Es schreibt: Jiří Stromšík

(Echos, 6. 7. 2015)

Der deutschböhmische Germanist Kurt Krolop, der in den 1960er Jahren die systematische Erforschung der deutschsprachigen Literatur der böhmischen Länder mitbegründete, feierte am 25. Mai seinen 85. Geburtstag. Die zu seinen Ehren nach ihm benannte, wenige Tage nach dem Geburtstag feierlich eröffnete Kurt Krolop Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur des Instituts für germanische Studien an der Karls-Universität Prag setzt sich unter der Leitung von Manfred Weinberg zum Ziel, das Phänomen der Prager deutschen Literatur bzw. der deutschsprachigen Literatur aus Böhmen im Kontext der gesamten mitteleuropäischen Kulturgeschichte und mit Hinblick auf das damalige deutsch-tschechische Kommunikationsgeflecht der Region aufzuarbeiten. Die während der Eröffnung der Forschungsstelle in der deutschen Botschaft in Prag vorgetragenen wissenschaftlichen Beiträge sowie persönlichen Erinnerungen sollen im Stifter Jahrbuch 2016 publiziert werden. Aus ihnen haben wir für die Veröffentlichung an diesem Ort den Festvortrag ausgewählt, den Jiří Stromšík zu Ehren Kurt Krolops bei der Eröffnung der Forschungsstelle am 29. Mai 2015 vortrug. Um die Entwicklung der tschechischen Germanistik in den 1950er und 1960er Jahren sowie die Eigenart der literaturwissenschaftlichen Forschungen Kurt Krolops hervortreten zu lassen, wurde der den Rahmen unserer Echos weitaus übersteigende Text um die dem Lebensweg geltenden Abschnitte gekürzt (hierzu siehe z. B. die Angaben auf der Webseite der Forschungstelle) und leicht überarbeitet.

 

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Kurt Krolop zum Fünfundachtzigsten

 

 

Als Kurt Krolop 1957 zum ersten Mal nach Prag kam, befand sich die tschechische Germanistik in einem recht unerfreulichen Zustand. Der allgemeine Deutschenhaß der Nachkriegszeit hatte sich zwar, zumindest in der jüngeren Generation, weitgehend gelegt, doch die Wiederherstellung der Germanistik als Hochschulfach ging nur zögernd voran. Es lag nicht nur an den die gesamten Humanwissenschaften betreffenden ideologischen („stalinistischen“) Deformationen, die die Kontinuität mit der Vorkriegszeit fast völlig unterbrochen hatten, sondern auch an der personalen Besetzung des Lehrstuhls: Die zu früh verstorbenen prägenden Persönlichkeiten der Zwischenkriegszeit wie Otokar Fischer oder Vojtěch Jirát, deren Ausstrahlung (bes. die des ersteren) weit über die Grenzen des Faches und der Universität hinausging, fanden nach 1945 keine ebenbürtigen Nachfolger.

 

Erst der 1955 aus dem Gefängnis freigelassene und seit Frühjahr 1956 an der Universität wirkende Eduard Goldstücker versuchte, für das Fach die ihm traditionsgemäß zustehende Stellung in den hiesigen Geisteswissenschaften und dem Kulturleben wiederzugewinnen und eine neue, zeitgemäße Konzeption seiner Entwicklung zu erarbeiten. Er war davon überzeugt, daß die tschechische und slowakische Germanistik nicht nur bestrebt sein mußte, an die internationale Germanistik wieder Anschluß zu finden, sondern daß sie auch ihre eigenen, landesspezifischen Aufgaben erfüllen und so ihren eigenen Beitrag zur internationalen Forschung leisten sollte und konnte. Die Chancen darauf lagen eben in dem Kulturgut, das die hiesigen Deutschen in den vergangenen Jahrhunderten auf diesem Boden geschaffen hatten. Aus diesen Überlegungen entwickelte Eduard Goldstücker etwa seit 1957 sein Projekt einer systematischen Erforschung der Prager (bzw. böhmisch-mährisch-slowakischen) deutschen Literatur, und den geeignetsten und begabtesten Mitstreiter für diese Idee sah und fand er gerade in unserem Jubilar, dem neu hinzugekommenen DDR-Lektor Kurt Krolop, der von Anfang an zu den produktivsten Mitarbeitern auf diesem Gebiet gehörte. Zu der damaligen Auffassung der Prager deutschen Literatur (PDL) ist zu betonen, daß Goldstücker und Krolop sie nicht im herkömmlichen Sinne der Regionalliteratur verstanden wissen wollten, sondern sie stets im breiteren Zusammenhang der gesamtdeutschen Tradition sahen und ihre wichtigste Phase nach 1900 (wohlgemerkt: nicht nur Kafka, sondern sein ganzes geistiges und literarisches Umfeld) als eine selbständige Spielart der gesamteuropäischen Moderne betrachteten.

