Es schreibt: Martin Vavroušek

(Echos, 31. 8. 2015)

Prager Figurationen jüdischer Moderne (5. 2. – 7. 2. 2015)

 

Im Rahmen des Forschungsverbunds „Prag als Knotenpunkt europäischer Moderne(n)“ und „Prager Moderne(n)“ veranstaltete das Slavische Seminar der Universität Tübingen (Irina Wutsdorff) zusammen mit dem Institut für germanische Studien der Karlsuniversität Prag (Manfred Weinberg, Štěpán Zbytovský) einen Workshop, derden spezifischen Aspekten jüdischer Moderne in Prag, ihrer Verbindung mit dem deutschsprachigen kulturellen Kontext in Tschechien um 1900 und danach, wie auch Analyse und Transfer charakteristischer Stoffe und Motive im tschechoslowakischen Underground und der zeitgenössischen tschechischen Literatur gewidmet war. Es zeichnet sich ein klares Bild des Miteinanders in verschiedenen Konstellationen und Parallelen ab. Eines der Beispiele dafür ist der gemeinsame Bezug zum Ostjudentum, wie es Annette Werberger in ihrem Beitrag Kafka und das Jiddische Theater zeigte. Die vorgetragenen Beiträge werden im kommenden Jahrbuch Brücken (2015) veröffentlicht.

 

Den Workshop eröffnete Andreas Kilcher mit seinem Beitrag Jüdische Moderne in Prag, in dem er das deutschsprachige jüdische Prag um 1900 als formativ-diskursives Narrativ analysierte und zeigte, wie dieses in publizistischen, wissenschaftlichen und literarischen Texten konstruiert wurde. Aus dieser Perspektive sei das jüdische Prag Ergebnis eines Selbstentwurfs, einer Selbstbehauptung, in dem sich Vermischung, Harmonisierung und die Diaspora-Theorie als drei ausschlaggebende Narrative offenbaren.

 

Jindřich Toman zeigte in seinem Beitrag Böhmische Juden als böhmische Juden, dass die Wurzeln verschiedener Positionierungen und Fragen der Loyalitäten jüdischer Akteure im frühen 20. Jahrhundert bis in die erste Hälfte des 19. zurückreichen. Ludwig August Frankl publizierte auf Deutsch das Habsburger Lied (1832) als Ausdruck der Loyalität gegenüber der Habsburger Monarchie, wobei Siegfried Kapper in der auf Tschechisch verfassten Sammlung České listy (Böhmische Blätter, 1846) an ein Miteinander verschiedener ethnischer Gruppen appelliert, womit er ein freies, emanzipiertes Subjekt im modernen Sinne vorweggenommen habe. Václav Petrbok legte in seiner Fallstudie Der andere Kisch am Beispiel von Paul Kisch (1883–1944) dar, wie es aus der heutigen Perspektive problematisch und nahezu unmöglich ist, ein eindeutiges Urteil über Positionierungen deutschnational gesinnter Juden aus der Vorkriegszeit – wie z. B. David Kuh, Bruno Kafka, Alfred Klaar – zu fällen. Den Journalisten Anton Kuh (1890–1941) und seine radikal-kritische Auseinandersetzung mit den Wurzeln des modernen Judentums stellte Walter Schübler vor. Kuh habe in seinen populären, aber kontroversen Stegreifreden sowohl Zionismus als auch Assimilation abgelehnt und neigte selber zur Diaspora-Auffassung von Siegbert Feuchtwanger.

 

Im Rahmen des Workshops wurden auch verschiedene für die Moderne typische Stoffe und Motive thematisiert. Veronika Ambrossetzte sich mit einigen tschechischen Bearbeitungen des Golem-Stoffes auseinander – der durch magische Kräfte, Spaltung des Subjekts und eine Transformation von umgeformtem Stoff in menschenähnliche Wesen charakteristisch ist.

