Es schreibt: Manfred Weinberg

(14. 9. 2015)

Die großen Verdienste der von Steffen Höhne, Alice Stašková und Václav Petrbok herausgegebenen Reihe Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert, in der zunächst Bände zu August Sauer, Franz Spina, Vilém Flusser, zu Kafka und Prag sowie dessen Wirkung und Wirkungsverhinderung erschienen sind, sind unbestreitbar. Entsprechendes gilt für den hier zu besprechenden vierten Band der Reihe: Johannes Urizidil (1896–1970). Ein „hinternationaler“ Schriftsteller zwischen Böhmen und New York (Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2013), hrsg. von Steffen Höhne, Klaus Johann und Mirek Němec. Johannes Urzidil ist – anders als Sauer und Spina – noch immer eine ‚bekannte Größe‘ der ‚Prager deutschen Literatur‘. Ernst Schönwiese hat ihn den „letzten großen Erzähler der Prager Schule“ (Literatur in Wien zwischen 1930 und 1980, Wien, München 1980, S. 127–144) genannt – und Ingeborg Fiala-Fürst kolportiert in diesem Band weitere solcher Charakterisierungen: „der große Humanist, der Homo vere humanus, Prags Menschheitsdämmerer, der hinternationale Troubadour des alten Prag“ (S. 489). Diese Zuschreibungen legen nahe, Urzidils Rolle bei der Etablierung und Verfestigung eines Grundverständnisses der ‚Prager deutschen Literatur‘ herauszuarbeiten; erst von daher bekommt dann meines Erachtens auch der Blick auf die Vielfalt des Urzidilschen Schaffens seine Relevanz. Merkwürdigerweise aber bemüht sich der Band kaum um eine kritische Würdigung dieser (eigentlichen) Lebensleistung Urzidils und verliert sich streckenweise in gelegentlich auch überflüssigen Panoramen.

 

Die vom Band ausgeleuchteten Horizonte werden durch die (wenngleich nur im Inhaltsverzeichnis benannten) Rubriken „Geistiges Profil“, „Lyriker und Übersetzer im Umfeld des ‚Prager Kreises‘“, „Politischer Publizist“, „Kunstbetrachter, -historiker und -sammler“, „Literaturhistoriker und Essayist“, „Briefwechsel und Freundschaften im Exil“ sowie „Erzähler im Exil – Böhmen und New York“ angezeigt. Die ‚Weite‘ des Bandes gibt Klaus Johann mit seinem Beitrag unter dem Titel Der verlorene/unverlierbare Johannes Urzidil? Perspektivierende Bemerkungen zur Publikations- und Rezeptionsgeschichte vor, der vor allem Vollständigkeit zu intendieren scheint, wie die zwölfeinhalbseitige (!) Bibliographie zeigt. Es folgen zahlreiche, in solchen Sammelbänden ja beliebte ‚und‘-Beiträge (Isabelle Ruiz: ‚Urzidil und Norbert Elias‘, Kurt F. Strasser: ‚...und Bolzano‘, Ekkehard Haring: und der Prager Kreis, später Monika Tokarzewska: ‚und Günther Anders und Gustaw Herling-Grudziński‘).Unter diesen ragt allerdings der von Tom Kindt und Hans-Harald Müller gemeinsam verfasste Beitrag Urzidil und die Moderne heraus, in dem Urzidils Texte einer „gemäßigteren Moderne“ (S. 122) zugeordnet werden, woran sich künftig anschließen lassen wird. Einen wichtigen Beitrag zur ‚Verortung‘ Urzidils in der Interkulturalität der böhmischen Länder liefert auch Václav Petrboks Aufsatz Johannes Urzidils „Goethe in Böhmen“ im Kontext der tschechoslowakischen Goethe-Feiern 1932.

 

Urzidil war mit Max Brod und schließlich Lenka Reinerová ein spät Zeugnis ablegender Zeitgenosse der ‚Prager deutschen Literatur‘, und er hat so deren Bild mitgeprägt. In Zeiten, in denen sich die Forschung um eine neue Profilierung dieser Literatur bemüht, wäre es somit entscheidend, diese Rolle Urzidils noch einmal zu befragen. In dieser Hinsicht aber ist der Band seltsam aussagelos. So finden sich etwa in Anja Bischofs Beitrag zu diesem Thema, Erinnerung als Konstante in Johannes Urzidils erzählerischem Werk, so erstaunlich präzise Diagnosen wie: „Erinnerung ist bekanntlich ein zentraler Faktor für die Identitätsbildung des Individuums“ (S. 565), was schließlich zur Schlussfolgerung führt: „Johannes Urzidil erinnerte – um seiner selbst willen“ (S. 566). (Vgl. demgegenüber in prägnanter Fokussierung: Bernd Hamachers Aufsatz zu Urzidil in: brücken, N. F., 1–2 [2012], S. 271–279.)

