Es schreibt: Jan Budňák

(Echos, 9. 11. 2015)

Über den Kanon

 

Die zweisprachige, in einem deutschen Original- und einem tschechischen Übersetzungsband herausgegebene Anthologie der deutschmährischen Literatur (Hgg. Lukáš Motyčka a Barbora Veselá, UP Olomouc 2014) ist eine weitere Veröffentlichung der Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur am Lehrstuhl für Germanistik der Philosophischen Fakultät der Palacký-Universität Olmütz. Die Arbeitsstelle selbst braucht nach über fünfzehn Jahren reger Tätigkeit wohl nicht mehr eigens vorgestellt zu werden; ihr Anteil an der Resuszitation, Rekonvaleszenz und Renässanz nicht nur der deutschmährischen Literatur, sondern auch der deutschen Literatur aus Prag bzw. Böhmen ist hinlänglich bekannt. In den letzten Jahren zielt die Arbeitsstelle unter der Leitung von Lukáš Motyčka mit ihrer Aktivität verstärkt auf eine breitere Leserschaft ab, und zwar auch auf die tschechische (vgl. die zweisprachige Auswahl aus dem Werk von Roman Karl Scholz, die kürzlich veröffentlichten tschechischen Übersetzungen von Erzählungen E. Schicks und K. H. Strobls oder die ansehnliche Reihe literarischer Rundfunksendungen). Mit dieser Anthologie eröffnet sie die Frage nach der Arbeit am Kanon der deutschmährischen Literatur. Für den Hauptverdienst der Anthologie halte ich, dass sie die deutschmährische Literatur weder ‚ethnologisch‘ als Texte über Menschen und Landschaft, noch literaturhistorisch – „Der Autor und seine Zeit (in Mähren)“ – präsentiert, sondern einen selbstbewussten literarisch-ästhetischen Weg zur Erkundung ihres Gegenstandes ein- und vorschlägt. 

 

Die HerausgeberInnen der Anthologie sind sich wohl bewusst, dass sie mit diesem Buch Neuland betreten, dessen Koordinaten sie in der Einleitung durch Überlegungen über das Wesen der Anthologie als literarischer Gattung explizit bestimmen. Gleich zu Beginn nehmen sie den potentiell vorschnellen RezensentInnen und LeserInnen elegant den Wind aus den Segeln („Nichts ist einfacher für einen Rezensenten, als seine treffliche Kenntnis in Sachen Literatur dadurch zu belegen, dass er die Unkenntnis des Anthologisten bloßstellt durch den Nachweis von unentschuldbaren Lücken, von unverzeihlichen Missgriffen in der Auswahl der versammelten Texte oder Autoren“, lautet ein Teil des Mottos von Dietger Pforte) und fordern sie dadurch vor allem zum Nachdenken über die Intentionalität der hier getroffenen Auswahl auf, die allerdings in keiner Hinsicht zum „Beweismaterial“ degradiert werden soll (S. 10).

 

Welche Auswahlkriterien kommen hier also zur Anwendung? Die Anthologie umfasst 34 kürzere Texte von 27 AutorInnen. Dieser Umfang sichert ihr den gewünschten „Repräsentationsstatus“ (S. 15). Repräsentativität wird auch hinsichtlich der literarischen Gattungen angestrebt. Alle ausgewählten Texte sind Prosatexte, die aber ein breites Gattungsspektrum abdecken: Es handelt sich z. B. um Reisereportagen (Karl Wilhelm Fritsch), autobiographische Berichte (Jakob Julius David), Aphorismen (Marie Knitschke), Anekdoten (Eduard Kulke) oder Essays (Robert Musil). Die meisten Texte sind kürzere Prosaskizzen, Erzählungen und Novellen. Die HerausgeberInnen schränken die Auswahl „aus praktischen Gründen“ (S. 17) auf Texte aus dem 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein. Darüber hinaus wurden in die Anthologie nur bisher noch nicht übersetzte Werke aufgenommen. Das ist, in Kombination mit dem primär ästhetischen Anspruch der Anthologie, die außerdem einen „nicht selbstverständlichen Gegenstand“ (Ingeborg Fiala-Fürst) vorstelle, sicherlich eine kühne Strategie, die jedoch (zumindest fürs Fachpublikum) auch sehr wirksam ist. Sie wirft allerdings auch die Frage auf, ob Anthologien gänzlich an kanonischen Texten vorbei konzipiert werden können. Durchaus, lautet die hier vorgelegte Antwort, nämlich als Anthologien „unter dem Kanon“, als Archäologie neuer Namen, und zugleich „über dem Kanon“, als Freilegung neuer, vielleicht ästhetisch gehaltvoller Dimensionen bekannter Namen. Die meisten Texte stammen indes aus der frühen Moderne der Jahrhundertwende und der klassischen Moderne der Zwischenkriegszeit, wodurch auch die von der Forschung gesetzten Akzente bestätigt werden. 

