Es schreibt: Marie Rakušanová

(25. 1. 2016)

Die Anziehungskraft bestimmter Orte zu gewissen Zeiten ergibt sich aus dem Zusammenspiel vielerlei historischer Umstände. Die Gründe dafür, warum München im „langen 19. Jahrhundert“ die Bezeichnung als „Kreuzung der europäischen Kulturen“ verdient hat, sind immer wieder Gegenstand der Forschung bei Experten verschiedener Richtungen und Nationalitäten. Die PublikationMnichov. Zářící metropole umění 1870–1918 / München. Leuchtende Kunstmetropole 1870–1918 (Hrsg. Aleš Filip und Roman Musil, Plzeň – Lomnice nad Popelkou, 2015) gewährt eine Reihe interessanter Einblicke tschechischer und deutscher KunsthistorikerInnen. Das Buch erschien anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, die 2015 in der Westböhmischen Galerie in Pilsen stattfand und die zu den erfolgreichsten Aktionen des Projektes Pilsen – Kulturhauptstadt Europas zählt.

 

Der heutige Besucher der reservierten bayerischen Metropole würde es kaum vermuten, doch an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert handelte es sich um ein kosmopolitisches, vor Leben brodelndes Zentrum der Kultur. KünstlerInnen aus Böhmen, Polen, Russland, der Slowakei, Ungarn, Slowenien und vielen anderen Ländern kamen unter anderem deshalb nach München, weil die liberale Politik der Wittelsbacher hier günstige Bedingungen für ein Aufblühen der internationalen Kulturszene schuf. Das aufgrund der national-konservativen wilhelminischen Politik schwerfällige Berlin musste sich seine künstlerischen Freiheiten noch hart erkämpfen, für das glückliche München waren sie schon Jahrzehnte früher eine Selbstverständlichkeit. Die Münchener Schule, ob auf der Kunstakademie oder einer der privaten Schulen, übertraf in ihrer Attraktivität Berlin, Dresden und Wien. Die Künstler Mitteleuropas sahen in München eine ebenbürtige Alternative zum Studium in Paris oder verstanden Münchener Erfahrungen mindestens als natürliche Vorstufe zur Destination Paris. Das Ende Münchens als Zentrum der Kunst deckt sich bezeichnenderweise mit dem Ende der alten Zeiten in ganz Mitteleuropa – dem Ersten Weltkrieg.

 

Die AutorInnen der Publikation München. Leuchtende Kunstmetropole liefern dem Leser den Schlüssel, um die Spezifika des Münchener kulturellen Lebens zur genannten Zeit zu verstehen. Sie haben sich auf die Netzwerke der internationalen Kontakte unter Künstlern, die Rolle bedeutender Institutionen, den Kunstmarkt und den Ausstellungsbetrieb konzentriert. In vielerlei Hinsicht kann das Pilsener Projekt an frühere Forschungsansätze anknüpfen, wie beispielsweise an die Publikationen, die anlässlich des zweihundertjährigen Jubiläums der Gründung der Münchener Kunstakademie in verschiedenen Ländern erschienen und die etwa die Bedeutung der Münchener Erfahrungen für die polnischen, slowakischen und ungarischen Künstler des endenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts untersuchten. Eine Reaktion aus dem tschechischen Umfeld auf das Jubiläum der Münchener Kunstakademie war das zweisprachige Buch München – Prag: Kunst zwischen Tradition und Moderne, 2012 herausgegeben von Tat’ána Petrasová und Roman Prahl (vgl. das Echo von Jozo Džambo vom 23. 6. 2014). Die Publikation München. Leuchtende Kunstmetropole beruft sich in vielerlei Hinsicht auf dieses Buch, deckt sich mit ihm aber nur in Teilen.

 

Das fünfzehnköpfige Autorenkollektiv unter der Leitung von Roman Musil (Direktor der Westböhmischen Galerie Pilsen) und Aleš Filip erforschte München als Kulturmetropole vor dem Hintergrund konkreter Kunstwerke, die in der Ausstellung, aber auch in der Publikation in Form von teils erweiterten Katalogeinträgen präsentiert werden. Die Perspektive der deutschen Kunstgeschichte wird ausdrücklich betont. Neben Caroline Sternberg, die bereits am Band München – Prag: Kunst zwischen Tradition und Moderne mitgearbeitet hatte, wurden für das Pilsener Projekt noch Ute Strimmer, Sandra Uhrig, Roman Zieglgänsberger und Gerhard Leistner hinzugezogen. Sehr aufschlussreich ist der Artikel von Markéta Theinhardt, die europaweit die Künstlerkontakte untersucht.  

