Es schreibt: Bernd Hamacher

(Echos, 28. 12. 2015)

Als 2007 Jindřich Manns Erinnerungen Prag, poste restante erschienen (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt), annoncierte der Untertitel Eine unbekannte Geschichte der Familie Mann. Doch die Familiengeschichte des Heinrich-Mann-Enkels ist nur eine Ebene des Buches, das durchaus als Roman bezeichnet werden kann und als solcher dem in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur populären Genre der Autofiktion angehört. Der postlagernde Brief, der dem Buch den Titel gibt, wird erst kurz vor dem Ende erwähnt. Die Idee dazu stammt von dem sudetendeutschen Portier des Hotels Regina Palast in München, der den nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 an einer künftigen Rückkehr nach Prag zweifelnden Protagonisten und Ich-Erzähler Mann trösten möchte: „Begrüßen Sie sich doch in Prag! […] Schreiben Sie einen Brief. Heißen Sie sich darin in Prag herzlich willkommen. Sie werden wissen, dass der Brief dort auf Sie wartet. Damit wird die Sache für die Zukunft offiziell besiegelt, und Sie brauchen keine Skepsis in diesbezüglicher Angelegenheit mehr zu verspüren.“ […] „Und an wen soll ich einen solchen Brief adressieren?“ „An sich selbst. Jindrich Mann, Prag, poste restante“ (S. 331).

 

Mann schreibt den Brief nicht, die Episode wird indes zum Auslöser eines Traums, eines für Emigranten typischen „Serientraumes“ (S. 329), in dem er im Prager Hauptpostamt einen postlagernden Brief abzuholen versucht, den Brief nicht bekommt, dafür seinen „Deutschen Fremdenpass“ verliert, mit dem er gar nicht hätte einreisen dürfen. Jindřich Mann verarbeitet in seinem Buch nicht nur faktuale Erinnerungen und Familiendokumente, sondern komponiert diese um Träume und kontrafaktische Imaginationen herum, die meist von Prag ausgehen, und zwar von bestimmten Gebäuden und der Topographie der Stadt. Er beginnt auch mit einem Traum, genauer gesagt mit einer Erinnerung an den Mathematiklehrer seiner Prager Grundschule, Herrn Holubář, der seine Schüler mit der Theorie vertraut gemacht hatte, „das ganze Leben sei nur ein Traum“ (S. 7). ‚Holubář‘ bedeutet auf Deutsch ‚Taubenzüchter‘, und so stammt vielleicht von ihm eine Brieftaube, die den in der Realität ungeschriebenen postlagernden Brief ins Prager Hauptpostamt spedierte. Jedenfalls scheinen Manns Erinnerungen der Choreographie von Holubářs Traumlogik zu folgen. Ein Traum von seinem Vater nämlich, dem tschechischen Schriftsteller Ludvík Aškenazy, dessen Schilderung der Episode mit dem Mathematiklehrer folgt, bildet den Schreibanlass: „Gut, dachte ich, dann versuche ich es doch zu schreiben … das Buch … über Mama und Papa, auch über Prag“ (S. 10).

 

Mehrere Gebäude sind es, die die Erinnerungen strukturieren – zunächst das Schulgebäude, dessen Architektur als „schüchterne[r] Anflug von Jugendstil“ bezeichnet wird (S. 14): „Dabei war der Architekt unschlüssig, welcher Botschaft er den Vorzug geben sollte: den äußeren Ornamenten des eleganten Optimismus der Sezession oder einer geometrischen Strenge, die mehr auf die Abläufe im Innern der Anstalt hinwies“ (ebd.). Diese Ambivalenz steht metonymisch für Prag, in dessen Geschichte sich in Manns Darstellung die optimistischen und die düsteren Perioden abwechselten. Im Zentrum steht die Erste Tschechoslowakische Republik, die als „verschwundenes Atlantis“ (S. 164) bezeichnet wird, als „ein vibrierendes Frühlingserwachen inmitten eines trostlosen Herbstes“ (S. 167). Und auch auf der Ebene der Erzählung wechseln sich träumerische und nüchtern dokumentarische Passagen ab.

 

Weitere metonymisch besetzte Prager Gebäude und Räume sind das Hotel Europa am Wenzelsplatz, das Café Esplanade sowie der Hauptbahnhof – wobei Mann hier ein bezeichnender Irrtum unterläuft: „Der Prager Bahnhof ist ein Prachtbau mit Türmen, Stuckadlern, riesiger Uhr und der Aufschrift ‚Praga caput regni‘ (Prag, das Haupt des Königreichs)“ (S. 20). Diese Aufschrift aber befindet sich nicht am Bahnhof, sondern am Altstädter Rathaus. Der Bahnhof wird durch die vertauschte Schrift zum symbolischen Regierungssitz. So werden unterschiedliche Prag-Topoi gewissermaßen traumlogisch übereinander geblendet, Brennpunkt ist die – am Bahnhof und im Hotel Europa manifestierte – Internationalität, die sich etwa auch im wiederholten familiären Wechsel der Muttersprache zwischen Tschechisch und Deutsch von Generation zu Generation ausdrückt. Regiert wird diese Internationalität durch den Erzähler, der als kleiner Junge auf die „magische Tiefe“ des Bahngeländes hinabblickt: „Ich beaufsichtigte das Ganze, obwohl so klein, aus der Höhe, wie ein Riese, der ein Zwergenreich besucht“ (S. 20).

