Es schreibt: Ladislav Futtera

(26. 10. 2015)

Im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften erscheint demnächst der letzte Band einer umfangreichen kommentierten Bibliografie mit dem Titel Die böhmischen Länder in den Wiener Zeitschriften und Almanachen des Vormärz. Autorin des mehrbändigen Werks (welches im Rahmen des bereits in den 1980er Jahren begonnenen monumentalen Projekts „Wiener Vormärz-Slavica“ entstand) ist Gertraud Marinelli-König vom Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. War der erste, 2011 veröffentlichte Band auf Literatur ausgerichtet, so folgten 2013 die Bereiche Sprachwissenschaft, Philosophie, Geschichtsschreibung und Bildungseinrichtungen und im darauffolgenden Jahr ein Band zum Thema Kunst. Der für dieses Jahr angekündigte vierte und letzte Teil wird Religion, Recht, Landeskunde, politische Ökonomie und Naturwissenschaften zum Gegenstand haben.

 

Die Arbeit basiert auf ausgiebigen und gründlichen Recherchen in Wiener Zeitschriften der Vormärzzeit, und zwar sowohl in Fachperiodika als auch in Zeitschriften für ein breiteres Publikum, wobei die Vormärzzeit hier nicht erst mit dem Wiener Kongress beginnt, sondern – was vor allem in Bezug auf die böhmischen Länder zu begrüßen ist – bereits mit dem Jahr 1805. Berücksichtigt wird daher auch die Spätphase der napoleonischen Invasion, die im mitteleuropäischen Raum (quasi als Verteidigungsmechanismus) ein erhöhtes Interesse an den einzelnen nationalen Kulturen, Literaturen und Sprachen hervorrief. Die Bände enthalten nicht nur eine Auflistung grundlegender bibliografischer Daten zu den nach Themenkreisen geordneten Zeitschriftenartikeln, sondern zumeist auch ein kurzes Regest, mitunter sogar ein Zitat ausgewählter Passagen aus dem jeweiligen Artikel. In gewissem Maße ist die Arbeit daher auch als Quellenedition verwendbar.

 

Obgleich das rezensierte Werk Teil eines primär slawistisch ausgerichteten Projekts ist, sind sein erklärter Forschungsgegenstand die geografisch definierten böhmischen Länder, aufgefasst als heterogener Raum, in dem tschechische, deutsche und jüdische Traditionen einander durchdringen (Bd. I, S. VIII). Berücksichtigt wird somit auch die Reflexion des deutschsprachigen Schaffens. Die Arbeit bietet daher ein breites Anwendungsspektrum, nicht nur für die bohemistische, sondern auch für die germanistisch ausgerichtete Forschung. Und auch (Kultur-) Historiker kommen auf ihre Kosten: Aus der Menge zusammengetragener Materialien kann man sich ein Bild von den Kontakten zwischen der Hauptstadt und einem der Teile der Habsburgermonarchie machen.

 

Sehr leserfreundlich ist die Veröffentlichung von Teilregistern zu den einzelnen Bänden auf den Webseiten der Publikation (ein Gesamtregister in gedruckter Form wird erst im letzten Band erscheinen). Der vielleicht einzige Vorwurf, den man der sonst in jeder Hinsicht nützlichen Arbeit machen könnte, ist nämlich eine gewisse Zersplitterung thematisch verwandten Materials. Dieses ist zuweilen auf verschiedene Kapitel eines Bandes verteilt (so enthält z. B. das Kapitel Böhmische Stoffe nur Rezensionen zu Werken von nicht aus den böhmischen Ländern stammenden Autoren, böhmische Stoffe in Werken einheimischer Autoren sind im Kapitel Nachrichten über Schriftsteller zu suchen), mitunter ist es auch quer über mehrere Bände hinweg aufgefächert (Franz Grillparzer und seiner Bearbeitung böhmischer Stoffe ist ein separater Artikel im ersten Band gewidmet, weitere Passagen sind ihm am Ende des dritten Bandes in einem Kapitel zum Theater eingeräumt; in ähnlicher Weise führt der zweite Band Artikel über historiografische Arbeiten zur Landesgeschichte an, während die Geschichte einzelner Regionen, Städte etc. erst in Band vier Berücksichtigung findet). In Anbetracht des wirklich umfangreichen Materials, das hier zusammengetragen wurde, ist eine solche Gliederung verständlich. Dennoch schiene es mir zur Orientierung des Lesers förderlicher, das Material weitestgehend in Form eines Lexikons anzuordnen (wie z. B. im umfangreichsten Kapitel des ersten Bandes, das in alphabetischer Reihenfolge Artikel zu einzelnen Schriftstellern aus den böhmischen Ländern enthält) statt in zahlreichen thematisch eng definierten Subkapiteln. So ist zum Beispiel das Kapitel zur Geschichtsschreibung in die Teilgebiete Quellen, allgemeine und spezielle Geschichte, allgemeine Historiografie, Archäologie und Numismatik unterteilt, gesondert behandelt werden auch bestimmte Themen der böhmischen Geschichte (Herrscher, Adel, Geschichte der Juden, aber auch der Hussitismus, der Dreißigjährige Krieg u. a.). Die Namen einiger Historiker (z. B. Ignaz Cornova oder František Palacký) sind in mehreren Kapiteln angeführt, am Anfang eines Subkapitels zu einzelnen Themen der böhmischen Geschichte wird dann jedoch ausdrücklich angemerkt, dass Verweise auf bestimmte Werke, die thematisch diesem Kapitel zuzuordnen wären, bereits in anderen Kapiteln zu finden sind.

