Es schreibt: Hana Šmahelová

(Echos, 21. 3. 2016)

Die Nationale Wiedergeburt – revidiert und fragmentiert

 

Das zahlreiche Bände umfassende, sukzessiv erscheinende Editionsprojekt Velké dějiny zemí koruny české [Große Geschichte der böhmischen Kronländer] ist im Jahr 2013 (Bde. XIa, XIb) bei einem Zeitraum angelangt, der durch die Jahre 1792–1860 markiert wird. Gerade in Bezug auf diesen Zeitraum gerät jedoch der bislang gut funktionierende, insbesondere auf die politischen Ereignisse und auf eine größtmögliche Kumulation an Fakten ausgerichtete Darstellungsmechanismus ein wenig ins Stocken. Eine gewisse Erklärung hierfür bietet die Einleitung: In dieser wird auf die Komplexität des genannten Zeitraums verwiesen, der voller Gegensätze und Wandlungen gewesen sei, die sich jedoch größtenteils nicht in der politischen Sphäre, sondern „eher im Bereich des gesellschaftlichen Bewusstseins“ abspielten. Es wird eingeräumt, dass zur Erfassung der in dieser Sphäre verwurzelten historischen Ereignisse, die den Übergang von der Aufklärung zum Paradigma der Moderne markierten, traditionelle historische Methoden nicht ausreichend seien.

 

Als Problem benannt wird hier zudem der Übergang zu einem ethnischen Interpretations- und Darstellungskonzept, dessen Schwerpunkt die Bewegung der Nationalen Wiedergeburt, insbesondere deren kultureller – vornehmlich literarischer – Charakter ist. Kein Wunder, dass die Historiker sich in einem derart eingegrenzten Feld beengt fühlen. Ihnen zufolge werden auf diese Weise zahlreiche andere Phänomene aus dem Geschichtsbild verdrängt, so z. B. die Geschichte anderer auf tschechischem Gebiet lebender Ethnien (Deutsche und Juden), das Verhältnis zwischen Böhmen und Mähren, die Herausbildung eines modernen Nationalismus, Wandlungen in der Sozialstruktur etc.

 

In dem Bewusstsein, dass sich für ein solch breit angelegtes Panorama nur sehr schwer ein „vereinheitlichendes Darstellungskonzept“ (Bd. XIa, S. 11) finden lässt, haben sich die Autoren für einen gewissen Kompromiss „zwischen Synthese und Analyse […], zwischen chronologisch erzählter und strukturaler Geschichte“ (S. 12) entschieden. Ihren schnellen Rückzug von tiefergreifenden Überlegungen zu dieser ganz grundsätzlichen methodologischen Frage bezeugt eine Aussage, unter der man sich im gegebenen Kontext wahrlich alles Mögliche vorstellen kann – und zwar die Aussage, dass „jenes vereinheitlichende Element […] die sich damals erst herausbildende tschechische Nation [...]“ sei (ebda.). Den darauffolgenden terminologischen Schachzug, bei dem die „Nationale Wiedergeburt“ durch Begriffe wie „Emanzipation des tschechischen Volkes“ oder „Nationalbewegung“ ersetzt wird, kann man als logisches Bestreben verstehen, einerseits an der Idee der nationalen Selbstbewusstwerdung als dominanter geschichtlicher Tendenz jener Zeit festzuhalten, andererseits jedoch deren spezifische Bindung an die intellektuelle und literarische Sphäre abzuschwächen.

 

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Zu beurteilen, wie dieses Vorhaben geglückt ist, würde eine weit detailliertere Analyse erfordern, als das Format dieser Überlegungen es erlaubt. Dennoch lassen sich in diesem Rahmen zumindest einige problematische Stellen aufzeigen. Die erste findet sich bereits in dem vorwiegend auf die politische Geschichte ausgerichteten Einführungsband (Bd. XIa), der – eingebettet in diesen Kontext – als Teil von Kapitel zwei (Von Metternich zu Bach) auch einen Abschnitt mit dem Titel Die Nationalbewegung (S. 280–327) enthält. Im dortigen Einführungskapitel wird häufig mit Begriffen wie Nationalismus, nationale Identität, ethnokulturelle Identität, kollektives Bewusstsein, Kommunikation u. Ä. operiert. Dies geschieht jedoch in einer Weise, die bar jeden Bewusstseins über die Konstruiertheit und Prozessualität dieser Bezeichnungen ist, über ihre Determiniertheit durch den Kontext, aus dem sie abgeleitet wurden. Die Darstellung entbehrt somit einer unerlässlichen theoretischen Reflexion, welche grundlegende Bedeutungszusammenhänge des Begriffs „Nationalbewegung“ aufzeigen und es ermöglichen würde, die allgemeine abstrahierende Begrifflichkeit auf einen konkreten sachlichen Inhalt zu beziehen. Stattdessen kann man hier zum Beispiel lesen, dass das „ethnische Identitätsprinzip auf der Grundlage des kollektiven Bewusstseins konstruiert wurde“ (Bd. XIa, S. 283) oder das „Nationalbewusstsein zu einer dominanten Form kollektiver gesellschaftlicher Identität“ geworden sei (ebda., S. 284).