 

Vertauschte Inschriften spielen auch in einer späteren Episode beim Einmarsch der Roten Armee zur Niederschlagung des Prager Frühlings eine Rolle: Um die Besatzer zu verwirren, „kam man auf die Idee, Straßenschilder ab- oder umzuhängen. Ähnlich verfuhr man mit den Hinweisschildern, auf denen die Ortsnamen standen. Keiner, vor allem nicht die Besatzer (sie konnten nicht nachfragen), kannten sich irgendwann noch in diesem Irrgarten aus. Auf diese Weise konstituierte sich eine eigenartige Parallelität“ (S. 311f.). Beendet wurde diese kurze anarchische Phase durch die zwanzigjährige Ära der sogenannten ‚Normalisierung‘, „die Straßen erhielten ihre Namen zurück“ (S. 319). Der Erzähler lässt jedoch durchblicken, dass diese gewissermaßen linguistische Normalität ihrerseits in der Geschichte Prags im 20. Jahrhundert nur eine Episode war, da Straßen aus unerfindlichen Gründen die Namen wechselten und sich so die Wohnadresse der Familie änderte, ohne dass ein Umzug stattgefunden hatte.

 

Etwas Märchenhaftes erhalten die Prager Häuser vor allem durch die „unzähligen Statuen“ (S. 100), die darauf warten, dass ihnen erzählerisch eine Seele eingehaucht wird. Dass sie ins Stadtbild „eingeebnet“ sind (S. 101), bedeutet zwar, dass sie nicht daraus hervorstechen und man sie daher nicht als etwas Besonderes wahrnimmt – vor allem aber bedeutet es, dass die gesamte Stadt diese Struktur hat: Prag ist in dieser Wahrnehmung Stein gewordene Literatur, oder umgekehrt: Stein, der noch nicht zur Literatur geworden ist. Durch poetisch-schöpferischen Anhauch werden die Gestalten lebendig. Der „Clou“ besteht nun darin, dass dies nicht nur für das Prag vergangener Epochen gilt, sondern explizit auch für den Sozialismus, dem die Architektur des Hauses neben der ehemaligen Wohnung der Manns in Vinohrady zuzurechnen ist:

 

„Der Clou des gesamten Gruppenbildnisses war aber jener Steinmensch, der dicht neben unserem Hauseingang seine Position zugewiesen bekommen hatte. Er war ungeheuer imposant, geradezu phänomenal. Der Mann steckte in einem Anzug, die Jacke war ein eng zugeknöpfter Zweireiher. Und: Er hatte einen Telefonhörer in der Hand! Ans Ohr gedrückt. Dieser Mann wurde zum Mittelpunkt wilder Überlegungen, die zuverlässig aufflammten, sobald ich in seine Nähe kam. Wen ruft er heute wieder an, dachte ich“ (S. 101f.).

 

Die mit Prag assoziierte anarchische Struktur, die Subversion von Ordnung und Normalität, setzt der Erzähler kontrafaktisch und ‚traumlogisch‘ literarisch in Szene, so dass konsequent die Literatur aus der Stadt entsteht – aus dieser Stadt, aus Prag. Dies greift dann auch auf die Ebene der Familiengeschichte über, zum Beispiel im Hinblick auf Jindřichs Großvater Heinrich Mann, den er nicht kennengelernt hat, der aber in einem Traum schweigend an seinem Bett sitzt. Der Erzähler erwähnt nicht, dass sein Großvater posthum doch noch einmal nach Prag kam. Jindřichs Mutter und Heinrich Manns einzige Tochter Leonie gab 1961 die Erlaubnis, dass die DDR-Regierung die Urne ihres Vaters aus Kalifornien überführen ließ – und zwar über Prag. Jindřich war zu diesem Zeitpunkt 13 Jahre alt. Wie er mir in einem Gespräch sagte, hatte er damals nichts davon gewusst, in der Familie wurde über die als peinliche politische Vereinnahmung empfundene Angelegenheit nicht gesprochen.

 

Das Adjektiv ‚unbekannt‘ im Untertitel der Familiengeschichte bedeutet also nicht nur, dass bislang unbekannte Fakten aufgrund neuer Dokumente und Archivfunde präsentiert würden. Mindestens so wichtig ist der Aspekt, dass das Unbekannte an der Geschichte auch ihre Fiktionalität ist. So entsteht Literatur als ambivalente Struktur von Stein und Seele, Wirklichkeit und Traum, Normalität und Phantastik, Ordnung und Anarchie. Manns im Gespräch artikulierte Schreibintention, das deutsche Bild von Tschechien zu korrigieren, ist auf dieser Ebene des Buches zu finden.

 

Erst fünf Jahre später konnte die von Mann selbst neu geschriebene tschechische Fassung erscheinen (Poste restante. Praha: Labyrint, 2012). Dass im Unterschied zum deutschen ‚Original‘ der dokumentarische Bildteil fehlt, ist nicht auf Sparsamkeit des Verlags zurückzuführen, sondern auf eine bewusste Entscheidung des Autors, der damit signalisieren wollte, dass es sich nicht um ein Sachbuch handelt. Ebenso fehlt der vom Rowohlt Verlag gewünschte Untertitel. Mann selbst findet daher die tschechische Fassung besser. Auch hier aber war er zu einem Kompromiss gezwungen: Der Name Prag durfte nicht im Titel stehen, damit das Buch auch außerhalb der Hauptstadt LeserInnen finde – aus deutscher Sicht ein Kuriosum, da es definitiv ein Prag-Roman ist. Und als solcher kann Poste restante auch außerhalb des biographischen Interesses an der Mann-Familie einen Platz in der deutschsprachigen wie der tschechischen Gegenwartsliteratur beanspruchen.


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