 

Es ist schon bemerkenswert, dass die klarsten Worte, die sich im Band dazu finden, Zitate von Peter Demetz aus dem Jahr 1999 (!) sind. Demetz schrieb unter dem Titel Johannes Urzidil – Lesen/Wiederlesen (in: Aldemar Schiffkorn [Hrsg.]: Böhmen ist überall. Internationales Johannes Urzidil-Symposion, Linz 1999): „[Urzidil] war der letzte der aus dem österreichischen Böhmen herstammenden Landespatrioten, der fortfuhr, den getrennten und mißtrauischen Nationen die Fruchtbarkeit der Symbiose ins Gedächtnis zurückzurufen, und er darf den historischen Anspruch für sich erheben, die verlorene Symbiose in sich noch einmal in aller Reinheit inkarniert zu haben. Die Frage ist nur, ob das alles auch die Zukunft des Schriftstellers Urzidil und seiner Bücher garantieren wird; ich bin [...] eher zu glauben geneigt, daß der nostalgische Blick in die Vergangenheit nicht mehr genügt“ (S. 33f.). Solcher inhaltlichen Rückwärtsgewandtheit stellt Demetz allerdings ihre literarische Form gegenüber: „Die Modernität der Schriften Urzidils liegt an jener fragilen Grenze des Epischen und des Essays, wo er [...] mit Gattungen und Schreibarten spielt und sich auf das offene und verborgene Zitat hinbewegt, das Pastiche, die Parodie, oder gar jene artistische Mimikry, die einem klassischen Vorbild huldigt, wo sie seine Manier nicht nachahmt, sondern in raffinierter Kunst neu erschafft“ (S. 34). Es mag als unangemessen erscheinen, dass hier so ausführlich aus einem Aufsatz von 1999 zitiert wird. Doch erreichen die Beiträge dieses Bandes eben so gut wie nie die Prägnanz (und Fruchtbarkeit) von Demetz’ Diagnose. Es spricht dabei für sich, dass Filip Charvát die Passagen in seinem Beitrag anführt, der allen Ernstes an die Urzidilschen Texte noch einmal die Frage richtet, ob sie „gelungene[] Kunstwerk[e]“ (S. 479) seien, was hinter Demetz’ Diagnose des kalkulierten Genre-Mixes deutlich zurückfällt. Und: Muss man unbedingt Urzidils frühe Lyrik ‚retten‘, wie es in diesem Band Klaus Schenk tut?

 

Man kann die gleiche Diagnose noch einmal hinsichtlich des Titels stellen, in dem sich – was denn sonst? – Urzidils Formel von der ‚Hinternationalität‘ findet. Was eine tatsächlich präzise Auseinandersetzung mit diesem Wort angeht, herrscht allerdings wieder einmal Fehlanzeige. Nicht einmal Gaëlle Vassogne hält diese in ihrem Beitrag Hinternationalismus und Nationalhumanismus für notwendig – und Mirek Němec wiederholt in Purkyně in Böhmen. Zur Entstehung des „Hinternationalismus“ von Johannes Urzidil nur Klaus Johanns (allerdings hinter dessen sonstigen Profilierungen Urzidils zurückbleibende) Charakterisierung, damit sei „die Fähigkeit zum friedlichen Ausbalancieren von nationalen Gegensätzen auf der Basis von Humanität und Toleranz“ (S. 344) gemeint. Um es zumindest anzudeuten: Urzidil schreibt, wie bekannt, zu seiner in Prag verbrachten Kindheit: „er [der Knabe; M.W.] wählte sich seine knäbischen Freunde und Feinde allerwärts, und es war ihm gleichgültig, ob sein Ball durch eine tschechische, deutsche, jüdische oder österreichisch-adlige Fensterscheibe hindurchflog. ‚Ich bin hinternational‘, pflegte er zu sagen. Hinter den Nationen – nicht über- oder unterhalb – ließ sich leben und durch die Gassen und Durchhäuser streichen“ (Prager Triptychon. Erzählungen, München 1960, S. 10f.). Er bringt somit – durch die Absage ans vertikale „über- oder unterhalb“ – nicht nur die kulturelle Vielfalt Prags in ein räumlich horizontales Nebeneinander, sondern etabliert durch das Anfügen nur eines Buchstabens an das gebräuchliche ‚international‘ eine Doppelheit von vordergründiger nationalkultureller Trennung und hintergründiger, so aber grundlegender Gemeinsamkeit. Dabei werden die „Durchhäuser“ zum eigentlichen Insignium Prags und der Prager Stadtraum zu einem (fast) flächendeckenden ‚Zwischenraum‘, den alle Prager als Prager teilten. Das ist bei weitem (auch theoretisch) produktiver als all die Wiederholungen der Standardformeln von der ‚Tripolis Praga‘ und dem dortigen Zusammenleben von Deutschen, Juden und Tschechen.

 

Solche Versäumnisse schmälern die Verdienste dieses Bandes in gar keiner Weise, wobei besonders die von Klaus Johann erstellte „Bibliographie der selbständigen Veröffentlichungen Johannes Urzidils“ herauszuheben ist, die den Band beschließt. Doch während die anderen Bände der Reihe neue Forschungsperspektiven eröffnen, indem sie zu Unrecht vergessene zentrale Prager Intellektuelle in den Blick nehmen oder neue Fragen an Kafkas Werk richten, wirkt dieser Band – gerade wegen seiner ‚Breite‘– eher wie ein Schlusspunkt. Neue Fragen ergeben sich leider kaum, obwohl sie doch Peter Demetz prägnant vorformuliert hatte. Denn aus seiner Diagnose einer inhaltlichen Nostalgie und formalen Modernität folgt zwangsläufig die (über Demetz hinausreichende) Anschlussfrage, ob eine präzise Untersuchung der ‚Form‘ von Urzidils Texten darin nicht doch ein zuletzt angemesseneres, weil gebrocheneres Bild Prags und der ‚Prager deutschen Literatur‘ finden würde, als es die inhaltliche Nostalgie, an die bisher immer nur angeschlossen worden ist, nahelegt. Von daher bekäme dann auch die Erweiterung des Blicks auf ganz andere Facetten des Urzidilschen Schreibens, die als die eigentliche Leistung des Bandes betrachtet werden kann, eine deutlich höhere Aussagekraft.


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