 

Die Arbeit gibt unter einem bislang kaum beachteten Aspekt Einblick in die Zeit der Verfeinerung und allmählichen Emanzipation der einzelnen Nationalkulturen, die jedoch im Vielvölkerstaat der Habsburgermonarchie bis dahin nicht abgegrenzt nebeneinanderstanden, sondern durchlässig füreinander waren. Aus den Quellen wird deutlich, dass es zwischen Wien und den böhmischen Ländern rege kulturelle Kontakte gab: Die Wiener Zeitschriften nahmen unter anderem regelmäßig Notiz vom Programm der Prager Theater und veröffentlichten auch Rezensionen zu tschechischsprachigen Aufführungen. Und neben dem Interesse an literarischen Aktivitäten reagierte die Wiener Presse auch auf Publikationen zur bohemistischen Sprachwissenschaft. Gleiches gilt in Bezug auf die kulturelle Durchdringung der beiden in Böhmen beheimateten Landessprachen. Zahlreiche Artikel stammen von Autoren aus den böhmischen Ländern, die über die Erfolge einer gesamtböhmischen (Landes-) Kultur berichten. So schließt z. B. Uffo Horn, der im März 1838 den ersten Band von Palackýs Geschichte von Böhmen rezensierte, seine Beurteilung mit dem begeisterten Ausruf: „Der Lohn, den die Ehrenmänner Palacky, Safarcik, Jungmann u. A. zu hoffen haben, ist die freudige Anerkennung der Mit- und Nachwelt – möge ihnen diese von Allen so treu und lauter zu Theil werden, wie von mir, dessen Stolz es ist, ein Böhme zu sein!“ (II, S. 133). Der These Moritz Csákys, der Mitteleuropa als „historischen Kommunikationsraum“ (I, S. XIII) bezeichnet, kann somit sicherlich zugestimmt werden.

 

Rein quantitativ lässt sich sagen, dass die Aufmerksamkeit der Wiener Zeitschriften – verständlicherweise – vornehmlich deutschsprachigen Autoren galt. So wurden z. B. Moritz Hartmann mehr Artikel gewidmet als Josef Kajetán Tyl, Karl Egon Ebert mehr als Boleslav Jablonský etc. Doch auch das tschechischsprachige Schaffen blieb nicht unbeachtet und wurde größtenteils mit Sympathie bedacht. So findet man hier z. B. eine der warmherzigsten Reaktionen auf Máchas Máj. Im Unterschied zu der mehrheitlich vorsichtigen bis ablehnenden tschechischen Resonanz bezeichnet der Rezensent der Zeitschrift Oesterreichisches Morgenblatt in der Ausgabe vom 22. Juni 1836 das Poem als eine „bisher noch unbekannte Blume, die ein angehender Literator im gegenwärtigen Jahre seiner vaterländischen Flora schenkte, und deren Duft sich weithin verbreiten möge“ (I, S. 380). Die Wiener Publizistik vertrat die Idee eines einheitlichen Vielvölkerstaates, der sich den separatistischen Tendenzen in den einzelnen Ländern des Staatengebildes entgegenstellte, gleichzeitig machte sie sich jedoch auch die kulturellen Unterschiede zwischen den einzelnen Staatsgebilden bewusst und begrüßte – allerdings im Bewusstsein der eigenen Übermacht – den kulturellen Fortschritt in den Randgebieten der Monarchie. Moritz Csáky spricht direkt von einer „koloniale[n] Attitüde des Zentrums der Peripherie gegenüber“ (III, S. 8). Bereits der Rezensent von Máj würdigte Máchas Werk als Beispiel für das Wirken einer „slawischen Muse“ (I, S. 380). Und Verständnis wurde auch den loyalen Äußerungen des böhmischen Landespatriotismus zuteil. Großer Aufmerksamkeit erfreute sich Anton Veiths Projekt zur Errichtung eines Slavín – eines „große[n] böhmische[n] National-Denkmal[s]“ (III, S. 314) bei Liběchov, wo Skulpturen der Könige Přemysl Otakar II., Jiří von Podiebrad, aber auch Rudolfs II. aus dem Hause Habsburg in einer Reihe nebeneinander stehen sollten, wobei „Huß und Zizka […] vorerst einer spätern Zeit vorbehalten“ seien (III, S. 314). Interessant zu beobachten sind jedoch auch die Unterschiede zwischen den böhmischen Ländern und Wien: Während die Aufführung von Franz Grillparzers Drama König Ottokars Glück und Ende in Böhmen einen Sturm der Entrüstung hervorrief, belegen Auszüge aus Rezensionen in überzeugender Weise, dass das Stück vom Wiener Publikum begeistert aufgenommen wurde (III, S. 418–421).

 

Bereits diese wenigen Beispiele illustrieren das umfassende Potenzial der vorgestellten Materialsammlung. Die breit und interdisziplinär angelegte Arbeit ist in der Forschung zu den böhmischen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielseitig anwendbar. Die zusammengetragenen Materialien zeugen insbesondere von der Stellung der tschechisch- wie deutschsprachigen Kultur der böhmischen Länder innerhalb der Habsburgermonarchie. Anhand dieses Materials ist es möglich, ein weitaus plastischeres Bild der tschechischen Nationalen Wiedergeburt zu zeichnen und auf bislang meist unbeachtete Quellen zurückzugreifen.


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