Es schreibt: Václav Maidl

(Echos, 3. 8. 2015)

Gemeinsam mit dem um einige Jahre älteren Jaroslav Kovář bin ich Teil einer Generation; beide sind wir Absolventen des gleichen – weil damals einzigen – Studiengangs, woraus unsere Grundeinstellung und -orientierung im Bereich der deutschsprachigen Literatur hervorging (ungeachtet der örtlichen Unterschiede im sozialistischen Hochschulwesen sowie individueller Unterschiede). Selbst unser Start in den Beruf war ähnlich: Lag der Fokus der Arbeit, mit der J. Kovář den vor 1989 erteilten (Doktor)Titel „Kandidat der Wissenschaften“ erlangte, auf Krieg und Faschismus in der Literatur der DDR (1987), so schrieb ich in einem weitaus bescheideneren Artikel über die interessantesten Erscheinungen derselben Literatur in den siebziger und achtziger Jahren (1986). Ebenso sind wir Zöglinge des chronologischen, „ganzheitlichen“ Ansatzes der Literaturgeschichte, also übersichtsartiger, ausgeprägt konturierter Vorlesungen von den Anfängen der deutschsprachigen Literatur bis hin zur Gegenwart (in denen allerdings die erwähnten Konturen sich auf natürliche Weise auflösten in einzelne Autorenerscheinungen). Die „übersichtshafte Orientierung“ und deren Transfer an weitere Generationen von Studenten der Germanistik prägte dann auch unsere Lehre. Die Möglichkeit einer anderen Organisation des Germanistikstudiums und die Vorstellung, dass bei einer „günstigen“ Kombination von Seminaren und Vorlesungen die Absolventen unter Umständen während des gesamten Studiums beispielsweise „nichts mit Goethe zu tun“ haben könnten, war für uns schlichtweg undenkbar.

 

Es ist deshalb nicht überraschend, dass Jaroslav Kovář für seine Vorlesung zur deutschen Literaturgeschichte an der Masaryk-Universität Brünn ein Skript herausgegeben hat, Deutschsprachige Literatur seit 1933 bis zur Gegenwart. Autoren und Werke (Masarykova Univerzita, Brno 2014, die Publikation ist auch kostenlos als E-Book einsehbar, z. B. hier), in welchem der chronologische Aspekt bereits im Titel ausgedrückt ist und das auf 70 Seiten in kurzen übersichtlichen Kapiteln den Studenten die jeweiligen für bestimmte Zeitabschnitte charakteristischen Strömungen der deutschsprachigen Literatur näherbringen will (z. B. für die Zeit 1933–45 Entartete Kunst – Blut-und-Boden-Literatur – „innere“ Emigration – Exilliteratur) und sich bemüht, die Unterschiede in der Literatur der einzelnen Länder herauszuarbeiten (Deutschland, Österreich, Schweiz, die Literatur der DDR). Und weil es sich um ein vorrangig für tschechische Studierende bestimmtes Skript handelt, darf ein besonderes Kapitel nicht fehlen: Prager Autoren im Exil. Als Anhang gibt es vier Vorschläge zur Textarbeit im Seminar mit möglichen Fragen zur Interpretation. Literarisch ist hier nur ein Ausschnitt aus Celans Todesfuge, zwei weitere Textesind eher Zeugnisse über den „Literaturbetrieb“ (Bölls gekürzter Text Bekenntnis zur Trümmerliteratur und der so genannte Literaturbrief von Jochen Hieber, Jahrhundertromane: Von Musil bis Grass – das Fünfergestirn des deutschsprachigen Erzählens), der Schlusstext aus Grass‘ Mein Jahrhundert oszilliert schließlich zwischen Literatur und Memoiren. Auf den letzten beiden Seiten finden sich Verweise auf weitere Fachliteratur.

