Es schrieb: Hans Natonek

(20. 7. 2015)

In Anlehnung an die zwei bereits veröffentlichten Echos zu Hans Natonek soll in der Rubrik Napsali/Es schrieben an seinen Essay Gespenstisches Prag aus dem Jahre 1939 erinnert werden, wozu gleich drei Beweggründe führten: Der erste liegt hinsichtlich der Ausrichtung eines germanobohemistischen Forums auf der Hand, da sich Natonek darin ausführlich mit „Prager Literatur“ auseinandersetzt, wobei zu betonen ist, dass er diese nicht – wie meist üblich – in eine deutsch- und eine tschechischsprachige unterteilt, sondern hier ausnahmsweise von „einer Prager Literatur“ die Rede ist. Natonek spannt einen historischen Bogen vom Einmarsch Hitlers 1939 zurück bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts und der Monarchie unter Führung Kaiser Franz Josephs, wobei es ihm ausgezeichnet gelingt, die „undefinierbare Prager Atmosphäre“ der Stadt im Vergleich dieser Jahre nachzuzeichnen.

 

Der zweite Grund, genau diesen Text auszuwählen, ergab sich im Kontext der in den Echos rezensierten Werkausgabe Letzter Tag in Europa – Publizistik von 1933–1963 (Leipzig: Lehmstedt, 2013), die Steffi Böttger herausgegeben hat und in der dieser Text unter dem Titel Gespenster von Prag (S. 178–182) aufgenommen wurde. Im Inhaltsverzeichnis (S. 369) vermerkt sie dazu folgende Quelle: „Typoskript, Bundesarchiv Berlin, entstanden etwa Frühjahr 1939, die beiden ersten Abschnitte wurden unter dem Titel »Gespenstisches Prag« gedruckt in: Österreichische Post, Paris, 1. Mai 1939 (Hans Natonek) (Textvorlage für den Nachdruck dieser Abschnitte)“.

 

Wenn man jedoch dieser Angabe folgt, die vermittelt, dass die ersten zwei Teile des Textes identisch mit dem genannten Zeitungsartikel seien und nur der dritte Abschnitt aus dem erwähnten Typoskript stamme, wird es interessant: Denn nicht nur, dass sich der Essay vollständig in der Österreichischen Post wiederfindet (Jg. 1, Nr. 10, 1. 5. 1939, S. 2–3), sondern er weist auch – vor allem in den ersten beiden Abschnitten – vielfache Abweichungen zu dem von Böttger herausgegebenen Text auf, was die Vermutung nahelegt, dass es sich um eine komplett andere Fassung handeln muss. Die Zeitungsfassung soll hiermit in zeichengetreuer Wiedergabe zugänglich gemacht werden, wodurch ein Vergleich mit dem divergenten Text in der Werkausgabe ermöglicht wird (auch wenn das den Umstand mit sich führt, dass die Schreibweise aufgrund der Pariser Satzkonventionen teils von der damaligen Norm abweicht  und die Diakritika der tschechischen Namen fehlen).

 

Der dritte Grund ist ebenfalls ein literaturwissenschaftlicher, wenn auch eher poetischer Natur: Im Jahr 2015 jährt sich zum hundertsten Mal das Erscheinen der Erstausgabe von Gustav Meyrinks Roman Der Golem (was Anlass für eine Neuauflage bietet [vgl. z. B. die Rezension von Johannes Schmidt, dem sich Natonek in seinem Essay widmet. Er bezeichnet Meyrink als den „Schutzpatron der Prager Gespenster“ und seine Ausführungen spiegeln genau die gespenstische Sicht wider, die Meyrink von der Prager Gesellschaft hatte und z. B. in seiner „optimistische[n] Städteschilderung“ (Gustav Meyrink: Prag. In: März, Jg. 1, Zweites Februarheft 1907, S. 350–355) oder dem Essay Die Stadt mit dem heimlichen Herzschlag (In: Die Gartenlaube, Jg. 75, Nr.  44, 1. 11. 1928, S. 919–922) auf amüsante Weise zum Ausdruck brachte. Die stete Frage nach dem Aufenthaltsort des Golems muss dabei natürlich offen bleiben, sowohl im Schatten der Vergangenheit als auch im Licht der Zukunft, doch möge er Prag beschützen!

