Es schrieb: Paul Leppin

(7. 12. 2015)

Vor wenigen Tagen, am 27. November, jährte sich der Geburtstag des Prager Schriftstellers Paul Leppin (1878–1945). In seiner kurzen Selbstbiographie, die anlässlich seines 60. Geburtstags in dem zweiten Band der Prager Rhapsodie (Das Antlitz der Mutter. Prag: Verlag Dr. Arthur Werner, 1938, S. 87–89) erschien, brachte er die Relevanz der Heimatstadt für sein Werk folgendermaßen auf den Punkt: „Mein tiefstes Erlebnis ist Prag geblieben. Sein Zwiespalt, sein Geheimnis, seine rattenfängerische Schönheit haben meinen dichterischen Versuchen immer aufs neue Antrieb und Inhalt gegeben“ (S. 89). Unglaublich umfangreich wäre die Liste, wollte man versuchen, all die lyrischen, prosaischen, dramatischen und essayistischen Texte Leppins anzuführen, in denen Prag eine Rolle spielt. Doch sehr wenige Titel wären heutzutage einem breiten Publikum bekannt, denn außer dem Roman Severins Gang in die Finsternis (München: Delphin-Verlag, 1914) und vereinzelten Gedichten wird selten etwas aus seinem Werk rezipiert. Dabei bergen gerade die zahlreichen Erinnerungsartikel, die er zu Lebzeiten in diversen Zeit-, Wochen- und Monatsschriften publizierte, beeindruckende Facetten des Lokalkolorits und den unschätzbaren Glanz einer vergangenen Periode, in der er „als Spaßmacher und ungekrönter König der Prager Bohème“ (S. 88) agierte. Und damit ist nicht lediglich – wie bei manchen anderen seiner Zeitgenossen – das deutschsprachige Prag gemeint. Leppin suchte Zeit seines Lebens Kontakt zu tschechischsprachigen Kollegen, schon in jungen Jahren hatte er begonnen, für deutsche Blätter tschechische Literatur zu rezensieren (z. B. Jungtschechische Litteratur. In: Die Gesellschaft, Jg. 15, 1899, Bd. 4, S. 74), wagte selbst Übersetzungen (z. B. ein Gedicht von Otokar Březina: Der Leib. In: Die Gesellschaft, Jg. 15, 1899, Bd. 2, S. 332) und war u. a. Mitarbeiter der Moderní revue. Es widerstrebte ihm, dass „sich die deutsche Schriftstellerkolonie auf dem feindlichen Boden der slawischen Stadt in spleeniger Eigenbrötelei [begrub]“ (Prag. Schriftstellerkolonien VII. In: Das literarische Echo, Jg. 21, 1918, H. 5, 1. 12., Sp. 274). Innerhalb des tschechischsprachigen Literaturbetriebs stieß er mit seinen Bemühungen vielfach auf Sympathie und Akzeptanz, wie z. B. folgende Zeilen aus dem Gruß an Paul Leppinvon Fráňa Šrámek belegen: „Paul Leppin ist einer jener Deutschen, bei denen wir wahrlich nicht daran denken, es könnten zwischen den Völkern irgendwelche feindlichen Trennungszeichen existieren; das ehrt ihn“ (In: Prager Presse, Jg. 8, 1928, Nr.  328, 25. 11., Beilage Dichtung und Welt, S. 1).

 

Von der von Leppin stets ersehnten Nähe zwischen deutsch- und tschechischsprachigen Künstlern ist auch in dem nachfolgenden Essay Prager Bohème aus dem Jahr 1921 die Rede. Die Übersetzung ins Tschechische wurde von Milan Tvrdík eigens für einen zweisprachigen Gedenkabend angefertigt, der im April 2015 anlässlich der 70. Wiederkehr des Todestags Paul Leppins in Kooperation mit dem Institut für germanische Studien der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität im Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren stattfand. Leppins Text ist ursprünglich im ersten Jahrgang der Prager Presse erschienen (Nr. 48 vom 15. 5. 1921, Beilage, S. 1). Einigen der Namen, die er nennt, haftet mittlerweile – so wie dem seinen – eine Patina des Vergessens an, möge diese Wiederveröffentlichung daran kratzen!