 

Es ist klar, dass ein solcher Leitfaden anecken kann, und das gleich aus mehreren Gründen. Die Vertreter der Welt der digitalen Information mögen einwenden, dass alles im Internet zu finden sei, und das auch noch viel detaillierter und damit – wohl – differenzierter. Sie machen sich jedoch nicht bewusst, dass J. Kovář zum Verfassen dieses Skripts die langjährige Erfahrung bewegt hat, dass tschechische Studierende mit Beginn ihres Germanistikstudiums eigentlich erstmals mit deutschsprachiger Literatur in Berührung kommen. Der Autor will mit seinem Skript ein allererstes Grundraster bilden, erste Ecksteine abstecken auf dem unübersichtlichen, bzw. für Studenten bislang unbekannten Feld (damit denke ich an die Lehre sowie an Kovářs Ansatz, und nicht, dass sein Skript etwa das erste seiner Art gewesen wäre – z. B. entstand am selben Lehrstuhl bereits früher das 150 Seiten zählende Skript Jiří Munzars Úvod do studia německé literatury a literárněvědné germanistiky [Einführung in das Studium der deutschen Literatur und der germanistischen Literaturwissenschaft] in Zusammenarbeit mit Roman Kopřiva und Zdeněk Mareček.)     

 

Ein anderer Einwand betrifft möglicherweise die Auswahl und Aufmerksamkeit, die den einzelnen Autoren und literarischen Strömungen zukommt. Es handelt sich hierbei keineswegs um mangelnde Kenntnis oder Ignoranz, sondern um die sprichwörtliche „Qual der Wahl“. Angesichts des zwangsläufig begrenzten Umfangs (sei es des Skripts oder der Vorlesungsstunden) wird immer jemand und etwas fehlen, und es kommt auf den Lehrenden und dessen persönliche Erfahrung und Interesse an, worauf er Wert legt und was er übergeht. So ist aus der starken Generation der in der ersten Hälfte der 1950-er Jahre geborenen österreichischen Autoren lediglich Christoph Ransmayr vertreten, aus meiner Sicht als Bibliothekar des Österreichischen Kulturforums hätten auch Robert Menasse, Josef Haslinger und Josef Winkler eine Erwähnung verdient. Diese Autoren sind sicherlich nicht unbekannt, und das auch im gesamten deutschsprachigen Bereich, doch... das ist bereits mein persönlicher Blick und meine Auswahl.

 

Überrascht hat mich die Einreihung Erwin G. Kolbenheyers und Karl Strobls in die „Blut-und-Boden-Autoren“. Aus meiner Lesererfahrung heraus kann ich dies nicht bestätigen. Strobl ist mir bekannt als Autor von Studentenromanen mit antitschechischer Färbung und noetisch-phantastischen Erzählungen, bei Kolbenheyer denke ich an seine Alb-Sonate, für die er 1929 den Tschechoslowakischen Staatspreis für deutschsprachige Literatur erhielt, sowie die von Pavel Eisner abwägend besprochene Trilogie Paracelsus. Dass beide Autoren später Anhänger Hitlers wurden und in nationalsozialistischen Literaturkreisen aktiv waren, ist zwar erwiesen, dass aber gerade ihre Werke das ästhetische Ideal der angeführten literarischen Strömung erfüllen würden, ist für mich nicht ersichtlich. Eher ordnete ich einige Werke eines anderen Trägers des Tschechoslowakischen Staatspreises, Hans Watzlik, hier ein, aber auch ihn würde ich angesichts der Vielfalt seines Werks nicht wagen, ganz in diese Schublade zu stecken. Hier geht es freilich um ein Detail, über das sich ein beim Verfassen solcher Panoramen allgemeineres Problem legt: der begrenzte Raum und die sich daraus ergebende verkürzte Kontur, die dann bei einem sich eben erst bildenden Raster eines Studierenden eine verschobene Orientierung zur Folge haben kann. Und da sind wir bei der Quadratur des Kreises: Was ist besser? Eine nur einem Teil entsprechende Information, oder gar keine Information? Die Antwort auf diese Frage betrachte ich als Prozess: Ich benötige doch zumindest grundlegende Informationen. An deren Justierung und Korrektur kann ich bei Bedarf oder Interesse dann weiter arbeiten (denn wie viele Absolventen der Germanistik werden sich in ihrem weiteren Leben mit Kolbenheyer oder Strobl beschäftigen?). Diesen Schluss möchte ich auf das gesamte Skript beziehen. Seinen Nutzen sehe ich darin, dass es in die Thematik einführt, erste Namen und Wertungen bringt und aufzeigt, wie man sich im Stoff orientieren kann. Den nächsten, genaueren und fundierteren Blick wird sich jeder Student und Absolvent durch seine weitere Praxis und Ausrichtung herausbilden.

 

Übersetzung: Daniela Pusch


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