Es schreibt: Marek Fapšo

(8. 2. 2016)

Neue Entdeckungen und alte Geschichten – über eine Anthologie Eva Hahnovás

 

Die Veröffentlichung heute bereits unbekannter „deutscher Texte über Tschechen, Deutsche und die böhmischen Länder“ für ein breiteres (wenngleich immer noch fachkundiges) Publikum ist generell nur zu begrüßen. Sehr schwer zugängliche Texte können so zum Diskussionsgegenstand in Hochschulseminaren werden, aber auch ins Blickfeld eingeweihter Kenner der deutsch-tschechischen Beziehungen rücken. So auch im Falle des hier besprochenen Buches von Eva Hahnová. Die verdiente Autorin und Expertin für die Geschichte des deutsch-tschechischen Zusammenlebens in den böhmischen Ländern nutzte für ihr Buch Od Palackého k Benešovi [Von Palacký zu Beneš] (Praha: Academia, 2014) ihr umfangreiches Privatarchiv an deutschen Texten zu diesem Thema, entschied sich, diese zu übersetzen und dem tschechischen Leser damit unterschiedliche Blicke „von der anderen Seite“ vor Augen zu führen. Das Buch enthält insgesamt 160 Texte aus der Zeit von der ersten Hälfte des 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, viele davon sind zum allerersten Mal in tschechischer Sprache zugänglich. Die Auswahl der Autoren und Texte weist eine beachtliche soziale Heterogenität und Meinungsvielfalt auf und schafft so die Voraussetzungen für eine aufschlussreiche Begegnung mit diesem wichtigen historischen Phänomen. Mit Beiträgen vertreten sind hier sowohl bekannte Persönlichkeiten wie etwa Alfred Meißner oder Theodor Mommsen als auch Autoren, deren Namen heute tatsächlich nur Eingeweihten bekannt sind.

 

Leider muss konstatiert werden, dass Hahnovás Buch auf methodologischer Ebene ein wenig hinkt. Ihre einführenden methodologischen Anmerkungen richten sich eher auf die Erläuterung des editorischen Vorgehens bei der Aufbereitung der Texte als auf eine Begründung ihrer Auswahl und Anordnung. So schreibt die Autorin selbst: „Die Lektüre alter Texte ist oftmals nicht nur unterhaltsam, sondern in vielen Fällen auch sehr nützlich. Die Vergangenheit zu verstehen und aus ihr zu lernen, kann nur dann gelingen, wenn wir sie so wenig wie möglich mit leeren Phrasen vernebeln. Es ist daher nützlicher, nach den direkten Spuren zu suchen, die uns die Vergangenheit hinterlassen hat, als den Interpretationen anderer zu vertrauen, und seien es die verlässlichsten Historiker […]“ (S. 18). Unkritisch wird hier an eine Theorie der Dokumentenedition angeknüpft, die von der Annahme ausgeht, die ursprüngliche historische Quelle sei ein Quell unvermittelter Erkenntnis. Ist jedoch Hahnová nicht auch eine von diesen „anderen“ und bietet nicht auch sie „nur“ eine weitere dieser Interpretationen, wobei sie lediglich die Form der Edition anstelle der Erzählung wählt?

 

Die Annahme, die Quellen sprächen selbst und zeigten uns die Vergangenheit (sei es die, von der sie sprechen, oder ihre eigene Entstehungszeit), wird paradoxerweise in nahezu jeder Anthologie von deren Herausgeber oder Herausgeberin zunichte gemacht. In keiner Edition sind die Texte in einen luftleeren Raum geworfen, um mit ihrer Botschaft den Geist des Lesers zu erhellen. Sie werden angeordnet, klassifiziert, kommentiert und damit interpretiert. Auch Hahnová leitet jeden der 160 in ihrer Edition veröffentlichten Texte mit einem kurzen Exposé ein. Allein das bloße Vorhandensein „faktografischer“ Einleitungen zeigt eindeutig, dass die Texte nicht per se verständlich sind und einer erneuten Sinngebung bedürfen. Die in den Beiträgen enthaltenen und kommentierten Namen, Daten und Orte bzw. Sachverhalte sind in vielen Fällen bereits aus dem breiteren Bewusstsein geschwunden und machen somit ein Verstehen unmöglich. Ein zweiter Aspekt der Einführungskommentare ist ihr interpretativer Charakter. Wenn die Autorin zum Beispiel anführt, dass ein Essay Friedrich Wiesers (eines österreichischen Volkswirtschaftlers) „Aufschluss darüber gibt, warum viele Deutsche die deutsche Minderheit in Böhmen nicht als nationale Minderheit im üblichen Sinne des Wortes betrachteten“ (S. 262), überschreitet sie damit definitiv die Aussage dieses einen sehr kurzen Textes und stilisiert seinen Autor zum Repräsentanten einer abstrakten Kollektivität „viele Deutsche“. Wenn sie an anderer Stelle in ihrem Kommentar schreibt, Hans Krebs (ein Journalist und Politiker) verweise darauf, „dass die Gründung der Tschechoslowakei nicht die Wiege der tschechisch-deutschen Probleme gewesen“ sei (S. 406), so stellt sie vor dem potenziellen Leser eine sehr starke interpretatorische These über die moderne Geschichte der böhmischen Länder auf, die aus diesem einen Text nicht „von selbst“ hervorgehen kann. Wenn Hahnová im Kommentar zu einer Fotografie behauptet, dass die „sudetendeutschen Traditionalisten oft mehr an der emotionalen Botschaft ihrer Äußerungen interessiert waren als an der Genauigkeit der verbreiteten Informationen“ (S. 297), so ist dies eine reine, das Verstehen steuernde Interpretation. Von Unmittelbarkeit kann in keinem einzigen Fall die Rede sein.