 

Die zweite Gruppe der Auswahlkriterien, die der Anthologie zugrunde liegen, lässt sich also auf die Absicht der HerausgeberInnen zurückführen, eingefahrene Muster in der Wahrnehmung der deutschmährischen Literatur zu ignorieren. Zum Beispiel vernachlässigen sie konsequent den Bekanntheitsgrad des jeweiligen Autors bzw. der jeweiligen Autorin. In der Anthologie sind somit die bekannten AutorInnen des „mährischen Triumvirats“ aus der Zeit um 1900 (Ebner-Eschenbach, Saar, David) oder der weltberühmte Robert Musil neben Eduard Kulke, dem Autor von Ghettogeschichten aus Nikolsburg, zu finden. Die Anthologie beinhaltet ferner auch Texte von AutorInnen, die deutlich politisch links (Sommer) oder umgekehrt „national oder nationalistisch“ gesinnt sind (Stauf von der March) bzw. sogar solche, die sich im Sinne des NS-Regimes betätigt haben (Strobl). Dadurch korrigieren sie die häufige „Exkommunikation derjenigen Autoren aus dem Reich der sog. schönen Literatur, die sich mit dem totalitären nationalsozialistischen Regime einließen oder sogar als dessen aktive Anhänger auftraten“ (S. 16). Die HerausgeberInnen erklären diese Entscheidung überzeugend als Kritik an der Tendenz, „das Werk eines Autors ausschließlich durch das generalisierende Prisma einer politischen Doktrin einzuschätzen, mit der der Dichter in Berührung kam“ (Ebd.).

 

Die Gattungsverschiedenheit der ausgewählten Texte, die Nebeneinanderstellung kanonischer und unbekannter AutorInnen oder die bedacht gewählte Vertretung der einzelnen literaturhistorischen Epochen des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind für die HerausgeberInnen der Anthologie keine unzusammenhängenden Parameter. Diese Teilaspekte sind vielmehr vom Hauptgestaltungskriterium der Anthologie abgeleitet, das durch das „Kriterium der literarischen Qualität, der Vielschichtigkeit der Texte“ (S. 13) gegeben ist. Diese lakonische Formulierung mag vielleicht für tschechische GermanistInnen nicht überraschend sein (obgleich auch dies wohl nicht en bloc behauptet werden kann); für die meisten anderen LeserInnen stellt sie aber auf jeden Fall eine Art Denkanstoß dar. Bis zu welchem Grade sie sich mit dieser Formulierung identifizieren können, ist eine andere Frage. Klar ist allerdings, dass wir hier Zeugen eines Gründungsaktes sind, mit dem die deutschmährische Literatur, die noch heute pauschal als ‚Provinzliteratur‘ abgewertet und durch ideologische Label etikettiert wird, als ästhetischer Gegenstand konstituiert wird, der Anspruch auf das Interesse der tschechischen Öffentlichkeit erheben kann. Ich will hinzufügen, dass es mir bei der Lektüre der in die Anthologie aufgenommenen Texte schwerfällt, diesen Gründungsakt lediglich als eine Behauptung herunterzuspielen: So erreichen z. B. die expressionistischen Texte von Karl Brand und Elisabeth Janstein – einmal durch unterbrochene Aufschreie, einmal durch stille, aber nicht weniger aufwühlende Bilder – eine hohe künstlerische Intensität, wobei der allegorische, aktivistische Expressionismus der Erzählung von Leopold Rochowanski (Wiewennja) die Ausdrucksvielfalt ergänzt, die sich in dieser Richtung unter den deutschmährischen AutorInnen ausgebildet hat. Ähnliche Belege für die Berechtigung ihrer ästhetischen Kriterien bietet die Anthologie in Fülle. Es genügt z. B. ein Blick auf die aufgenommenen Texte des ‚mährischen Realismus‘ oder des Naturalismus.

