Es schreibt: Jitka Ludvová

(Echos, 11. 1. 2016)

Obgleich Oskar Baum dem „engeren Prager Kreis“ um Max Brod zugerechnet wird und ihn eine lebenslange Freundschaft mit Franz Kafka verband, gehört er – anders als die beiden Genannten und einige weitere Prager deutsche Autoren der Zwischenkriegszeit – zu jenen Persönlichkeiten, die heute einer expliziten Vorstellung bedürfen. Aus einer Pilsner jüdischen Familie stammend (geb. 1883), verlor Baum mit elf Jahren das Augenlicht. Er studierte am Wiener Blindeninstitut Hohe Warte Musik, legte das Staatsexamen als Lehrer ab und ging daraufhin nach Prag. Dank seiner Talente, seines eisernen Willens und Fleißes, der Opferbereitschaft seiner Familie und dem Entgegenkommen seiner engsten Freunde gelang ihm der Einstieg in ein gängiges Journalisten- und Berufsleben. Ab 1921 war er als Musikkritiker bei dem Regierungsblatt Prager Presse tätig, er schrieb mehrere Romane, von denen einer, Die Schrift, die nicht log, 1932 mit dem tschechoslowakischen Staatspreis ausgezeichnet wurde. Für den Prager Verein Urania wie auch für Prager deutsche Radiosendungen erstellte er zudem ganze Vortragszyklen über zeitgenössische Musik (1924, 1926). Obgleich er selbst nie einen Film sehen konnte, galt sein Interesse auch diesem Medium: Er bot Hollywood mehrere Drehbücher an. Am Ende seines Lebens wurde Baum Opfer des antisemitischen Rassenwahns. Mit einem gelben Stern gezeichnet, blieb er in Prag eingeschlossen und starb im März 1941 nach einer Operation im Prager jüdischen Krankenhaus.

 

Wieder in Erinnerung gebracht wurde Baum erst Jahre später von Jürgen Serke in dem 1987 in Wien herausgegebenen Band Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft. Darüber hinaus sind einige literaturwissenschaftliche Studien erschienen. So befasst sich zum Beispiel Sabine Dominik in ihrer Dissertation (Oskar Baum [1883–1941], ein Schriftsteller des „Prager Kreises“. Monographische Untersuchung zu Leben und Werk, Würzburg 1988) mit der literaturwissenschaftlichen Analyse von Baums Werk. Während der letzten Jahre wird Baum im Rahmen der erneuten Beschäftigung mit dem einstigen Prager deutschen Milieu auch ein verstärktes musikhistorisches Interesse zuteil. So hat z. B. der Münchener Richard Boorberg Verlag unter dem Titel Oskar Baum. Der Blinde als Kritiker (2014) unlängst eine Auswahl aus Baums Texten über Musik und Literatur der Jahre 1922–1938 veröffentlicht. Herausgeber sind der Germanist, Theaterwissenschaftler und Kunsthistoriker Wolfgang Jacobsen und der Musikpädagoge, Kritiker und erfahrene Konzertflötist Wolfgang Pardey. Die Absicht der Herausgeber besteht, kurz umrissen, nicht in der Veröffentlichung einer historisch-kritischen Textedition, vielmehr soll dem Leser die Prager deutsche Kultur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahegebracht werden. Die Kommentare beschränken sich auf das Nötigste und umfassen zumeist lediglich identifikatorische Angaben zu den genannten Personen. Von Jacobsen stammt eine biografische Skizze sowie eine (ca. ein Viertel des gesamten Textumfangs einnehmende) Auswahl aus Baums autobiografischen Betrachtungen, seinen Gedanken zu Franz Kafka und seinen Texten zum Judentum (zu Richard Beer-Hofmann, Otto Weininger, Martin Buber). Pardey beschreibt Baum als blinden Musiker, zudem ist ihm der Neudruck einiger Texte zu verdanken, die von Baums eigenem Erleben (der Blinde als Kritiker, der Blinde als Kunstbetrachter, der Blinde und der Tonfilm, der Blinde auf der Bühne) inspiriert sind. Darüber hinaus hat er siebzehn von Baums Musikerporträts (u. a. Carl Maria von Weber, Franz Schubert, Jacques Offenbach, Gustav Mahler) und schließlich 35 Rezensionen zu konkreten Konzert- und Theaterereignissen in die Edition aufgenommen. Den Epilog bilden eine von Baum stammende Buchrezension sowie einige seiner Texte über Grammophonplatten.