 

Alfrun Kliems analysierte am Beispiel Prags und der Texte von Franz Kafka (Beim Bau der Chinesischen Mauer) und Jáchym Topol (Sestra [Die Schwester] und Anděl [Engel, Exit]) verschiedene territorial-identitäre Erzählfiguren der Ortlosigkeit wie die des Exils, der Diaspora und der Heimat, die sowohl in der Moderne als auch in der Postmoderne vielfach komplex und in positiver Konnotation aktiviert wurden. Weitere enge Verbindungen und kontextuelle Bezüge der zeitgenössischen tschechischen Literatur und des tschechoslowakischen Undergrounds zum deutschsprachigen kulturellen Kontext in Tschechien um 1900 und danach sprach Veronika Tuckerová in The Reception of Kafka and „triple“ Ghetto during Normalization an. Und zwar am Beispiel von Ivan M. Jirous und seiner Underground-Auffassung, wie auch am Beispiel von Filip Topol und seinen Bezügen zur neoromantischen deutschsprachigen Literatur aus Böhmen vom Anfang des 20. Jhs.

 

Von den Autoren erfuhren Max Brod und Richard Weiner eine ausführliche Besprechung. Daniel Weidner (Indifferentismus und kulturelle Differenz) präsentierte Brods Jugendwerk und bot eine Relektüre seiner Konstruktion des „Prager Kreises“an, die maßgeblich durch seine Auseinandersetzung mit Franz Werfel geprägt wurde. Steffen Höhne konzentrierte sich dagegen auf die Beziehung zwischen Zionismus und Brods Romanwerk, die man aus dieser Perspektive als eine Antwort auf die Moderne im Sinne einer existentiellen und nationalen Identitätskrise verstehen könne. Seine Hinwendung zum Zionismus (Essay Heldentum, Christentum, Judentum, 1921) sollte im Kontext des, seit 1880 politisch breit akzeptierten, Antisemitismus wie auch des erfolgreichen Projektes einer „nationalen Wiedergeburt“ der Tschechen betrachtet werden.

 

Katja Wetz analysierte in ihrem Beitrag Synkretismus in Weiners Obnova, auf welche Art und Weise der Autor in seiner Erzählung religiöse, insbesondere christliche und jüdische Motive amalgamiert. Peter Zusi dagegen verfolgte in Weiners Gespenster Parallelen und Bezüge zwischen Freuds Essay Das Unheimliche und den Erzählungen Kostajnik (Weiner) und Eine kaiserliche Botschaft (Kafka).

 

Manfred Weinberg stellte das Konzept und die Zielsetzungen der Kurt-Krolop-Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur vor. Auch wenn die offizielle Eröffnung Ende Mai dieses Jahres in der Prager Botschaft stattfand, ist sie bereits seit geraumer Zeit durch diverse Veröffentlichungen seiner Mitarbeiter (M. Weinberg, Š. Zbytovský, V. Petrbok, J. Hadwiger, M. Tvrdík) tätig. Die Forschungsstelle schließt kritisch an die Liblice-Konferenzen (1963, 1968) an, insbesondere an die Auffassung der „Prager deutschen Literatur“ von Eduard Goldstücker, die in der Forschung bis heute häufig unkritisch übernommen wird. Zu den zentralen Forschungsschwerpunkten der Arbeitsstelle gehören insbesondere Liberalismus, Jung Prag, Franz Kafka aus der Perspektive der Region, Prag zwischen Wien, Berlin und Paris und das kulturelle Konstrukt der Region.

 

Die WorkshopteilnehmerInnen diskutierten diverse Zugänge zu Moderne und Modernität wie auch ihre Definitionen und die damit zusammenhängende Frage, inwieweit man von einer spezifisch jüdischen Moderne in Prag sprechen könne. Der Moderne-Begriff wurde in seiner ganzen Spannweite von der sozial-geschichtlichen Ausprägung bis zur ästhetischen Moderne besprochen. In der Diskussion konstatierte man, dass der Einfluss des technischen, wirtschaftlichen und ökonomischen Aufschwungs in der damaligen Tschechoslowakei auf die tschechische und die jüdisch-deutsche Kultur in Böhmen in der Forschung oft unterschlagen wird. Erst eine möglichst vollständige Rekonstruktion des zeitspezifischen Kontextes, in dem die Akteure agierten, ermögliche es, die Spuren der Denkfiguren, wie auch die Stellungen der Juden zwischen der deutschen und der tschechischen Kultur angemessen beurteilen zu können.

 


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