Es schreibt: Jan Mareš

(21. 12. 2015)

Marek Waic gehört zweifelsohne zu den renommierten Forschern auf dem weit gefassten Gebiet der Geschichte von Sport und Sporterziehung. Im vergangenen Vierteljahrhundert erlangte er die Aufmerksamkeit des Fachpublikums vor allem als Herausgeber und Co-Autor von Sammelbänden. Stellvertretend für alle anderen seien hier genannt: Český tramping 1918–1945 [Das Phänomen des Trampings in der Tschechoslowakei 1918–1945] (1992), Sokol v české společnosti 1862–1938 [Der Turnverein „Sokol“ in der tschechischen Gesellschaft 1862–1938] (1996), Tělesná výchova a sport žen v českých a dalších středoevropských zemích [Sport und Sporterziehung der Frauen in böhmischen und anderen Ländern Ostmitteleuropas] (2003) oder Německé tělovýchovné a sportovní spolky v českých zemích a Československu [Deutsche Turn- und Sportvereine in den böhmischen Ländern und in der Tschechoslowakei] (2008).

 

Deswegen kann man seine Monographie Tělovýchova a sport ve službách české národní emancipace [Sport und Sporterziehung im Dienste der tschechischen nationalen Emanzipation] (Praha, Karolinum 2013) auch als Versuch einer Bilanz seiner bisherigen Forschung sehen, vor allem, was die hier behandelte Epoche, die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, anbelangt. Die Gesamtstruktur des relativ schmalen Buches mit knapp 180 Seiten ist durch eine gewisse Asymmetrie gekennzeichnet, denn gut die Hälfte des Bandes nimmt das Kapitel über sporterzieherische Bestrebungen des Sokol ein, des wohl wichtigsten tschechischen bzw. tschechischsprachigen Turnvereins jener Zeit. Die Darstellung erfolgt chronologisch und wird durch kurze Portraits großer Männer des Sokol (Jindřich Fügner, Miroslav Tyrš, Josef Scheiner, Jindřich Vaníček) ergänzt, die wiederum durch Unterkapitel zur Stellung der Frau innerhalb der Bewegung erweitert werden. Der Verfasser unternahm ebenfalls den Versuch, unterschiedliche Entwicklungen auf der Landesebene (Böhmen, Mähren, Schlesien) zu berücksichtigen. Doch die gegebenenfalls vorhandenen regionalen oder lokalen Unterschiede blieben größtenteils unbeachtet, was allerdings im Hinblick auf die heterogene Quellenlage und die komplizierte Heuristik durchaus nachvollziehbar ist. Dennoch ist die Auslegung insgesamt auf Prag zentriert, dies belegt zum Beispiel der Abschnitt über die Minderheitenpolitik des Sokol auf sogenanntem bedrohtem Gebiet, die aus dem Blickwinkel der finanziellen Anforderungen an die Mitglieder und nicht etwa aus der Perspektive der Zusammenarbeit mit konkreten Sokol-Vereinen dargestellt wird. Diesen Eindruck unterstreicht auch die narrative Struktur, die die Entwicklung der Turnbewegung als Abbild einer vom Zentrum aus gelenkten politischen Entwicklung sieht. Die Darstellung konzentriert sich auf organisatorische Veränderungen (wie zum Beispiel Satzung, Mitgliederzahlen, Bemühungen um organisatorische Vereinheitlichung), ohne dabei jedoch Spuren nationalistischer Argumentationen oder Politik zu berücksichtigen. Es werden lediglich wiederholt patriotische und emanzipatorische Bestrebungen betont, die allerdings nur zur Selbstbestätigung der Bewegung in ihrem Wachsen führten. Der Einfluss der Jahn’schen Turnbewegung wird zwar erwähnt, doch nur auf der allgemeinen Ebene dessen, wie beide Bewegungen die Aktivitäten der jeweils anderen verfolgten. Eine qualitative Analyse des symbolischen sowie semantischen Potenzials des Sokol fehlt komplett. So erfahren wir nichts über den Beitrag der Bewegung zur Herausbildung von nationalen Auto- und Heterostereotypen. Und genauso wenig wird der Frage nach der Rezeption dieser Bewegungskultur in der tschechischen medialen Öffentlichkeit nachgegangen sowie ihrer Entstehung von „unten“, zum Beispiel in Bezug auf das damalige Allgemeinwissen (Was ist der Körper? Wie funktioniert er? Warum dient Sport dem Einzelnen und dadurch auch der Nation?).

