Es schrieb: Fritz Mauthner

(29. 9. 2015)

Noch im Frühjahr 1876 trat Fritz Mauthner (1849–1923), Schriftsteller und Philosoph aus dem ostböhmischen Hořice (Horschitz), als Repräsentant der Prager Deutschen hervor, d. h. er beteiligte sich auch an ihren Feierlichkeiten. Am 3. April wurde beispielsweise während eines von dem Verein „Concordia“ veranstalteten Festabends im „Deutschen Landestheater“ sein „neues Proverbe dramatique“ Die leidige Geldfrage aufgeführt; Mitte April erklangen im Rahmen eines Auftritts Joseph Lewinskys, eines gastierenden Schauspielers vom Wiener „Hoftheater“, Mauthners Gedichte Der Bursch‘ und die Königstocher sowie Die lustige Dirn. Schon am 1. Juli 1876 erschien als Zeichen bzw. Vorzeichen Mauthners neu errungener territorialer Identität in der Tageszeitung Bohemia sein erster „Berliner Brief“. Trotz der bekannten und oft erinnerten Tatsache, dass Mauthner aus Prag nach Berlin zog(er lebte hier bzw. in Grunewald bei Berlin dann bis 1905), blieb der – wenn auch mit der Zeit seltener werdende – Kontakt, den Mauthner mithilfe dieser in der Zeitung Bohemia abgedruckten „Briefe“ von Juli 1876 bis Januar 1878 schuf und unterhielt, erstaunlicherweise bis jetzt unbeachtet. Wir publizieren hier – auch im Zusammenhang mit dem kommenden Symposium Fritz Mauthner im deutsch-tschechischen Kontext (Ústí nad Labem, 16.–17. 10. 2015) – eben gleich den einleitenden Brief, der besonders bemerkenswert ist, da man an ihm das Eindringen der österreichischen Perspektive in  Mauthners Blick auf die preußische Metropole ablesen kann.

 

mt

 

 

Berliner Briefe

I

 

Wer mit dem löblichen österreichischen Dogma von der einzigen Kaiserstadt an der Donau, mit dem Refrain „’s gibt nur a Kaiserstadt, ’s gibt nur a Wien,“auf den Lippen in Berlin ankommt, der dürfte durch den Anblick der neuen Reichshauptstadt doch ein wenig aus seiner Täuschung über das sogenannte „Kaiserdorf an der Spree“gerissen werden. Freilich darf das Urtheil nicht allzuvorschnell gefällt werden, sonst hätte ein neuer Ankömmling wie der Schreiber dieser Zeilen nach wenigen Stunden seiner Anwesenheit folgendes in sein Tagebuch eintragen müssen: „Berlin ist eine Stadt, in welcher man auf dem Bahnhofe eine halbe Stunde auf eine Droschke warten muß; hierauf bricht ein Platzregen los, und binnen wenigen Minuten stehen ganze Straßen viele Zoll hoch unter Wasser. Nachdem sich dasselbe mehr in die Keller und Souterrains als in die Canäle verlaufen hat, bleibt in den Gassen eine hinreichende Menge zurück, um unter dem Einfluß der wärmenden Sonnenstrahlen die ganze, über dem Häusermeer lagernde Luftschicht mit unsäglichen Düften zu füllen.“ Auch noch den zweiten, den dritten Tag wird wohl der Fremde von diesen ungewohnten Genüssen und manch anderen „berechtigten Eigenthümlichkeiten“ Berlins gepeinigt; doch genügt er nur inzwischen seiner anstrengenden Fremdenpflicht, die Stadt in allen Richtungen mit einem giraffenartig emporgereckten Halse auf der Jagd nach Sehenswerthem zu durchlaufen, dann fordern allmälig die bewaffneten oder unbewaffneten Augen den Dienst des ganzen Menschen, und die beleidigte Nase wird in ihrem schmerzlichen Gefühle der Inferiorität über die fast geblendeten Augen vergessen.

