Es schreibt: Michal Topor

(Echos, 12. 10. 2015)

Der Sammelband Sprache, Gesellschaft und Nation in Ostmitteleuropa (Hg. Klaas-Hinrich Ehlers, Marek Nekula, Martina Niedhammer u. Hermann Scheuringer, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2014, Reihe Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum, Bd. 35) trägt Texte zusammen, die aus einer im November 2012 abgehaltenen Tagung hervorgegangen sind. Dem allgemeinen, im Titel nur geographisch auf das Gebiet des östlichen Teils Mitteleuropas abgegrenzten Thema wird die tragende Dialektik durch den Untertitel (Institutionalisierung und Alltagspraxis) gegeben: die Sprache, bzw. Sprachsituation und -praxis, werden beobachtet als Gegenstand ideell und politisch motivierter amtlicher oder anderer Pläne und Interventionen, mutmaßlich optimierender, kultivierender oder standardisierender Reglementierungen. Nicht nur einmal soll die Sprache als ein Element der lebendigen Rede aufgefasst werden, das zwar formbar sei, dennoch gleichzeitig mehrschichtig, schwer zu kontrollieren, die Sprache als eine Linie bestimmter Formen des (Miss-)Verständnisses, des „Berührens“ und „Auseinandersetzens“. Der im Vorwort postulierte methodologische Rahmen ist vorhersehbar vor allem an die Erkenntnisse der Soziolinguistik und historischer Überlegungen zu verschiedenen Arten der Nationenbildung gebunden.

 

Marek Nekula konzentriert sich in seiner Studie, die den der „Sprachpolitik“ im Umfeld ausgewählter Organisationen gewidmeten Teil einleitet, auf den durch die Satzung und Praxis vehement einsprachigen, nämlich tschechischen Verein „Svatobor“, gegründet 1862. Mitgliedschaft und Förderung wurde nur tschechischen Schriftstellern“ zuteil, „die für den Druck richtig tschechisch schreiben oder schrieben“ (dieser Gedanke, der es ermöglichte, aus der Qualitätsbewertung der Sprache eines Schriftstellers ein Instrument der Verherrlichung oder Schmähung zu machen, wurde später, wie Nekula des weiteren zeigt, von Václav Ertl in der Figur des „guten“, vorbildlichen Autors ausgearbeitet). Sowohl die ausschließlich auf Deutsch schreibenden Literaten als auch die, die auf Tschechisch und Deutsch publizierten, blieben im Abseits: Im Juni 1886 wurde z. B. ein Antrag von Karl Müller abgelehnt, der damals an einer Übersetzung von Máchas Máj ins Deutsche arbeitete (herausgegeben 1882), Nekula weist weiter auch auf den Fall Siegfried Kapper hin. Es wäre sicher nützlich, diese und auch andere Beispiele weiter zu beobachten, ihre Resonanz in der zeitgenössischen Presse und privaten Quellen aufzuspüren und einen Einblick zu gewinnen, wie diese und andere Vorfälle des Ausschlusses damals im tschechisch- und auch deutschsprachigen Umfeld verstanden wurden; besondere Aufmerksamkeit sollte dabei beispielsweise Josef Jireček gewidmet werden – dem Vorsitzenden von „Svatobor“ in den Jahren 1875–1888 und spätestens ab 1850 auch Vertreter der niedrigeren und höheren Ebenen der Wiener Verwaltung.

 