 

Nachdem mir das Buch in die Hände gelangt war, schlug ich es zufällig auf Seite 134 auf. Dort findet sich der Text Unterhaltung mit Alban Berg, ein praktisch unbekannter Bericht Baums über ein Gespräch, das er mit dem Komponisten nach der Generalprobe von dessen Oper Wozzeck am 11. November 1926 im Tschechischen Nationaltheater geführt hatte. (Baum erwähnt hierbei u. a., Berg habe in „anmutig frischem Wiener Dialekt“ über komplizierte ästhetische und geistige Probleme gesprochen). Das Gespräch erschien einen Tag später in der Prager Presse: Berg äußerte sich begeistert über die dirigentische Konzeption Otakar Ostrčils, die Leistung von Sängern und Orchester und insbesondere über die (von Jiří Mařánek stammende) tschechische Übersetzung, die seiner Ansicht nach in vollendeter Weise die musikalische Diktion erfasst habe. – Der Kommentar des Herausgebers beschränkt sich in diesem Falle auf personenbezogene Angaben zu drei Personen. Dem Leser werden damit wichtige Kontexte vorenthalten: So fällt in der Edition kein Wort darüber, dass sich mit Wozzeck einer der politisch weitreichendsten Prager Theaterskandale verband, als bei der zweiten Aufführung am 16. November 1926 tschechische faschistische Jugendliche im Theater einen Krawall inszenierten und damit verhinderten, dass die Vorstellung zu Ende gespielt wurde. Mit Wozzeck befasst sich die Edition noch einmal an anderer Stelle (auf S. 179), und zwar mit der Aufführung von Auszügen aus der Oper bei einem Konzert des Prager deutschen Theaters 1925 – welches der einzigartigen tschechischen Inszenierung als Inspiration diente. Keines dieser begleitenden Ereignisse findet Erwähnung, Baums Texte hängen damit in einem historischen Vakuum.

 

Nach historischer Lokalisierung verlangen übrigens etliche der in den Band aufgenommenen Kritiken und Essays. So hätte zum Beispiel Baums Buchrezension Es gibt keine musikalischen Menschen. Die Revolution der musikalischen Erziehung durch Heinrich Jacoby (S. 227) aus dem Jahr 1925 eine Anmerkung darüber verdient, dass musikalische Erziehung in der deutschen wie tschechischen Gesellschaft Prags ein äußerst lebendiges Thema war und 1934 in Prag eine Gesellschaft für Musikerziehung gegründet wurde, der es selbst in konfliktreichen Zeiten noch gelang, eine gemeinsame Plattform zu schaffen. (Baums Rezension bezieht sich auf Heinrich Jacobys Text Grundlagen einer schöpferischen Musikerziehung, vorgetragen am 5. Mai 1921 in Berlin auf der „Kunsttagung des Bundes entschiedener Schulreformer“, herausgegeben ohne Datierung in Karlsruhe.) Baums Text Meyerbeers Nachlaß – Eine Anregung für den Kulturbund (S. 123, 1935) sollte durch die Information ergänzt werden, dass einer der Impulse für die Entstehung dieses Textes – neben dem bevorstehenden Erlöschen von Meyerbeers Urheberrechten (1934) – wohl auch die große Renaissance war, die Meyerbeer nach 1934 auf der Prager deutschen Bühne erlebte, und zwar insbesondere dank zweier guter Koloratursopranistinnen, die – von den zeitlichen Umständen aus Deutschland nach Prag vertrieben – über eine außerordentliche Disposition für Meyerbeers Partituren verfügten.

 