 

Die Konzeption von Ausstellung wie Publikation lag fest in den Händen der Autoren und Autorinnen. Die hinzugezogenen deutschen MitarbeiterInnen hatten mit der Westböhmischen Galerie in Pilsen bereits in der Vergangenheit zusammen gearbeitet, wie beispielsweise bei der Ausstellung Gabriel von Max oder bei Orbis pictus Františka Kupky (Orbis Pictus des František Kupka). Ihre Beiträge sind nicht einfach nur ein formales Input eines „Partners aus dem Ausland“, sondern sie fügen sich in das Gesamtkonzept der leitenden Köpfe des Autorenkollektivs. Das Buch München. Leuchtende Kunstmetropole überwindet den Gedanken einer hegemonialen Kunstgeschichte, die den von den Zentren zur Peripherie ausgehenden Einflüssen nachspürte. In dieser Hinsicht besonders bereichernd sind die einleitenden Artikel, die sich auf das kulturelle Klima in München und seine Institutionen konzentrieren (Texte von Ute Strimmer und Caroline Sternberg), sowie der erste Teil des Katalogs zur Ausstellung, der sich ahistorisch mit der Problematik der Position des Künstlers im täglichen Kultur- und im Stadtbetrieb auseinandersetzt (Stadt und Leute, Die Künstler stellen sich vor, Im Atelier, Im Dienste der Reklame). Die Konfrontation von Kunstwerken in diesem Teil geht über die Kategorie der nationalen oder stilistischen Zugehörigkeit der Autoren hinaus und gehört zu den aufschlussreichsten Momenten der Publikation. In Hinblick auf die Konzeption der gesamten Ausstellung war vor allem der thematische Rahmen „Im Atelier“ eine glückliche Wahl. Roman Prahl hatte bereits 1989 eine Ausstellung kuratiert, in der das Künstleratelier als Thema der tschechischen Malerei des 19. Jahrhunderts untersucht wurde (Roman Prahl, Umělec, jeho ateliér a umění [Der Künstler, sein Atelier und die Kunst]. Katalog zur Ausstellung, Praha – Cheb 1989). Im Falle der Darstellung des Arbeitsraumes eines Künstlers bietet sich nämlich ein breites Spektrum an methodologischen Werkzeugen an. Die AutorInnen der Pilsener Ausstellung haben auch aufgezeigt, dass sie nicht allein an der Ikonographie dieses Motivs oder an den Stilanalysen seiner Verarbeitung interessiert sind, sondern dass sie die Abbildung des Ateliers wahrnehmen als ein Mittel zur Bildung von Künstlerprestige, als kulturhistorischen Beweis für das Funktionieren von Künstlerinstitutionen oder als offenes Feld für das Experimentieren mit Werk und Leben.

 

Die folgenden drei Teile der Publikation (Das Vermächtnis der Münchner Schule, Die Münchner Sezession und das Fin de Siècle und Expression und Avantgarde) vollziehen die mit München verbundene Kunst in chronologischer Folge nach und konzentrieren sich auf die Einteilung der Werke innerhalb der üblichen Genres, wobei sie jedoch sympathischerweise die Werke der Münchener „Künstlerfürsten“ und die der Schüler aus Böhmen und anderen Ländern nicht hierarchisieren. Das Selbstverständnis der AutorInnen in Hinblick auf die Problematik der Künstlerverbindungen zwischen München und Böhmen wird auch durch die formale Verarbeitung der Publikation unterstützt. Das Buch erscheint zweisprachig, die Übersetzungen aus beiden Sprachen sind qualitativ sehr gut und gewähren sowohl dem tschechischen als auch dem deutschen Leser einen identischen Einblick. München ist von Pilsen keine dreihundert Kilometer entfernt, dank der Publikation München. Leuchtende Kunstmetropole gewinnt man jedoch den Eindruck, dass es vielleicht noch näher liegt.   

 

Übersetzung: Daniela Pusch

 

 

Aleš Filip – Roman Musil (Hg.), Mnichov. Zářící metropole umění 1870–1918 / München. Leuchtende Kunstmetropole 1870–1918. Plzeň: Západočeská galerie v Plzni, Lomnice nad Popelkou: Studio JB 2012, 245S.


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