 

Es dürfte nicht sobald eine zweite Stadt geben, welche dem durch ihre unendlichen Straßen eilenden Bürger – hier eilt Alles – eine so lange Reihe bedeutender architektonischer Bilder bieten würde; nicht nur die berühmten, von großen Künstlern entworfenen öffentlichen Gebäude tragen das Zeichen hochgebildeten Geistes, ganze Häuserzeilen in elegantern Quartieren geben Zeugniß von Besitzern, welche ihren Reichthum zu ihrer eigenen Freude, doch unter künstlerischer Leitung zu verwenden verstehen. Es sind keine schablonenhaften Zinspaläste von imponierender Größe und verschwenderischer Decorationspracht, sondern im Gegensatz zum Typus der Wiener Ringstraßen villenartige Familienwohnungen, deren jede einzelne durch eine stylvolle Façade selbstständig schön hervortritt, durch den modernen Uiberfluß an Stylarten den Anblick belebt, und überdies hier in einem Erker, einem Balkon, einem Eckfenster, einem Gartensaal, dort durch einen seltsamen Grundriß, einen originellen Vorgarten und dergleichen dem individuellen Geschmack des financiellen oder intellectuellen Erbauers in geistreichen oder auch nur auffallenden Zügen Rechnung trägt.

 

So macht Berlin schon für den Spaziergänger, und schon bei Tage einen großen Eindruck, und es ist vielleicht vor Allem der tadelsüchtige Berliner selbst, welcher bei Vergleichungen zwischen Berlin und Wien das Fremde über alle Maßen lobt und seine Stadt allzu bereitwillig dem ältern und sehr selbstzufriedenen Wien unterordnet; und diese Nergelsucht, welche den Berliner nicht nur in der Fremde, sondern auch zu Hause nicht zu seinem Vortheile auszeichnet, hat wohl einen Zug ausgeprägt, der freilich geeignet wäre, Wien in weltstädtischer Beziehung als das unerreichte Vorbild Berlins erscheinen zu lassen. Ich meine die ausgesprochene Vorliebe des Berliners für österreichische Gesellschaft, österreichischen Charakter bis herab zu österreichischer Küche, österreichischem Bier. Daß der gebildete Österreicher in der guten Gesellschaft hier gerne gesehen wird, ist freilich für denselben so angenehm und so dankenswerth, daß es unedel wäre, aus der Liebenswürdigkeit des Berliners gegen die Hegemonie Berlins eine Waffe zu schmieden; auch auf die zahlreichen Aufschriften „Wiener Biere“, „Ff. Pilsner Bier“, welche über allen bessern Caféʼs und Restaurantʼs verlockend genug prangen, soll zur Begründung der Behauptung, daß das Wiener Element in Berlin mächtig werde, nicht hingewiesen werden, weil diese Getränke in den seltensten Fällen nur ein natürliches Recht auf Vertretung ihrer angeblichen Heimat haben. Auch Caffee ist zwar ein vollständig materielles Genußmittel, und doch bedeutet es schon ein theilweises Verlassen alter Gewohnheiten, daß das „Wiener Café“ in Berlin den vollständigen Sieg über die angestammte Conditorei davongetragen hat.

 

Das althergebrachte, einheimische Caffeehaus der Berliner ist ein Zwitter zwischen Kneipe und Restaurant; der Ort des Dolce far niente, die Zufluchtstätte für den satten, verdauungs- und zeitungsbedürftigen berlinischen Menschen war bisher die Conditorei, war „Kranzlers Ecke“. Das ist nun anders geworden; das „Wiener Café“ hat sich an allen möglichen Puncten der Stadt etabliert und an den beiden glänzendsten Centren des reichshauptstädtischen, der-Bien-muß-großstädtischen Lebens hat das „Wiener Café“ mehr als das ganze Berlin zu fesseln verstanden, die ganze Welt nämlich und die halbe überdies. In der Kaisergalerie, der sogenannten „Passage“, einem überaus prächtig decorierten Durchhause zwischen Friedrichstraße und Linden, versammelt sich Alles, was sich durch unsern starken Caffee nach angestrengter Thätigkeit laben will; im „Kaiserhof“ aber, dem berühmten Hotel, vereinigt das „Wiener Café“ so vollständig die Crême der Intelligenz Berlinʼs, daß – wie ein malcontenter Vertreter derselben ängstlich mir inʼs Ohr raunte – ein giftmischender Wiener Caffeekoch genügen würde, diese gesammte, unverwüstliche und unsterbliche Intelligenz in einer Stunde zu vernichten.