 

jh

 

 

Prager Bohème

 

Wenn ich an die Zeiten zurückdenke, wo es in Prag so etwas wie eine deutsche Bohème gab, taucht vor allem der eigenwillige Kopf Alexander Moissis ins Licht. Jung, leidenschaftlich, genußfroh, war er nach kargen Jahren, die er als Sprachenlehrer, Teppichhändler und Gelegenheitsagent unter fremden Himmelsstrichen verbrachte, wagemutig in die bunte Welt des Scheins geflüchtet. Als Burgtheaterstatist nahm er entschlossen den Zufall beim Schopfe, avancierte über Nacht zum Charakterspieler auf der Landesbühne Angelo Neumanns in Prag. Die Jahre, die folgten, brachten die unvermeidlichen Krisen der Gärung, die ungebändigtes Temperament bisweilen ins Unbotmäßige steigerte.

 

Es war eine rauhbeinige Gesellschaft, die damals in den Kneipen und Weinschänken Altprags die Nächte vergeudete. Ohne die Zusammenhänge starker Prinzipien, ohne Zugehörigkeit, ohne gemeinsames Kunstmaß fanden sich alle in einer Art ekstatischer Lebensbejahung, die ihre unbürgerlichste Tugend war. Der Humor, der zum guten Teile in der Frechheit der Jugend wurzelte, lieh den Zusammenkünften Folie und Programm, der Dalles, ihr unentrinnbarer Begleiter, hielt abenteuerliche Radaulust auf einer erträglichen Linie. Da war Richard Teschner, der Maler weltfremder Begebenheiten, dessen Schlußrock und schweigsame Abgekehrtheit verstiegene Kunstakademiker zur Gefolgschaft begeisterte, Viktor Hadwiger, der im Schatten seines ungeheueren Schlapphutes lyrischen Verkündigungen ganz besonderen Formates nachsann und der später in Berlin verbittert und glückhungrig einen allzu frühen Tod gestorben ist. Da waren Aerzte und Lebemänner, Müßiggänger und Studenten, die der Drang nach Ungebundenheit, die Neugier nach Sensationen um die Tische gruppierte, wo aufgeplusterte Pose, geradezu Beredsamkeit ewigen Problemen den Hals brach, wo der Zigarettendampf über den Häuptern verzückter Jünglinge sich bis zur Gloriole verdichtete.

 

In der Regel wurde dann einer von diesen Zaungästen der Bohème für den betreffenden Abend zum Mäzenas ernannt und hatte die Ehre, für die anwesenden Genies die Zechschuld zu begleichen. Bei Neulingen, die mit den Gepflogenheiten des Kreises noch nicht genügend vertraut waren, ergaben sich zuweilen unliebsame Widerstände, die ebenso schnell wie gebieterisch beseitigt wurden. Ich erinnere mich bei dieser Gelegenheit an eine hübsche Kaffeehausszene, bei welcher Moissi, der immer bei gesegnetem Appetite war, sich eben eine Portion delikaten Schinkens genehmigte. Ihm gegenüber saß ein schüchterner junger Mann, der schöngeistige Interessen vorsichtig hinter einem gepflegten Aeußern versteckte. Moissi, der vielleicht gerade deswegen vielverheißende Finanzkräfte in ihm vermutete, unterhielt den Korviten in verbindlicher Form mit vergleichenden Betrachtungen über Lebensmittelpreise. „Für diesen Schinken, den ich da esse,“ – dozierte er freundlich – „zahlen Sie zum Beispiel – – –“ – „Ich?!“ – protestierte der Angestrudelte mit erschrockener Abwehr und sein Gesicht gab so deutlich einer plötzlichen Besorgnis Ausdruck, daß die Tischrunde prompt in ein amüsiertes Gejohle ausbrach. Moissis sprachkünstlerischer Versuchsballon wurde nachmals noch öfter belacht; ob der geängstigte Kavalier damals den Schinken wirklich berappte, ist mir seither allerdings aus dem Gedächtnis geraten.

