

 

Reiner Stach: Kafka. Die frühen Jahre. Frankfurt am Main: Fischer, 2014, 607 S.

 


zpět | stáhnout PDF