 

jh

 

 

Gespenstisches Prag

 

Es gab einmal eine Prager Literatur von europäischem Ruf. Sie war nicht tschechisch, sie war auch nicht deutsch, sie war unter anderem auch jüdisch; pragerisch war sie und alles drei zusammen. Und diese Dreiheit ergab den verschwundenen Prager Dichterkreis unverwechselbarer Färbung: Meyrink, Franz Werfel, Max Brod, Franz Kafka, Paul Leppin und die jüngeren Tschechen – die beiden Capek, Brezina, Vancura und andere, die normaler und gegenwärtiger in ihrer neuen Existenz wurzelten, froh über das Errungene, und die nicht mehr Schattenbeschwörer waren und durch jenes Zauberfenster der Vergangenheit starrten, durch das man Gespenster sieht...

 

Das österreichische Böhmen, das völkergemischte, so reich an Hass, Verschwörungen, gemütlicher Verzweiflung und schlampigen Gespenstern, diese undefinierbare Prager Atmosphäre, die man um 1910herum geatmet haben muss, um sie zu kennen, hat ihren Hauch in Prag und in der Prager Literatur für immer zurückgelassen.

 

Allerdings: der 15.März 1939 war der Todestag dieser Literatur; buchstäblich. Von Angst gejagt, stürzten sich Tausende: Antiquare, Buchhändler, Sammler und Leser in ein freiwilliges Autodafé dieser und aller »suspekten« Literatur. Kein Goebbels brauchte zu kommen, um Bücher zu verbrennen. Sie brannten von selbst. Tausende Oefen qualmten zur gleichen Morgenstunde; die Kessel der Zentralheizungen bekamen literarische Nahrung. Tausende Klosetts waren von zerrissener Literatur verstopft. Es stank zum Himmel, es war der 15.März ... Mit dem Einmarsch öffnete sich die Kloake, und die Panikbesessenen schütteten ihre Vergangenheit, ihr Selbst in die Abort-Schüssel. Nachher hatten die Installateure zu tun. So sieht der Schrecken aus, der diesen Eroberern vorangeht. Man dachte, dass die SS. nichts Besseres zu tun haben werde, als sich sofort auf die Bücher zu stürzen.

 

So ging bildlich und buchstäblich eine ganze Literatur zugrunde.

 

Zugleich aber war, so erzählt ein Prager Beobachter, der Blick der Prager in diesen Tagen verzaubert und unheimlich. Sie sahen durch die einmarschierenden Militärmassen hindurch, sie sahen sie nicht, als wären Tankregimenter körperlos ... Die Gegenwart wurde zum Schatten, das Ferne wurde nah. Es war eine echt Prager Verwandlung. Ein neuer Blick entstand mit einem Schlag;eine transzendente Sicht durch ein Prisma in die transparenten Bezirke gespenstischer Gewesenheit, die mit einem Male so nah, so lebendig, so lieb, so hold war.

 

Verschüttet und verborgen unter der deutschen Sturzmasse lebt das alte Prag.

 

*

 

Der Schutzpatron der Prager Gespenster ist Gustav Meyrink und sein »Golem«. Meyrink hatte ein Grauen vor Prag, das von Hass, von Hass-Liebe nicht weit entfernt war. Er kannte zu viel Menschen, die Gespenster waren, ein bisschen besessen oder verrückt oder nur närrisch, bösartig oder engelhaft, aber gewissermassen biertrinkende und würstelessende Gespenster. Der Dichter war nicht Prager, nur Wahl-Prager, aber in jahrzehntelanger Existenz von der slawisch-österreichischen Atmosphäre völlig absorbiert. Die Menschen, die Gassen, die Häuser begannen für ihn zu sprechen und ihre Gesichter zu enthüllen. Es waren furchterregende Fratzen, grüne Gesichter, Gesichter von Teufeln und von Engeln. Prag war ihm in einem andern Sinn, als Grillparzer es von Wien sagte, ein »Capua der Geister«. Die Geister waren Gespenster, die Gespenster waren Menschen; sie gaben sich in Wirts- und Caféhäusern Rendezvous, sie sassen in den Redaktionen der Zeitung, – eine von ihnen war ein uraltes Kloster mit labyrinthischen Gängen und wellenförmigen, knackenden Fussböden.