 

Der zweite Teil des Buches widmet sich dem Sport im Allgemeinen. In drei kürzeren Kapiteln werden jeweils Rudern, Radsport und Fußball behandelt. Das Rudern, dessen Ursprung Waic in den 1840er Jahren sieht, wird hier als Pionierbewegung des Klubwesens dargestellt, weswegen in diesem Teil deutschen Vereinen, respektive dem Prozess ihrer Nationalisierung, deutlich mehr Aufmerksamkeit zuteil wird. Der Radsport, der seit den 1870er Jahren große Verbreitung erfahren hatte, wird wiederum als Beispiel für die Professionalisierung des Sports herangezogen. Die Radsportclubs seien zwar als nationale Verbände entstanden, doch die Professionalisierung minderte den rivalisierenden nationalen Ethos dieser Freizeitsportart. Den roten Faden der Darstellung bilden organisatorische Bestrebungen, oft jedoch miteinander rivalisierend – wenn es zum Beispiel um Dachverbände auf nationaler oder gesamtösterreichischer Ebene ging oder um Vertretung in internationalen Organisationen wie zum Beispiel dem Fußball-Weltverband FIFA, die häufig Einfluss darauf hatten, mit wem der jeweilige Verein seine Kräfte messen durfte. Das Kapitel zur Entstehung des Fußballs aus der Mitte der tschechoslowakischen Amateur Athletic Union bringt den Zeitkontext trefflich zum Ausdruck: „Die Veränderbarkeit und Dynamik in der Schließung von kurzzeitigen Koalitionen, Verwandlungen von Freundschaft in Feindschaft, lautstarke Verkündung gegenseitigen Boykotts sowie dessen Widerrufe erinnerten an die Veränderbarkeit und Mannigfaltigkeit des Spiels an sich“ (S. 136). Diese Veränderbarkeit und Mannigfaltigkeit zeigt auch die Instrumentalisierung des Nationalismus, die manchmal gar in der Fälschung von Ergebnissen gipfelte – sei es auf dem Spielfeld aufgrund der nicht klar definierten Regeln oder in der Tagespresse. Aus der Darstellung wird jedoch nicht ganz ersichtlich, ob es sich dabei um ein notwendiges Zubehör der „nationalen Emanzipation“ handelte – dem Schlüsselbegriff der ganze Studie.

 

Das letzte Kapitel ist der tschechischen Olympiabewegung und ihrem Verfechter Jiří Guth (der sich später Guth-Jarkovský nannte) gewidmet. Ausführlich werden hier die Komplikationen beschrieben, die die Ablehnung des Olympiaprojekts seitens der Tschechischen Sokolgemeinde (ČOS) verursachten – die Einstellung des österreichischen Staates wandelte von der Lethargie bis hin zu einer Ablehnung der eigenständigen tschechisch-nationalen Repräsentation im Ausland, die Guth anfangs dank der Unterstützung von Pierre de Coubertin, dem Begründer der neuzeitlichen Olympischen Spiele, erkämpft hatte. Im Vergleich zu der fünfseitigen Behandlung dieses Themas in Jiří Kořalkas Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815–1914 (Wien, 1991) ist zwar hier die Darstellung um einiges detaillierter, doch sie trägt zu der Frage der (Un)Möglichkeit einer tschechisch-nationalen Vertretung nichts Neues bei.

 