 

Beinahe ebenso wichtig für die Beherrschung der Geister wie das Caffeehaus ist wohl auch das Theater; und nach dem Wiener Caffee liebt der Berliner die Wiener Kunst, einerlei ob sie sich in Charlotte Wolter oder Josephine Gallmeyer verkörpert. Diese beiden Pole des Wiener Kunsthimmels sind freilich schon wieder fort, ebenso Schweighofer, Swoboda u. s. w., noch immer aber genügt ein Blick auf den Vergnügungsanzeiger, um sich plötzlich nach Österreich versetzt zu glauben. Da gibt es einen großen Raum, in welchem Billionen von Staubtheilchen von Millionen von Gasflammen beleuchtet werden, und der sich darum Stadtpark nennt; in diesem sogenannten Garten feiert alltäglich Johann Strauß eine musikalische Revanche pour Sadowa. Da gibt es ferner einen Entouscas, das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater, dessen Winterbühne die Meininger nach glänzenden Erfolgen eben verlassen haben, während auf der Sommerbühne Fräulein Hermine Meyerhoff die Fahne der Wiener Operette, d. h. die Roben flattern läßt. Marie Geistinger ist nur durch schwere Krankheit verhindert, ihre kühnen Sprünge aus der Posse in die Tragödie von den Berlinern bewundern zu lassen, und das lang erwartete Terzett Lewinsky, Hallenstein und Olga Lewinsky wird nächstens hier im Nationaltheater gastieren.

 

Doch nicht nur der Österreicher im Allgemeinen, auch der unverfälschte Localprager wird vor den Theaterzetteln der Litfaßsäulen angeheimelt. Er sah bis vor wenigen Tagen – jetzt sind die Hoftheater geschlossen – die Namen Oberländer, Vollmer und Hrabowska unter den Mitgliedern des Schauspielhauses, er konnte sich im Wallnertheater an dem goldenen Haar von Frau Schenk-Ullmeyer erfreuen, er durfte im Residenztheater (Director Emil Claar) Frau Claar-Delta applaudieren, wo noch immer, heute zum 67. Male, Arria und Messalina mit vielem Beifall gegeben wird.

 

Von der traurigen Thatsache, daß all diese Genüsse sich in leeren Häusern minder wirkungsvoll verlieren, daß der „geschundene Raubritter“ alles Interesse der oben und auch sonst schon mehrfach erwähnten Berliner Intelligenz verschlingt, hat die „Bohemia“ schon Notiz genommen. Die hiesige Sage meldet, daß Friedrich Gerstäcker der Autor dieses unausdenkbaren Attentats auf die gesunde Vernunft seyn solle; wie dem auch sei, der Enthusiasmus für den „geschundenen Raubritter“ wächst von Tag zu Tage, das polizeiliche Verbot seiner Aufführung am Luisenstädtischen Theater hat lebhafte Bewegung hervorgerufen und so muß diese epidemische Gehirnkrankheit mit derselben Gewissenhaftigkeit wie das Auftreten des Typhus registriert werden. Eigentlich ist es das Publicum, das sich selber bei dem lärmenden Abend durch das tollste Benehmen nach besten Kräften amüsiert; das „Stück“ selbst ist zu witzlos, zu blödsinnig, die beabsichtige Parodie zu veraltet, als daß jemand dieses Zeug an sich anhören könnte, und nur das rohe „Mitspielen“ des Publicums ergötzt, wird jedoch durch den Theaterzettel ausdrücklich provocirt. Hier einige Proben. Kuno der Schreckliche, zubenannt der Tiger, hat unter Gebrülle des Publicums die Bühne verlassen, seine Tochter Adelgunde empfängt die Liebesbetheuerungen Kunibalds von Rosenduft; dieser spricht mit Fistelstimme, von Falsettönen des ganzen Publicums accompagnirt. Adelgunde: „Wo ist mein Taschentuch, daß ich die Freudenthränen trockne!“ Kuno gibt ihr seines. (Das Publicum stößt ein donnerndes: Au! aus.) „Doch nun Geliebter faßt bange Sorge mich. Wie wird mein Vater sich zu unserem Bunde stellen? Deine Abkunft ist noch ein tiefes, schrecklich grausiges Geheimniß. Auch bist du arm wie eine Kirchenmaus und ewig dienstbar seyn ist ja dein Laus (sic!).“ (Das Publicum wiederholt die letzten Verse; einige Ruhestörer sogar nach der Melodie: Eins, zwei, drei, an der Bank vorbei.) Nun erscheint Kunoʼs Vertrauter, Hirsch, im Hintergrunde, und zeigt das Liebespaar dem Kuno, der wüthige Geberden macht, da wird das Publicum eifrig und laute Rufe wie „Ufjepaßt,“ „Sie fassen Euch!“, „Der Kuno ist da!“, „So dreht Euch doch um!“ haben die löbliche Absicht, die Liebenden bei Zeiten zu warnen. Nach dieser tosenden, minutenlangen Unterbrechung der Handlung stürzt Kuno erst vor, das Publicum wimmert noch ein ängstliches Hu!!! und hört wieder ein Weilchen diesem Gallimathias zu. So geht es fort bis unter unerhörtem Zetergeschrei der Zuschauer das Fell des geschundenen Raubritters auf die Bühne gebracht wird.