 

Hier war, geheimnisvoll und undurchdringlich, der Golem des hohen Rabbi Löw zu Hause, der auf dem tausendjährigen Judenfriedhof ruht, in jener Toten-Wildnis, in der die verwitterten, schriftbedeckten Steine in die Tiefe zu wachsen scheinen. Was wollte der weise Rabbi Löw mit der monströsen Lehmschöpfung des Golems, der ein geschriebenes Geheimwort auf der Zunge trägt? Niemand weiss es. Und wenn man es je wusste, so ist es vergessen, ich werde mich hüten, mich auf eine Exegese des Golems einzulassen. Man sagt, das[s] er rittlings auf dem steilen Giebel der Prager Alt-Neuschul-Synagoge sitzt. Niemand weiss warum. Wie einer der Grabsteine von nebenan, die in die Tiefe wachsen, steht diese greise Synagoge da, versinkend, versunken, fremd, zäh, hochmütig und unberührbar zwischen einem munter emporgeschossenen Häuserwuchs in Jugendstil. Wenn ich nachts an der Alt-Neuschul vorüberging, habe ich immer auf den spitzen Giebel geschaut, ob er nicht dort oben sitzt, der Golem, und auf den Stundenschlag der verstummten Uhr wartet; sie hat ein hebräisches Zifferblatt, die Uhr, und zeigt eine unverrückbare Zeit. Dieser Uhrturm des jüdischen Rathauses hat die Gestalt des hussitischen Kelchs, aus dem der Gläubige sich Christi Blut einverleibt. Unruhe, Ratlosigkeit, Verzweiflung jagte in den Jahrhunderten durch dieses jüdische Rathaus, und zurückblieb in ewigen Schriftzeichen die Weisheit und das Gesetz.

 

Aber vielleicht sitzt der Golem gar nicht auf dem Giebel, sondern im Caféhaus nebenan und unterhält sich flüsternd mit Schwejk, seinem tschechischen Bruder.

 

Was treibt und west der Golem unter dem Protektorat? Schützt er die Alt-Neuschul oder wird eines Tages, wie im Altreich, der rote Hahn auf ihrem Giebel krähen? Unbeweglicher Geist mit der versiegelten Zunge, sprich! Verschanz’ dich nicht hinter deinem hochmütigen Wissen, das so unendlich viel hat kommen und gehen sehen im Wandel der zeitlichen Herrschaft...

 

Aber eines glaube ich bestimmt: der tappende, schwere Geist wird die SS. oben auf dem Hradschin in ihrem Schlaf erschrecken. –

 

*

 

Kaiser Franz Joseph fährt über die neue Moldau-Brücke, die er soeben eingeweiht hat und die seinen Namen trägt.

 

Dann fuhr er davon für immer und mit ihm seine Zeit, und die Brücke hiess fortan Legionärsbrücke. Das »Fortan« dauerte zwanzig und ein Jahr. Und als die Legionäre nicht kämpften, verlor sie wieder ihren Namen, und nun heisst sie fortan Protektoratsbrücke oder Joseph-Goebbels-Brücke oder Göring-Brücke. Auch dieses »Fortan« wird seine Zeit haben, und von Dauer ist nur das Strömende unter den Brücken, nicht deren Name.