Der Herausbildung der Sprachpraxis im Rahmen ausgewählter Institutionen widmen sich im Weiteren Martina Niedhammer, Jitka Jonová, Tamara Scheer und Mirek Němec; die Bereiche, die die Autoren in den Blick nehmen, reichen dabei (in ihrer symbolischen wie praktischen Bedeutung) wesentlich von den Sphären der internen, institutionellen Kommunikation in die breite Gegend des öffentlichen Raums hinaus. M. Niedhammer befasst sich mit den „nationalen Implikationen“ der linguistischen Forschung, die von der programmatisch bilingualen Königlichen böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften unterstützt wurde (mit einem kurzen Ausflug zur Rolle der Organisation im Handschriftenstreit), J. Jonová behandelt den Widerhall nationaler Konflikte in den Debatten innerhalb der katholischen Kirche zu Beginn des 20. Jahrhunderts, T. Scheer umreißt die sprachlichen Verhältnisse in der k. u. k. Armee zwischen 1867 und 1914. Aus einer symbolischen Momentaufnahme aus Weiners Třásničky dějinných dnů [Fransen der Nationalgeschichte] (der tschechische Erzähler in der für die Deutschböhmen so bedrückenden frühen Nachkriegszeit beendet das Gespräch mit seinem Bekannten, einem Deutschen, solidarisch mit einem Abschiedsgruß auf Deutsch) entwickelt M. Němec seine Ausführung zu den politisch-didaktischen Diskussionen, die nach dem Ersten Weltkrieg auf komplizierte Weise – zwischen den Thesen über die Notwendigkeit einer „Entösterreichisierung“ und der Existenz einer großen deutschen Minderheit im gemeinsamen Staat – einen Platz für das Deutsche im System des staatlichen Unterrichts suchten. Im folgenden Teil des Bands erörtert Tilman Berger das „Narrativ“ der tschechischen Wörterbuchtradition, die (angefangen mit Dobrovskýs Schlussfolgerungen) das protestantische Werk, hauptsächlich Komenskýs, in den Mittelpunkt stellt, zu Lasten der Leistungen, die aus den katholischen Kreisen hervorgegangen waren (einer „barocken“ Lexikographie). Nachfolgend untersucht Jan Surman die Besonderheiten der Entwicklung einer tschechischsprachigen naturwissenschaftlichen Terminologie und K. H. Ehlers die ideologischen und geopolitischen Zusammenhänge der deutschen Dialektologie in den 1920er und 1930er Jahren.

 

Im dritten Teil des Bands kommt Václav Petrbok auf das von M. Nekula thematisierte Gebiet zurück; er liest Schauers Essay Unsere zwei Fragen (abgedruckt Ende 1886 in der Wochenschrift Čas [Zeit]) neu, jenen Text, der durch Infragestellung des Tschechischen als Vehikel der nationalen Existenz pathetischen Widerstand hervorrief; Schauer ist für ihn der erste aus einer im Weiteren vorgestellten Reihe von Persönlichkeiten, für die 1860–1890 ein Dasein an der (deutsch-tschechischen) Sprachgrenze typisch war, d. h. von (was die Loyalitäten angeht) mehrdeutigen, oft im tschechischsprachigen Umfeld verschmähten Persönlichkeiten. Frank Henschel skizziert die sprachlichen und nationalen (ungarisch-deutsch-slowakischen) Verhältnisse der letzten Jahrzehnte der Monarchie in Košice (Kaschau), Detlef Brandes behandelt die NS-Sprachenpolitik als Germanisierungsmaßnahme im Protektorat, Frauke Wetzel und Sandra Kreisslová greifen die sprachlichen Konsequenzen der tschechoslowakischen Wirklichkeit nach 1918 auf – den Trend zur „Entdeutschung“ und „Tschechisierung“ von Ortsnamen bzw. die Entwicklung sprachlicher und nationaler Präferenzen unter den Angehörigen der verbliebenen deutschsprachigen Bevölkerung in den Nachkriegsjahrzehnten.

 

Der Schlussteil richtet seine Aufmerksamkeit auf die östlichsten Gebiete des „mitteleuropäischen“ Raums. Georg Melika stellt Transkarpatien als einen sprachlich, ethnisch und daher auch kulturell sehr unterschiedlichen und gleichzeitig verknüpften Ort vor; Herrmann Scheuringer gibt eine Übersicht über die Siedlungsgeschichte von „Karpatenrussland“, worauf er die Stellung des Deutschen und deutscher Schulen in diesem Raum zwischen 1919 und1938 untersucht. Für den gleichen Zeitraum analysiert Nataliya Golovchak das Repertoire und die Wahl von Namen (und ihrer Varianten) in der deutschen Bevölkerung der „Karpato-Ukraine“, mit der Lage der dortigen deutschen Minderheit und der sprachlichen Ausrichtung ihres Lebens befasst sich auch Barbara Neuber, die ihre Sondierung (ähnlich wie Sandra Kreisslová im Falle des tschechoslowakischen Gebiets) bis in die 90er Jahre des 20. Jh. weiterführt. Klaus Buchenauers Aufsatz, in dem die Begriffsbildung der „russinischen“ Identität, bzw. ihrer kulturpolitischen und fachlichen Festigung, spannend dekonstruiert wird, ist ein geeigneter Epilog.


zpět | stáhnout PDF