 

Die Texte in Hahnovás Edition sind auf vier große Kapitel aufgeteilt. Im ersten Kapitel mit der Überschrift „Vom ,Frühling der Nationen‘ zum Zerfall der Habsburgermonarchie“ versucht Hahnová, die Gedankenwelt der böhmischen (bzw. österreichischen) Deutschen im 19. Jahrhundert offenzulegen. Die Autorin führt an, dass in dieser Zeit großdeutsche Ziele, d. h. der Anschluss Österreichs an die benachbarten deutschen Staaten und später an das Deutsche Reich, im Mittelpunkt der deutschösterreichischen politischen Bestrebungen gestanden hätten. Neben dieser undifferenzierten These erwähnt die Autorin, die österreichische Öffentlichkeit sei „einer geistlosen Agitation ausgesetzt“ gewesen (S. 37). Dies vermittelt den Eindruck einer bipolaren Teilung der Gesellschaft in jene, die reden, und jene, die zuhören. Die soziale Wirklichkeit besteht jedoch aus komplexen Beziehungen. Texte sind eines ihrer Segmente und entstehen im Schnittbereich zwischen Autoren und Rezipienten, im Schnittbereich zwischen der Intention des Autors einerseits und den Erwartungen und der Rezeption der Leser andererseits. Die soziale Konstruktion von Wirklichkeit und Öffentlichkeit hätte eine tiefere Analyse verdient – oder Schweigen.

 

Allein schon der Titel des zweiten Teils „Vom Kampf für ‚Deutschböhmen‘ zum Kampf für das ‚Sudetenland‘“ offenbart die Sicht der Autorin auf die Zeitspanne von 1918 bis 1933: Die Entstehung der Tschechoslowakei brachte ihrer Meinung nach keine wesentlichen Veränderungen in der Beziehung zwischen Deutschen und Tschechen, sondern schuf lediglich neue Voraussetzungen für die Verwirklichung langfristiger Tendenzen. Sehr zweifelhaft ist die (mehr oder weniger implizite) These, welche der deutschen Minderheit und deren Agitatoren die Rolle der Schuldigen an den unruhigen Verhältnissen im neu entstandenen Staat zuschreibt, während der tschechoslowakische Staat (insbesondere Masaryk) als ein Raum der Pluralität dargestellt wird, den die Deutschen lediglich nicht zu nutzen wussten (S. 236–238). Einer der Beiträge aus diesem Teil belegt angeblich die „persönliche Frustration des Autors gegenüber der modernen Zeit“, welche „symptomatisch für die Meinungen und Argumente [sei], mit denen die nationalsozialistische Bewegung in den folgenden Jahren eine rasant wachsende Popularität erlangte“ (S. 276). Derartige Verallgemeinerungen lassen die Deutschen als Problemgruppe erscheinen, was jetzt – insbesondere im Hinblick auf die nationalsozialistischen Beispiele – nicht weiter angefochten werden soll, sie übergehen jedoch vollkommen die breiteren Voraussetzungen für das nationale Zusammenleben in jener Zeit und die überhaupt recht komplizierte Dynamik der damaligen nationalen und nationalistischen Bewegungen. Mit anderen Worten: Hahnovás Argumentation gehört eher in die Zeit, von der sie selbst spricht, als in eine historiografische Analyse dieser Epoche.

 

Der dritte Teil ist auf das nazistische Deutschland der Jahre 1933 bis 1945 ausgerichtet und trägt den Titel „Über die unrühmliche ,Rückkehr‘ der böhmischen Länder in den Schoß des Reichs“. Hahnová legt nahe, dass es erst in dieser Zeit zu einer vollständigen Artikulation der tatsächlichen deutschböhmischen Ansichten und Forderungen gekommen sei, zuvor habe man diese nicht unkritisch als „ehrliche Aussagen der Autoren“ (S. 347) auffassen können. Diese Interpretation hat eine bestimmte Logik, verschleiert jedoch die Komplexität der Entwicklung während der Ersten und Zweiten Tschechoslowakischen Republik und vermittelt den Eindruck einer teleologischen Geschichtsentwicklung. In einem Spannungsverhältnis zu dieser These steht die Darstellung der Rolle, die das benachbarte Deutschland spielte – dieses war der Autorin zufolge ein wesentlicher Faktor in der problematischen Nationalitätensituation der Tschechoslowakei. So gebe es keine „Gründe, daran zu zweifeln, dass wohl so mancher Nazianhänger ohne das Eingreifen von außen auch weiter ein braver tschechoslowakischer Bürger geblieben wäre“ (S. 348). Das problematische Verhältnis zwischen den tschechoslowakischen Deutschen und dem nazistischen Deutschland hätte definitiv eine ausführlichere Behandlung verdient, es ist daher begrüßenswert, dass die Autorin zumindest erneut auf dieses Verhältnis verweist.