 

Ich seh ihn noch vor mir, den Alten, in der offenen Kutsche über die funkelnagelneue, bewimpelte Brücke fahren. Wie, bin ich tausend Jahre alt? Das Bild ist mit überscharfen, farbigen Konturen in eine magische Kugel gebannt, die sich über Prag wölbt. Der grüne Generals-Federhut des Kaisers, grün wie die Bäume des Laurenzibergs, der hellblaue Waffenrock, hellblau wie der Frühsommerhimmel über dem Hradschin, der weisse Backenbart, weiss wie die Federwölkchen am Firmament, das schillernd über Hügel und Türme schwang, wie ein zerbrechlicher Traum vom Glück.

 

Wir standen im Spalier, das nicht kommandiert und nicht von rasch herbeigeholten Anhängern gebildet wurde. Man rief »Nazdar!« und schwenkte die Hüte, und der Kaiser nickte und salutierte. Man rief »Hoch!«, und der Kaiser lächelte. In regelmässigen Abständen wehten die Federbüsche der Polizisten im Sommerwind. Nicht im gepanzerten Wagen fuhr der Kaiser. Es war kein rasender Enthusiasmus, aber eine wohlwollende, echte Freude, der Stolz, der durch alle Obstruktion hindurchbrach, zum grossen österreichischen Völkerstaat zu gehören, einer, der mitzureden hat und der es auch tat, wie ihm der Obstruktionsschnabel gewachsen war.

 

Der Kaiser, nicht gekrönter König von Böhmen, war ein seltener Gast in Prag. Er hatte für seine Tschechen weniger übrig als für die Ungarn, und die Tschechen vergalten ihren Schmerz, indem sie deutsche Couleurstudenten verprügelten, weil sie Grossdeutsches nachäfften (übrigens waren diese Couleurstudenten, wie es sich für eine gespenstische Stadt gehört, zum grossen Teil Juden). Der Kaiser, nicht immer gut beraten, blickte den Tschechen nicht in ihr österreichisches Herz. Und die Tschechen sahen mit Sorge und Entsetzen, Oesterreich immer mehr in den Berliner Kurs hineingleiten. Und darum waren sie die getreueste, hartnäckigste Opposition unter den »im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern«.

 

Der Kaiser hatte in Prag einen zärtlichen Spottnamen (der immer ein Zeichen von Liebe ist, wenn auch einer opponierenden). »Den Prohaska« nannten sie ihn. Niemand weiss, warum. Prohaska ist ein sehr häufiger tschechischer Familienname; durch ihn machten sie den nicht gekrönten König zu einem der ihren. Am Tag nach dem festlichen Empfang brachte die »Narodni Politika« ein Photobild des Kaisers, der auf dem Hradschin spazieren geht. Darunter stand nur das eine Wort: Prohaska. Das konnte man wagen, ohne ins Konzentrationslager zu kommen; überdies bedeutet das Wort »Spaziergang«.

 

Am Abend war grosse Illumination. In allen Häusern stellten sie Kerzeln in die Fenster. Sie mussten nicht, sie taten es gern. Die ganze Kleinseite war ein Weihnachtsgeflimmer in der Sommernacht. Und wenn Goebbels heute in Prag ein Monsterfeuerwerk mit allem Komfort der Technik losprasseln liesse, blieben die Strassen leer; nur die Unmündigen, die Dummen, die Unwürdigen, die Statisten würden gaffen. Denn Hitler ist kein Prohaska, kein Spaziergang, sondern der kommandierte Marsch und Stechschritt.

 

Als Kaiser Franz Joseph über die neue Prager Brücke fuhr, waren alle Häuser geflaggt, ohne Runderlass einer Gestapo. Und dabei war Franz Joseph nicht einmal im Hradschiner Dom gekrönt mit der Wenzelskrone. Als Hitler im Panzerwagen über die Brücke fuhr, waren die Strassen stumm und starr wie Niobe; Verzweiflung und Hass in den verzerrten Gesichtern. 

 

O Transparenz der Vergangenheit ... Wie lebendig; wie nah und farbig die verblichenen Schatten, die Ueber- und Unterirdischen, die Gewesenen und Verwesten, das teure Geschlecht der besseren Vorfahren, gesehen durch dieses Spektrum.

 

 


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