Ich bewerte die Studie in zweierlei Hinsicht als problematisch. Zum einen wird die Fragestellung des Autors nicht klar formuliert. Womöglich hat er sich eine solche Frage erst gar nicht gestellt. In der Einführung werden auf acht Seiten die grundlegenden Fluchtpunkte des gesellschaftlichen und politischen Diskurses der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgezeichnet, dabei wird jedoch eine theoretisch-methodologische Herangehensweise nicht einmal am Rande thematisiert. Stattdessen erfahren wir, anlässlich des 150. Sokol-Jubiläums solle „[...] an die Bestrebungen der Sokol-Mitglieder um die Gleichstellung der Tschechen vor allem mit den österreichischen Deutschen [erinnert werden]“ (S. 7). Auf der nächsten Seite wird dem Lesenden der Kontext der damaligen Zeit unter anderem mit folgender Formulierung näher gebracht: „Die meisten ‚Deutschböhmen‘ beherrschen das Tschechische nicht, worin sicherlich einer der Gründe für ihre Bestrebungen um eine kulturelle Germanisierung der böhmischen Länder zu sehen ist...“ (S. 8). Die Deutschen werden in der Studie kontinuierlich als eine bereits emanzipierte Staatsnation geschildert, als diejenigen also, die Deutsch sprachen. Dabei werden weder die Dynamik der deutschnationalistischen Politik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, noch regionale und staatliche Spezifika berücksichtigt. Waic erscheint in seinem Verständnis von Nation als nahezu primodialisch (oder zumindest perennialistisch), da vorausgesetzt wird, dass in allen Gemeinschaften und Gesellschaften bestimmte Arten ethnischer Beziehungen existierten, die darüber hinaus noch relativ beständig und stabil seien. So bezieht er sich in seiner Studie weder auf Nationalismusdiskurse (zum Beispiel Modernismus vs. Konstruktivismus), noch unterscheidet er zwischen Nation und nationaler Bewegung und stellt keine Beziehung zu sowohl Körper als auch Körperlichkeit her. Und schließlich werden auch die nationale Indifferenz eines beachtlichen Teils der Bevölkerung in den böhmischen Ländern, respektive die Vielschichtigkeit sowie situativ variable Identität(en), nicht berücksichtigt.

 

Ähnliches trifft auch auf das umfangreiche Literaturverzeichnis zu Sport und Sporterziehung (S. 181–192) zu. Hat der Autor aus den aufgelisteten Publikationen etwas übernommen, dann handelt es sich ausschließlich um Fakten, jedoch um keine Interpretationen. Der Studie mangelt es an der reflexiven oder dialogischen Dimension, die für eine wissenschaftliche Arbeit unentbehrlich ist. Die Deskription überwiegt die Interpretation, oft wird diese sogar von jener komplett überlagert. Und es fehlt auch an dem, was eine wissenschaftliche Monographie zu einer wissenschaftlichen Monographie macht – die Zusammenfassung. Stattdessen endet die Studie mit einem Kapitel über das Tschechische Olympische Komitee (ohne dass ersichtlich wird, worin sein wissenschaftlicher Beitrag besteht, verglichen beispielsweise mit der älteren Darlegung dieser Problematik bei Jiří Kořalka). Es entsteht also der Eindruck, als wäre schon alles gesagt (und beschrieben) worden und es bestehe keine Notwendigkeit, das komplizierte Verhältnis zwischen nationaler Emanzipation und Sport zusammenzufassen oder zumindest mögliche Fragestellungen für weitere Forschung zu skizzieren. Der hier abgerissene Faden der chronologischen Erzählung wird wohl vermutlich erst im nächsten Buch wieder aufgegriffen.

 

Es drängt sich also die Frage auf, worin der Beitrag dieser Studie überhaupt besteht. Ihre Ambitionen, so der Autor, seien lediglich heuristischer Natur: „Der vorliegende Text basiert etwa zur Hälfte auf in der Geschichtswissenschaft bisher unberücksichtigten Quellen und zeitgenössischer Presse...“ (S. 13) – und so wird dieses Vorhaben auch leider erfüllt. Dabei kann man nicht behaupten, die Studie wäre frei von jeglichen relevanten Erklärungen. Interessant sind vor allem nationalpolitische Aspekte im tschechischen Sport und in der Sporterziehung. Hätte Waic seine Darstellung der Diskussionen und Auseinandersetzungen zwischen Sport und Sporterziehung klarer strukturiert und das Verhältnis zwischen Klubismus, Professionalisierung und Kommerzialisierung des Sports auf der einen und den Ansprüchen der Sporterziehung auf der anderen Seite analysiert, hätte er die Entstehung nationalistischer Argumentationen und ihrer (Nicht)Erfüllung in der konkreten Politik verfolgt – oder hätte er systematisch die Presseplattformen vorgestellt, die die Sporterziehung, den Sport, aber auch die nationale bzw. Sportöffentlichkeit beeinflusst haben, wäre die Studie zweifellos ein gewichtiger Beitrag zur (tschechischen) Geschichtswissenschaft geworden. Stattdessen hat er jedoch eine Abhandlung über die Sportgeschichte in Zeiten des Nationalismus vorgelegt, die aus den verwendeten Quellen die nationalistische Betrachtungsweise übernommen hat, ohne sie einer kritischen Reflexion zu unterziehen.

 

Übersetzung: Martina Lisa


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