 

Während seiner Prager Jahre von 1957 bis 1962 machte sich Kurt Krolop nicht nur mit der Landessprache, sondern auch mit der Geschichte des verwickelten und konfliktreichen deutsch-tschechischen Zusammenlebens in Kultur, Politik und Literatur vertraut und diese Kenntnisse wußte er schon in seinen frühen wissenschaftlichen Arbeiten zu verwerten. In dieser ersten Prager Wirkungszeit sammelte Kurt Krolop das Material für seine 1967 in Halle verteidigte Dissertation über Ludwig Winder und legte die Fundamente für seine späteren Arbeiten zur Prager deutschen Literatur. Für die hiesigen Periodika Philologica Pragensia und die neu gegründeten Germanistica Pragensia entstanden auch seine ersten Publikationen, die ihm sogleich Anerkennung in der Fachwelt einbrachten; ich möchte wenigstens seinen großen Aufsatz Bertolt Brecht und Karl Kraus (1961) nennen, der einerseits schon alle Merkmale seiner späteren Arbeiten aufweist und andererseits sein zweites großes Lebensthema eröffnet: Karl Kraus und alles, was mit ihm zusammenhängt.

 

Auch nach der Rückkehr nach Halle (1962) setzte Kurt Krolop diese Forschungen fort und blieb im Kontakt mit Prag. Er nahm an der ersten großen Präsentation der Erforschung der PDL – der später berühmt, fast legendär gewordenen Liblicer Konferenz über Franz Kafka von 1963 – teil; diesmal noch als Zuhörer. Doch schon bei der nachfolgenden Konferenz von 1965, die die PDL in ganzer Breite zum Thema hatte, hielt er das unumstritten wichtigste Referat Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur des „expressionistischen Jahrzehnts“ – eine nicht nur erstaunlich materialreiche, sondern auch methodologisch richtungsweisende Studie, die bis heute als Gründungstext der gesamten späteren Forschung auf diesem Gebiet gilt. Auf Vorschlag von Eduard Goldstücker, der die Einrichtung einer Forschungsstelle für Prager deutsche Literatur an der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften erwirkt hatte, wurde Kurt Krolop zu ihrem Leiter ernannt, und Anfang 1968 kam er nach Prag. Dem vielversprechenden Anlauf dieser Forschungsstelle sowie der nicht weniger vielversprechenden akademischen Karriere ihres Leiters hat der August 1968 ein jähes Ende gesetzt: Kurt Krolop wurde 1970, kurz nach seinem 40. Geburtstag, in die DDR „abgeschoben“. Nach Prag kehrte er, definitiv, am 7. 12. 1989 wieder zurück – als der letzte von der DDR delegierte Gastprofessor.

 

Im Unterschied zu seinem manchmal recht wechselvollen Lebenslauf entwickelte sich die wissenschaftliche Laufbahn Kurt Krolops ohne Brüche und Sprünge. Im Mittelpunkt seines Interesses blieben zweifelsohne die zwei erwähnten Themen – Prager deutsche Literatur und Karl Kraus –, denen er dutzende Aufsätze gewidmet hat. Innerhalb des ersteren Themas ragen als ein selbständiges und innerlich kohärentes Korpus seine Studien über Franz Kafka heraus. Doch man würde der wissenschaftlichen Leistung des Jubilars nicht gerecht, wollte man seinen Wirkungskreis nur auf diese Bereiche reduzieren. Krolops profunde und detaillierte Kenntnis der gesamten deutschsprachigen Literatur spätestens seit dem 18. Jahrhundert sucht in seiner Generation ihresgleichen, und er hat sie mit zahlreichen Aufsätzen unter Beweis gestellt. Zu nennen wären hier wenigstens die über Goethes späte Lyrik (1980) und den West-östlichen Divan (1982). Seine auf Tschechisch erschienenen Essays über Novalis, Tieck, E. T. A. Hoffmann oder Bonaventuras Nachtwachen sowie über Goethes Faust (1997) und Dichtung und Wahrheit (1998) haben die gegenwärtige tschechische Rezeption der deutschen Klassik und Romantik wesentlich erweitert und vertieft.