 

Zielt das Auswahlkriterium der literarisch-ästhetischen Qualität, nach der sich die Anthologie richtet, eher auf eine (breitere) Leserschaft ab, ist die Anthologie hinsichtlich der Arbeit am Kanon der deutschmährischen Literatur auch für Insider anregend und innovativ. Deutlich tritt die Bestrebung der HerausgeberInnen um eine Kanonerweiterung im Falle der bekannten AutorInnen hervor, und zwar um ihre ‚nicht-mährischen‘ Texte. Mährische AutorInnen werden hier also nicht als ‚Autoren mährischer Themen‘ repräsentiert, sondern in erster Linie als eigenständige künstlerische Persönlichkeiten. Dies gilt beispielsweise für Jakob Julius David, der hierzulande fast ausschließlich als Autor von mährischen Dorfgeschichten (auch analytisch) behandelt wird. In der Anthologie ist er dagegen mit einem seiner letzten Texte (Halluzinationen) vertreten, in dem mit überwältigender Sachlichkeit die unmittelbaren Wahrnehmungen und Reflexionen des an Tuberkulose sterbenden Schriftstellers aufgezeichnet sind. Eine ähnliche Tendenz lässt sich auch bei der Textauswahl von Ferdinand von Saar (Dissonanzen) oder Ernst Wolfgang Freißler (Kitty) erkennen. Das heißt aber selbstverständlich nicht, dass in der Anthologie die mährische Thematik ganz übergangen würde (vgl. die Texte von Fritsch, Kulke, Stauf von der March, Spunda).    

 

Je präsenter die HerausgeberInnen der Anthologie bei der Auswahl von AutorInnen und deren In-Szene-Setzung durch die getroffene Textauswahl sind, desto auffälliger ist ihr Verzicht auf die ‚Regie‘ des Bandes, auf eine bestimmte Anordnung oder Gruppierung der Texte. Die Anthologie ist – ohne dass dies im Vorwort angesprochen würde – weder chronologisch (Geburts-, Veröffentlichungsdaten) noch im weiten Sinne kulturhistorisch (Epochen, Gattungen) oder thematisch (etwa ‚Mensch und Landschaft‘, ‚Mit- und Nebeneinanderleben‘) gegliedert. Das einzige Gliederungskriterium ist die rein alphabetische Anordnung der Texte nach dem Namen der AutorInnen. Dieses ‚Lockern der Zügel‘ wirkt sich auf Einiges positiv aus, provoziert aber auch mindestens die Frage nach der Kohärenz des Gegenstandes der Anthologie, nämlich der deutschmährischen Literatur. Diese wird hier, im Einklang mit weiteren Arbeiten der Olmützer Arbeitsstelle, als die Summe von AutorInnen gesehen, die „entweder in Mähren geboren wurden oder einen starken literarischen Bezug zu diesem Territorium besitzen“ (S. 10), der in der Regel von einem längeren Aufenthalt in Mähren herrührt. Diese Frage stellt sich dringend bereits bei dem Autor, durch den die Anthologie aufgrund der alphabetischen Anordnung eröffnet wird, nämlich bei dem expressionistischen Dichter und Prosaisten Karl Brand (1895–1917). Brand wurde in Witkowitz geboren, seine Familie zog jedoch schon 1896 (S. 21) nach Prag. Dort verbrachte Brand den größten Teil seines kurzen Lebens. Die Anthologie sagt also – meines Erachtens realistisch –, dass ihr Gegenstand ein heuristischer (Krappmann) ist und zu einer ‚harten‘ Gliederung oder Abgrenzung nicht taugt. Der Akzent wird auf die künstlerische Individualität der AutorInnen verschoben, die dann jedoch eher ‚Autoren aus Mähren‘ als ‚mährische Autoren‘ sind.

 

Der Kanon einer bestimmten Literatur kann nicht ohne Berücksichtigung der LeserInnengruppe beschrieben werden, für die er gilt oder gestaltet wird. Die Olmützer Anthologie der deutschmährischen Literatur ist ein Buch, das – je nach Rezipientengruppe – den Kanon dieser Literatur begründen, überschreiben oder differenzieren kann. Auf alle Fälle gilt aber, dass dies bei dem hier besprochenen Buch mit viel literarischem Wissen und Geschmack getan wurde, dass nämlich der literarische Gegenstand immer primär als ein künstlerisches Objekt erscheint.


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