Die Suche nach solcherart historischen Lokalisationspunkten setzt eine gewisse Kenntnis der Prager Kontexte voraus. Am Ende der Publikation danken die Herausgeber einer Mitarbeiterin des Prager Jüdischen Museums für die Bereitstellung von Dokumenten (S. 245) – diese hätte zweifellos weitere Hilfe vermitteln können. Ein tschechischer Berater hätte einen Satz wie: „Nach dem Münchner Abkommen vom 29. September 1938 fiel das tschechoslowakische Staatsgebiet dem Deutschen Reich zu […]. Einen Tag später besetzte die Wehrmacht das Land“ (S. 31 oben) wohl kaum im Text belassen. Ebensowenig die Behauptung, dass der Prager Musikverein Přítomnost [Gegenwart] (1924) in irgendeiner Weise zu Peroutkas gleichnamiger Zeitschrift gehört habe (Anm. auf S. 223: „Přítomnost – einflussreiche tschechische Tageszeitung, auf Initiative des tschechischen Präsidenten T. G. Masaryk gegründet“) oder dass Erich Steinhard (1886–1941) ein tschechischer Musikjournalist gewesen sei (Anm. auf S. 199 unten u. a.). Der Prager journalistische Kontext fehlt in der Publikation übrigens auch ein wenig. Und besagter Erich Steinhard, Stammkritiker beim Prager Tagblatt, Chefredakteur der Musikzeitschrift Der Auftakt (1920–1938), Mitglied internationaler Organisationen, in denen Prager deutsche Musiker vertreten waren, spielte in diesem keine geringe Rolle. Sollte die Publikation ein zweites Mal erscheinen – und die ausgewählten Texte sind definitiv lesenswert – so wäre es sicherlich lohnend, Addenda et Corrigenda zu erstellen.

 

Am zahlreichsten in der Auswahl vertreten sind Musikkritiken. Mit Neid sieht der heutige Leser, wie viel Raum die Tagespresse der Zwischenkriegszeit der „Hochkultur“ einräumte. Dank dessen lässt sich heute das „ästhetische Profil“ Oskar Baums als Musiker rekonstruieren: wie seine Wertehierarchie beschaffen war, was er für perspektivträchtig hielt, woran er zweifelte. Seine Kritiken sind von einem faszinierten, aber gemäßigten, dem Stil eines Regierungsblattes angemessenen Ton. Dennoch wird deutlich, dass Baum ein typischer Vertreter der deutschsprachigen Kritikerschule war, die sich zu der mitteleuropäischen Entwicklungslinie Wagner – Mahler – Zemlinsky – Schönberg bekannte. Dies war auch für Baum die weltweit führende musikalische Strömung. Er teilte die Theorie des Fortschritts in der Musik wie auch Schönbergs Überzeugung, dass wahre Kunst etwas ästhetisch Neues sagen müsse, das noch niemand zuvor gesagt hatte. Er teilte auch Schönbergs asketische Beziehung zum Publikum: Der Künstler solle Neues repräsentieren, so, wie es seiner eigenen Überzeugung entspreche, ob es dem Publikum nun gefalle oder nicht. Im Unterschied zu vielen tschechischen Verfechtern dieses deutschen ästhetischen Standpunktes war Baum jedoch auch ein begeisterter Anhänger Leoš Janáčeks – für die erste Prager deutsche Inszenierung von Janáčeks Oper Její pastorkyňa (Jenůfa) fand er 1926 Worte großer Bewunderung.

 

Sehr erfrischend zu lesen sind einige der letzten, aus dem Jahr 1931 stammenden Texte über Grammophonplatten, in denen Baum seine regelrechte Sucht nach diesen Platten beschreibt: Diese sei sofort entstanden, nachdem der „Zauberkasten“, der „Schrank-Apparat“ in sein Wohnzimmer gelangt sei. Er habe daraufhin begonnen, sich in der Redaktion zu verspäten. Ganze Stunden lang habe er Opernarien in der Interpretation Enrico Carusos, des amerikanischen Tenors Alfred Piccaver oder des reisenden russischen Sängers Fjodor Schaljapin verschlungen. Rund um die Uhr hörte er Gesangs- und Sprachaufnahmen Vlasta Burians, Chansons von Marlene Dietrich wie auch die Bakulechöre, hoch geschätzte Aufnahmen behinderter wie auch gesunder Kinder, mit denen der tschechische Pädagoge und Chorleiter František Bakule seit 1912 unter enorm positiver internationaler Resonanz arbeitete. Es stimmt optimistisch, dass zahlreiche dieser Wunder aus der Werkstatt der Firma Ultraphon heute in Neuausgabe zu finden sind. – Dies ist nicht zuletzt ein Beweis dafür, dass eine untergegangene Welt weiterhin ihre Botschaften sendet.

 

Übersetzung: Ilka Giertz

 

Wolfgang Jacobsen, Wolfgang Pardey (Hg.): Oskar Baum. Der Blinde als Kritiker. Texte zu Musik und Literatur. München, Richard Boorberg Verlag 2014, 245 S.


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