 

Mit Gustav Meyrink, der damals noch sein Wechselstubengeschäft in der Prager Neustadt betrieb, mit Franz Zavřel und seinem phantastischen Anhang liefen wir später eines Tages urplötzlich im Hafen des Okkultismus ein. Für unsere geistige Verfassung, die in den weglosen Irrgründen vorhergegangener Jahre ziemlich bedenklich verbummelte, war dieser Seitensprung ins Reich der Grenzwissenschaften eine willkommene Anregung. Im eleganten Junggesellenheim Zavřels, der mit Schnäpsen und Zigaretten immer reichlich versorgt war, gab es jetzt endlose, bis zum Morgengrauen währende Geisterbeschwörungen, Haschischséancen und magischen Hokuspokus, in dem unser betriebsamer Hauswirt zuweilen wirkliche Hexen beisteuerte, „mediumistische“ Kellnerinnen und Nähmamsellen; die sich vom Tischrücken im Finstern besonders pikante Episoden versprachen.

 

Mit dem Abgang Meyrinks und Zavřels nach ihren neuen Wirkungskreisen zerstob der Gespensterspuk, der trotz der methodischen Hartnäckigkeit der Beteiligten keine greifbaren Resultate gezeitigt hatte. Der ziellose Hedonismus gewann wieder die Oberhand. Egon Erwin Kisch räuberte in den Spelunken der Halbwelt, Ferdinand Onno, der jugendschöne Schauspieler, der nun schon seit Jahren am Wiener Volkstheater wirkt, ließ sein schwermütiges Temperament im Grundwasser unserer Freudigkeit treiben und war beim Pokulieren und Unfugstiften einer der Ueberschäumendsten. Ich denke noch jetzt mit großem Vergnügen an die hurtig improvisierten Vorstellungen der „Räuber“, die wir zu später Nachtstunde einem Publikum verschlafener Kaffeehausgäste zum Besten gaben und die die Begabung Onnos für die Regie der Groteske reizvoll illustrierten. Max Oppenheimer, unser expressionistischer Gelbschnabel, gab mit hingebungsvollem Gemauschel den Spiegelberg. Amalia, die [er] in den Niederungen d[e]s Prager Nachtlebens jeweilig entdeckte, beanspruchte fünf Gulden als Spielhonorar.

 

Die stilvoll verdunkelte Weinkneipe „beim Dallago“ am Wenzelsplatze war in der Folge auch öfter Zeugin politischer Verbrüderungen. Tschechische Literaten, Maler und Theaterleute saßen in dem engen Raume friedlich auf derselben Bank mit ihren deutschen Kunstkollegen und vertrugen sich ausgezeichnet. Der tschechische Dichter Hladík, der Kabarettkönig Hašler, der jüngst verstorbene tschechische Erzähler Jan Osten, der liebenswürdige Khol, der gegenwärtige Dramaturg des Nationaltheaters, gehörten zu den beliebtesten Stammgästen des schönen Lokals, dem der Krieg, wie so mancher andern Idylle, ein hastiges Ende bereitete. Von der Bohème, deren Nachfahren in den letzten Friedensjahren bei Vater Dallago ihren vereinsamten Schoppen tranken, ist nicht mehr viel übrig geblieben. Die neue Generation, vom Zeitgeist zum Ernste erzogen, steht mit beiden Füßen in einem Leben, dem spielerischer Ueberschwang ebenso fremd bleiben müßte wie ihrer Kunst. Franz Werfel und sein[e] „Bande“, wie der Kaffeehausjargon seine zahlreichen Mitläufer bezeichnete, machte mit siegreichem Temperament kurz vor dem Kriege noch einmal die Nächte rebellisch. Mit ihm ist der Prager Bohème der letzte nachtfrohe Bekenner entschwunden; an den weinfeuchten Tischen, die vormals ihre unbestrittene Domäne bildeten, sitzen die Schieber und ihre Kokotten.

 


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