 

Das letzte Kapitel „Die Erneuerung der sudetendeutschen Bewegung im Nachkriegsdeutschland“ thematisiert die Formierung einer sog. sudetendeutschen Vertriebenenbewegung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Die einführende Studie beleuchtet sehr schön den breiteren politischen Kontext der Abschiebungen wie auch der Reaktionen auf diese in der Nachkriegszeit. Dennoch erlaubt sich Hahnová auch hier einige nicht ganz selbstverständliche Schlussfolgerungen, die einer weitaus detaillierteren Erklärung bedürften. Stellvertretend ein Beispiel: „Entgegen der heute populären Behauptung, das [tschechoslowakische] kommunistische Regime habe antideutsche Stereotype verbreitet, präsentierte man die kritisierten Phänomene damals nicht als ethnisch, sondern als politisch bedingte Folgen des Faschismus“ (S. 518). – Nach dem Zweiten Weltkrieg war ein antideutsches Ethos weit verbreitet und auch die Vertreter des tschechoslowakischen Regimes griffen sehr oft auf dieses zurück. Die Tatsache, dass es eng mit weiteren Elementen verknüpft war (die DDR als Verbündeter etc.), ändert daran nichts. Eher ist all dies ein Beleg dafür, dass Hahnová anstelle einer komplexen Problematisierung und Interpretation in ebenjene Schematisierung verfällt, die sie selbst explizit verurteilt.

 

Die Anthologie erzählt, fragmentarisch, aber deutlich, eine Geschichte: Es ist die Geschichte einer deutschen Minderheit, die – in den Maßstäben der böhmischen Länder gesprochen – bereits seit Beginn der Nationalbewegungen im 19. Jahrhundert eine schwer überwindbare Barriere zwischen sich selbst auf der einen und der tschechischen Mehrheit auf der anderen Seite errichtete. Und selbst wenn einige ihrer Angehörigen diesen ansonsten stabilen Rahmen überschritten, lief die Geschichte – so legt die Anthologie es nahe – gleichsam notwendigerweise auf das definitive Ende des Zusammenlebens beider Gruppen hinaus. Dieses Metanarrativ ist der vielleicht wichtigste Aspekt des gesamten Buches und überlagert die Bedeutung der vorgestellten Texte, die hier die Rolle „stummer“ Zeugen übernehmen. Auch aus diesem Grunde befasst sich die vorliegende Rezension – statt eines Resümees der einzelnen Beiträge – vor allem mit dem interpretatorischen Aspekt der Anthologie.

 

Hahnovás Buch enthält eine Vielzahl bemerkenswerter Texte. Es spielt jedoch mit dem Leser kein faires Spiel. Auf den ersten Blick erweckt es den Eindruck einer authentischen Darbietung von Texten, welche scheinbar augenfällig eine – von der Autorin letztendlich nicht angezweifelte – „Richtung“ in der Geschichte aufzeigen. Tatsächlich wird der Leser jedoch durch die einzelnen Kommentare und Kapitelüberschriften in diese Richtung gelenkt. Sowohl Hahnová als auch die Inhalte der aufgenommenen Beiträge selbst bieten an einigen Stellen Raum für eine komplexere, vielschichtigere Version der deutsch-tschechischen Geschichte, die noch immer in alten Stereotypen und Klischees gefangen ist. So verweist Hahnová nicht selten auf die Heterogenität, Gegensätzlichkeit und Komplexität deutscher Gedanken aus der Zeit der letzten zweihundert Jahre. Leider zieht sie daraus jedoch keinen größeren Nutzen. Hahnová macht uns auf fruchtbare Quellen aufmerksam, die sie in vielen Fällen interpretierend neu entdeckt, doch sie erzählt mit ihnen eine alte Geschichte. In gewissem Maße ist dies auch durch die zugrundeliegende Konzeption des Buches bedingt, welche nur eine Seite der Stereotype beleuchtet, nicht jedoch den Stereotypisierungsprozess selbst, was auch die Rezeption und die „andere Seite“ mit einschließen würde.

 

Übersetzung: Ilka Giertz

 

 

Eva Hahnová: Od Palackého k Benešovi. Německé texty o Češích, Němcích a českých zemích [Von Palacký zu Beneš. Deutsche Texte über Tschechen, Deutsche und die böhmischen Länder]. Praha, Academia 2014, 723 S.


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