 

Nicht zuletzt möchte ich die in seinen Texten fast immer präsente komparatistische Perspektive bzw. die inhärente komparatistische Komponente seiner literarhistorischen Arbeiten hervorheben. Er schrieb oft über wechselseitige (von der früheren tschechischen Forschung vor 1989 weitgehend übersehene) Beziehungen zwischen der tschechischen und deutschen Kultur hierzulande seit dem 19. Jahrhundert. Seine Aufsätze oder gelegentliche – allerdings meistens grundsätzliche – Bemerkungen über Karel Čapek, Jaroslav Hašek, Ferdinand Peroutka, Karel Poláček, F. X. Šalda und viele andere weisen ihn als einen profunden Kenner der tschechischen Kultur aus und können auch für Bohemisten anregend sein. Und darüber hinaus besteht hier eine Rückkoppelung zu seinem Hauptthema: Es ist anzunehmen, daß er über deutschsprachige Prager Autoren deshalb so kompetent schreiben kann, weil er genau und aus Originalquellen, nicht aus zweiter Hand, weiß, was deren tschechische Kollegen zur gleichen Zeit dachten, fühlten, taten – oder anders gesagt: weil er weiß, worum es damals in ganz Prag, nicht nur dem deutschen, ging. Wenn sich Krolops Nachfolger zu ihm bekennen, so werden sie in ihrer Arbeit bestimmt auch diese vergleichende Perspektive (und Kompetenz) nicht außer Acht lassen wollen.

 

Methodologisch bleibt Krolop stets der Konzeption der Germanistik als Literaturgeschichte und Philologie treu. Die Strenge, mit der er jedes Detail kritisch betrachtet, die Konsequenz, mit der er zu Generalisierungen nur aufgrund von überprüften Fakten gelangt und nicht von einer allgemein akzeptierten Idee ausgeht, die Brillanz, mit der er Texte interpretiert, und die Genauigkeit, mit der er theoretische Postulate historisch ortet, miteinander vergleicht und eventuell kritisch demontiert – all das werden wohl auch heutige, methodologisch anders orientierte Forscher als einen konstanten Wert der Literaturgeschichte zu schätzen wissen. In diesem Zusammenhang ist Krolops lebenslange Beschäftigung mit Karl Kraus hervorzuheben: Kraus war für ihn nicht ein Forschungsgegenstand unter vielen anderen, sondern es muß hier von Anfang an ein tieferes, persönlicheres Verhältnis bestanden haben, ja man kann wohl von einer Art Wahlverwandtschaft reden: Karl Kraus stellte und stellt für Kurt Krolop offensichtlich die überzeugendste Verkörperung kritischen Denkens dar – eines Denkens, das sich von keinen Klischees oder Stereotypen täuschen, aber auch von keinen Glaubenssätzen oder Ideologien verführen läßt, sondern stets bemüht ist, unter die Oberfläche des Textes vorzudringen, um dort eine neue, von anderen bisher unerkannte Wahrheit zu finden. Etwas unterscheidet allerdings Krolop von Kraus wesentlich: Der Kritizismus des Ersteren ist nicht von Angriffslust, um nicht zu sagen Aggressivität des Letzteren getragen (und schon gar nicht von dessen richtendem, ekstatischem Moralismus) – Krolops Kritizismus will den Gegenstand der Kritik nicht „demolieren“, sondern besser verstehen.

 

 

Meine Damen und Herren, unser Jubilar kann mit Stolz und Genugtuung auf ein erfülltes Leben und eine überaus erfolgreiche wissenschaftliche Laufbahn zurückblicken. Es ist eine glückliche Fügung, daß wir seinen fünfundachtzigsten Geburtstag feiern und gleichzeitig die Gründung einer Forschungsstelle begrüßen können, die sich vorgenommen hat, sein Werk nicht nur unter seinem Namen, sondern auch in seinem Sinne fortzusetzen.

 

Zu beidem, lieber Kurt, gratulieren wir Dir von ganzem Herzen.


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