 

Das Verbot der Polizeibehörde galt natürlich nur dem Benehmen des Publicums und nicht dem „Raubritter“, daß es so weit kommen mußte, daß nun mehre Theater gleichzeitig jeden Abend denselben Wahnsinn bei bescheidenerer Theilnahme der Öffentlichkeit aufführen, das beweist einen Zug von Rohheit in einem großen Theil der hiesigen Bevölkerung, der zu vielem andern stimmt, was vielleicht später einmal gesammelt werden soll. Das lustigste in der ganzen Raubritterhetzʼ– wie man sieht, ist die ganze Sache das, was man in Wien eine „Hetz“ nennt – ist wohl der Theaterzettel des Varieté-Theaters, auf welchem zum Schluße mit fetten Lettern gedruckt steht: „Der Raubritter wird jeden Abend 8½ Uhr frisch geschunden.“

 

Erläuterungen (pk):

• Revanche pour Sadowa – Rache für Sadowa, nämlich für die Schlacht bei Sadowa bzw. Königgrätz in 1866 • Arria und Messalina – Trauerspiel von Adolf Wilbrandt (1837–1911) • der „geschundene Raubritter“– Gustav Kopals (1843–1917) Trauerspiel Der geschundene Raubritter, oder Minne und Hungerthurm, oder das lange verschwiegene und endlich doch an den Tag gekommene Geheimnis

 

Übersetzung der Einleitung: Petra Knápková

 

ANHANG

 

Fritz Mauthner in der Tageszeitung Bohemia (1876–1878)

 

Online zugänglich über http://kramerius.nkp.cz

 

 

F. M.: Berliner Briefe I., Bohemia 49, 1876, Nr. 180, 1. 7., Beilage, S. 1–2.

 

F. M.: Berliner Briefe II., Bohemia 49, 1876, Nr. 188, 9. 7., Beilage, S. 2.

 

F. M.: Berliner Briefe III., Bohemia 49, 1876, Nr. 198, 19. 7., Beilage, S. 1.

 

F. M.: Berliner Briefe IV., Bohemia 49, 1876, Nr. 205, 26. 7., Beilage, S. 3–4.

 

F. M.: Berliner Briefe V., Bohemia 49, 1876, Nr. 216, 6. 8., Beilage, S. 1.

 

F. M.: Berliner Briefe VI., Bohemia 49, 1876, Nr. 232, 22. 8., Beilage, S. 2–3.

 

F. M.: Berliner Briefe VII. Am Sedantage, Bohemia 49, 1876, Nr. 246, 5. 9., Beilage, S. 1.

 

F. M.: Berliner Briefe VIII. Neue Denkmäler, Bohemia 49, 1876, Nr. 253, 12. 9., Beilage, S. 1.

 

F. M.: Berliner Briefe IX., Bohemia 49, 1876, Nr. 271, 30. 9., Beilage, S. 1–2.

 

F. M.: Berliner Briefe X., Bohemia 49, 1876, Nr. 283, 12. 10., Beilage, S. 3–4.

 

F. M.: Berliner Briefe XI., Bohemia 49, 1876, Nr. 309, 7. 11., Beilage, S. 1.

 

F. M.: Berliner Briefe XII., Bohemia 49, 1876, Nr. 324, 22. 11., Beilage, S. 3–4.

 

F. M.: Berliner Brief (Kaiserproclamation von Anton v. Werner. – Humboldt-Denkmäler. – Theater), Bohemia 50, 1877, Nr. 90, 31. 3., Beilage, S. 3.

 

F. M.: Berliner Brief, Bohemia 50, 1877, Nr. 102, 13. 4., Beilage, S. 1–2.

 

F. M.: Ein Künstlerfest in Berlin, Bohemia 50, 1877, Nr. 170, 21. 6., Beilage, S. 1–2.

 

F. M.: Berliner Plaudereien, Bohemia 50, 1877, Nr. 331, 29. 11., Beilage, S. 1.

 

F. M.: Berliner Briefe, Bohemia 51, 1878, Nr. 31, 31. 1., Beilage, S. 1–2.


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