 

Falls es den Leser interessiert, für welche Werte oder Ideen das genannte ethnische Prinzip stand, von wem es konstruiert wurde oder wem ein solches nationales oder kollektives Bewusstsein zugeschrieben werden kann – so wird ihm darauf keine Antwort zuteil. Auch im nachfolgenden Kapitel Die Periodisierung der Nationalbewegung ändert sich an der Darstellungsweise nicht allzu viel. Zwar wird gleich im ersten Satz mitgeteilt, dass „die tschechische Emanzipationsbewegung zwischen 1780 und 1848 drei grundlegende Phasen durchlief“, ohne dass jedoch klar wird, wie dieser Begriff eigentlich definiert ist, was unter ihn subsumiert werden kann oder von wo nach wo die Richtung dieser Emanzipation verläuft. Die Phasen des Emanzipationsprozesses werden dem Leser in der anschließenden Darstellung nahegebracht, jedoch nur mittels einer illustrativen Beschreibung bestimmter Einzelphänomene, insbesondere bekannter Persönlichkeiten (Dobrovský, Jungmann, Bolzano, Palacký etc.), deren Wirken in einen wechselhaften Rahmen historischer Ereignisse (Napoleonische Kriege, Metternich-Regime) eingebettet wird.

 

Ein zweifellos entscheidender Faktor für die Reflexion der Nationalbewegung ist die historische Koexistenz der tschechischen und deutschen Ethnie und die damit verbundene Frage nach dem Verhältnis zwischen der tschechischen und deutschen Sprache. Mit dieser Problematik befassen sich lediglich zwei Kapitel: Das erste davon beschreibt (unter Verweis auf Bolzano) den Bohemismus als eines der potenziell möglichen Identitätskonzepte, um anschließend die Darstellung auf Palacký zu lenken, dem hier „das größte Verdienst an der Formung der modernen tschechischen Nation“ (Bd. XIa, S. 294) zugeschrieben wird. Im Zusammenhang mit einer kurzen Bewertung von Palackýs Wirken, insbesondere seinem historiografischen Werk, findet auch eine ablehnende Kritik seitens der Prager Deutschen (J. L. Knoll) Erwähnung, welche offenbar als repräsentativer Beleg für die Konfliktträchtigkeit der deutsch-tschechischen kulturellen Beziehungen dienen soll. Auch im nächsten Kapitel (Deutsch-tschechische kulturelle und politische Auseinandersetzungen in der Vormärzzeit) werden analytische Überlegungen zur Nationalitätenfrage durch ein illustratives Beispiel ersetzt, diesmal in Form unterschiedlicher Vorstellungen von der Durchsetzung der tschechischen Sprache und den patriotischen Bestrebungen (F. Schuselka, L. Thun, J. Wenzig). Die Darstellung der Nationalbewegung basiert in diesen Kapiteln hauptsächlich auf einer Beschreibung von Einzelheiten, die mit einer bestimmten allgemeinen Vorstellung über die verschiedenen patriotisch motivierten Aktivitäten zur Rettung („Auferstehung“) der tschechischen Literatur, zur Anstachelung eines tschechisch-deutschen Antagonismus und zur Betonung alles Tschechischen korrespondieren. In solch einen Horizont lässt sich alles Mögliche einbetten, vom Bohemismus bis hin zum „Alltag eines Patrioten“ (wie die Überschrift eines Kapitels lautet). Das Problem besteht darin, dass sich eine zusammenhängende Darstellung jener Zeit, in der die Fundamente des modernen Staates gelegt wurden, aus dieser inkonsistenten Mischung unmöglich formen lässt.

 

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Soll der Begriff „Nationalbewegung“ auf eine einheitliche Konzeption verweisen, so ist dies nicht möglich ohne Reflexion dieses Phänomens als ideologisches Konstrukt. Die Frage, zu welchen Werten sich der Mensch mit dem Bewusstsein seiner kollektiven Identität bekennt, kann zwar nicht aus den konkreten historischen Bedingungen herausgelöst werden, doch reichen diese äußeren Bedingungen per se zur Beantwortung dieser Frage nicht aus. Der wichtigste Teil der Antwort ist in der intellektuellen Sphäre zu suchen, in der Welt der Wissenschaft (der Geschichtsschreibung, der Philologie) und insbesondere der Literatur, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts stets offen für die europäische Kultur, inklusive der deutschen, war. Dieses Milieu formulierte nicht nur die ideelle Grundlage der tschechischen Nationalbewegung, es lieferte ihr auch die Mittel, die eine Kommunikation innerhalb der Gesellschaft ermöglichten. In diesem Sinne erfüllte die Literatur der Nationalen Wiedergeburt vor allem eine außerliterarische Funktion: zum einen als Repräsentation kultureller Werte, zum anderen als bedeutender diskursiver Faktor, ohne den die nationale Idee wohl kaum in das Bewusstsein breiterer Gesellschaftsschichten vorgedrungen wäre, um dort vor allem mittels persuasiver Rhetorik und mythopoetischer Bilder (vgl. z. B. Kollárs Slávy dcera, Rukopisy) zur Herausbildung eines kollektiven Bewusstseins über die nationale Identität beizutragen.

 

Das Bestreben, diese Aspekte der Nationalbewegung auszublenden, aus Furcht, der literaturwissenschaftliche Zugang könne auf Kosten einer komplexen historischen Auslegung das geschichtliche Bild von dieser Epoche beherrschen, entspringt eher einer Unkenntnis der Veränderungen in der gegenwärtigen Literaturgeschichtsschreibung und ist daher nicht nur überflüssig, sondern auch kontraproduktiv. Mit dem kultursemiotischen Potenzial von Literatur arbeiten – sehr inspirativ und schon etliche Jahre lang – zum Beispiel die deutsche Geschichtsschreibung zum Thema Nationalismus (O. Dann, H. C. Finsen, B. Giesen, W. Hardtwig u. a.) wie auch Theorien, die sich mit verschiedenen Aspekten der Konstruiertheit von Geschichte befassen (z. B. P. Bourdieu, M. Foucault, P. Veyne). Eine Darstellung, die im Rahmen der genannten Intentionen mit dem Geschehen im literarischen Bereich zu arbeiten vermag, beschränkt keineswegs den Zugang zu anderen historischen Fakten und Ereignissen, sondern schafft eine weitaus breitere und stabilere Grundlage für deren Interpretation. In derGroßen Geschichte bewirkt das Fehlen eines solchen Zugangs eine Zersplitterung der Darstellung und ein Auseinanderreißen konzeptuell tragender Zusammenhänge – sowohl im Rahmen der einzelnen Kapitel als auch in deren Anordnung zu Blöcken. In dem Raum, den insbesondere im zweiten Band das Geschehen in verschiedenen Bereichen und auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaftsstruktur einnimmt (von der Industrie über Schulwesen, Justiz und Gesundheitsaufklärung bis hin zu Literatur und bildkünstlerischem Schaffen), schweben selbst bedeutende Protagonisten der Nationalbewegung ohne sinnvolle Verankerung mehr oder weniger „frei herum“, nur um in dem jeweiligen Kapitel als Posten präsent zu sein. So werden zum Beispiel Dobrovský und Jungmann im Kapitel Wissenschaft erwähnt, weitere Informationen über sie bietet erst der Block zur Literatur. Mitunter stößt man auch auf verirrte (gebürtige) Deutschböhmen (K. E. Ebert, R. Glaser, E. Hanslick, U. Horn, A. Meißner, Ch. Sealsfield), denen erst im Kapitel zur „literarischen Wiedergeburt in Mähren“ eine größere (knapp zwei Seiten umfassende) Aufmerksamkeit zuteilwird.

 

Man muss nicht ins Detail gehen, um zu zeigen, dass es den Autoren der Großen Geschichte gelungen ist, den konzeptuellen Verlockungen der Literatur zu widerstehen und den Anspruch anderer Bereiche auf einen Platz im geschichtlichen Bild vom 19. Jahrhundert gegen sie zu verteidigen. Es ist nur erstaunlich, wie es auf diese Weise gelungen ist, die Nationalbewegung inhaltlich zu entleeren, wie sich ihr literarisch formulierter ideeller Kern in eine Vielzahl heterogener nebensächlicher (meist biografischer) Details auflöst und wie schließlich in dem der Literatur (wie auch Theater und Kunst) gewidmeten Teil die Hoffnung auf eine Überwindung irreführender Phrasen und Stereotype, die in Lehrbüchern und älterer Fachliteratur ihr ewiges Leben führen, definitiv schwindet.

 

Übersetzung: Ilka Giertz

 

 

Velké dějiny zemí koruny české, Bd. XIa.(P. Bělina, M. Hlavačka, D. Tinková). Paseka, Praha – Litomyšl 2013, 466 S.

Velké dějiny zemí koruny české, Bd. XIb. (M. Hlavačka, J. Kaše, J. P. Kučera, D. Tinková). Paseka, Praha – Litomyšl 2013, 523 S.


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